Kauend Stress abbauen

Von Udo Pollmer · 06.03.2011
Die größte Süßwarenmesse der Welt schloss kürzlich in Köln ihre Pforten. Natürlich spielte dort auch Zuckerzeug eine Rolle, das "gesunde" Zusätze enthielt. Traditionell haben dieses Thema die Kaugummihersteller besetzt. Denn die meisten Kaugummi sind zuckerfrei.
Regelmäßig macht der Kaugummi mit hoffnungsfrohen Meldungen von sich reden. So sollen sich Schüler besser konzentrieren können, wenn sie einen Kaugummi im Mund haben. Das Kauen erhöht die Konzentration, schärft das Gedächtnis und baut Stress ab. Man bekommt den Eindruck, endlich stünde ein neuer Nürnberger Trichter bereit; unbefriedigende Pisaergebnisse wären einer unzureichenden Kaugummiversorgung in den Schulen geschuldet. Doch inzwischen ist wieder Ernüchterung eingekehrt. Die vielversprechenden Ergebnisse ließen sich nur manchmal reproduzieren.

Es stimmt schon: Stress hat erhebliche Auswirkungen auf Konzentration und Aufmerksamkeit. Und bekanntlich eignet sich der Kaugummi zum Abreagieren. Die unterschiedlichen Ergebnisse haben vermutlich einen ganz einfachen Grund: Sie hängen davon ab, ob die Versuchspersonen den Kaugummi auch mögen. Aber der Blick der Forschung ist fixiert auf Kalorien und Zucker. Wer keinen Spaß am Kauen hat oder wem die Geschmacksrichtung nicht passt, der ärgert sich nur. Dass gerade beim Essen das Ergebnis davon abhängt, ob einer die Kost mag oder nicht, ist für die meisten Ernährungsforscher wie eine Botschaft von einem anderen Stern.

Insofern darf man dem Kaugummi ruhig weiterhin Stress mindernde Eigenschaften zuschreiben, zumindest für den, der ihn mag. Wer im Auto angeschnallt fährt, der kann sich mit kräftigem Kauen beruhigen, wenn er sich über die Fahrweise der anderen aufregt. Im Verkehr erhöht das die Aufmerksamkeit. Aber im Unterricht dominiert der Spaßfaktor und der nutzt sich schnell ab.

Überhaupt keinen Spaß verstehen die Kommunen beim Thema Kaugummi. Nach ihren Angaben müssen sie Jahr für Jahr 900 Millionen Euro hinblättern, nur um von Spezialfirmen die Klebemasse wieder vom Trottoir entfernen zu lassen. Das wäre deutlich mehr als der Umsatz, der mit Kaugummis erzielt wird, der liegt bei nur 660 Millionen Euro. Aufgrund der chemischen Zusammensetzung – es handelt sich um Kunststoffgemische aus Vinylacetat-Vinyllaurat, Isobutylen-Isopropen oder Styrol-Butadien – härten die an der Luft aus wie Kraftkleber.

Deshalb wird immer wieder mal an eine Kaugummisteuer gedacht, um sich am Verursacher schadlos zu halten. In Singapur wurde der Kaugummi deshalb 1992 weitgehend verboten. Lediglich in der Apotheke erhält man gegen Vorlage des Reisepasses medizinische Kaugummi. So hofft man, bei einem Kaugummifund an öffentlichen Orten den Delinquenten schneller ausfindig machen zu können.

Seit Jahren suchen die Hersteller nach Kaugummis, die sich leicht entfernen lassen oder die biologisch abbaubar sind. Sie arbeiten dabei mit allen Tricks der Kunststoffchemie, beispielsweise lässt sich die Kaumasse mit Stoffen versetzen, die dafür sorgen, dass sich der Gummi in Gegenwart von Tageslicht von selbst auflöst. Doch auch das hat seine Tücken: Womöglich werden die Spezialzusätze beim intensiven Kauen vom Speichel herausgelöst oder ein Kaugummi, der auf dem Fensterbrett liegengeblieben ist, beginnt sich in eine eklige Masse zu zersetzen.

Dabei wäre es gar nicht so schwer, wenn man statt auf Kunststoff auf den früher verwendeten Chicle zurückgreifen würde. Er wurde aus dem Milchsaft des Breiapfel-Baumes gewonnen, auch Sapotillbaum genannt. Heute wird er vor allem wegen seiner Früchte genutzt. Seit einem Jahr ist ein mexikanischer Kaugummi aus Chicle am Markt, der keine Rückstände hinterlässt. Bei uns arbeiten die Forscher mit einheimischen Rohstoffen, die als Kaumasse taugen, insbesondere mit dem Eiweiß aus Mais oder Weizen. Das Zeug fällt in großen Mengen als Abfall bei der Biodieselproduktion an. Egal wie, aber am Biodiesel werden wir noch alle schwer zu kauen haben. Mahlzeit!

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