Kaum vom Guten zu unterscheiden

27.09.2010
Vorsicht, das moderne Böse muss nicht hässlich sein! Es kann auch recht ansprechend daherkommen. Eine umfangreiche, chronologische Studie über den Transformationsprozess des Bösen hat der Literaturwissenschaftler und Präsident der Freien Universität Berlin Peter-André Alt verfasst.
Lucifer fiel nicht ins Nichts, als er aus dem Himmel stürzte. Als neues Wirkungsfeld eröffnete sich ihm das Diesseits, nachdem sich hinter ihm die Himmelspforten schlossen. Seitdem hat das Böse in der Person des Teufels auch eine erkennbare Gestalt.

Die Vertreibung Lucifers aus dem Himmel steht am Beginn von Peter-André Alts "Ästhetik des Bösen", die sich in sieben Kapitel gliedert. Im letzten stellt er die Frage nach der "Kunst des Bösen nach Auschwitz". Lucifer hat es gewagt, sich in einem Anflug von Hochmut auf eine Ebene mit dem Herren stellen zu wollen. Diese Respektlosigkeit, sich nicht unterzuordnen, sondern einen eigenen Thron neben dem des Schöpfers zu beanspruchen, zieht Konsequenzen nach sich. Der Rebell wird verstoßen.

Das Mittelalter ging davon aus, dass Lucifers Sturz aus dem Himmel so heftig war, dass sein Aufprall auf der Erde einen bis ins Erdinnere reichenden Krater hinterließ, den der gefallene Engel nutzte, um dort seinen Thron zu errichten.

Die Vorstellungen vom Bösen wandeln sich mit der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Teufel büßt an Körperlichkeit ein, ist aber nicht aus der Welt. Dieses Ziel hat die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts verfehlt, die mit dem Mythos auch den Teufel in seine Schranken verweisen wollte. Listig, wie man ihn kennt, hat er nur das Revier gewechselt. Denn während das Böse bis zum Beginn der Romantik in enger Symbiose mit dem Teufel und seinen Stellvertretern auftrat, wird es nun im Inneren des Menschen selbst entdeckt.

Diesen Transformationsprozess vermag Alt überzeugend an verschiedenen literarischen Beispielen (u. a. Jean Paul, Kleist, E.T.A. Hoffmann) zu verdeutlichen. Einsichtig wird dabei auch, dass Goethes Mephisto, in dem Madame de Staël einen "kultivierten Teufel" sieht, als eine Gestalt des Übergangs anzusehen ist. Er versteht es, sich hinter guten Manieren zu verstecken, sodass es schwerfällt, in ihm die Inkarnation des Bösen zu erkennen.

Seit der Romantik ist das Böse auch nicht mehr an ein hässliches Aussehen gebunden, vielmehr tarnt es sich hinter der Maske der Makellosigkeit und tritt in verschiedenen, gänzlich "normalen" Gestalten, z.B. als moderner Verführer oder als Lebemann, in Erscheinung. Das macht das Teuflische am "modernen Bösen" aus: Es kommt als das Gute daher, von dem es kaum zu unterscheiden ist. An eben diesem Punkt wird das Böse für die Trieblehre der Psychoanalyse interessant, die im "Teufel die Stimme des Unbewussten" sieht. Das Böse findet mit der Traumbühne einen Raum, um in Erscheinung treten zu können. Dort kann es, unkontrolliert von der Vernunft, zügellos walten.

Alts chronologisch aufgebaute Studie ist insbesondere in den Teilen, die sich mit dem 18. und 19. Jahrhundert befassen, lesenswert, überzeugend und erhellend, weil es der Autor versteht, einen grundlegenden Wandel in der Auffassung des Bösen zu veranschaulichen. Für seine literarischen Beispiele, die er als Belege für das 20. Jahrhundert anführt, trifft das nicht in gleichem Maße zu. Fraglich, ob der Begriff des Wahnsinns, den Alt etwa in den Texten von Georg Heym und Alfred Döblin ausmacht, als eine Variante des Bösen anzusehen ist. Dass das Böse im 20. Jahrhundert als "böser Begriff" gebraucht wird, der geeignet ist zu stigmatisieren und auszugrenzen, kommt in diesem Buch zwar vor, wird aber eher angedeutet. Die Leistung schmälert es nicht, vielmehr wird damit eine Richtung aufgezeigt, in die man weiter nachdenken sollte.

Besprochen von Michael Opitz

Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen
Verlag C. H. Beck, München 2010
714 Seiten, 34 Euro