Karl Ove Knausgard: "Träumen"

Mammutbiografie eines Normalos

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard, aufgenommen am 28.4.2014 in Barcelona
Mit seiner hyperrealistischen und ausführlichen Autobiografie hält Karl Ove Knausgard seine Leserschaft in Atem. © picture-alliance / dpa/ Alejandro Garcia
Von Ursula März · 19.09.2015
Keine Peinlichkeit wird ausgelassen: Karl Ove Knausgard offenbart sich schonungslos selbst. Nun erscheint der fünfte von sechs Bänden seines autobiografischen Riesenwerks. In "Träumen" erzählt der Schriftsteller die Zeit seines Erwachsenwerdens in der norwegischen Stadt Bergen.
Einen vergleichbaren Hype hat die internationale Literaturwelt wohl nur einmal erlebt: Als sie von einem englischen Jungen mit Nickelbrille und übersinnlichen Kräften verzaubert wurde, von Harry Potter. Über derlei Kräfte verfügt der norwegische Kettenraucher mit den zerfurchten Gesichtszügen Karl Ove Knausgard nicht. Und doch hält seine sechsbändige, hyperrealistische und minimalistisch ausführliche Autobiografie die Leserschaft diesseits und jenseits des Atlantiks in Atem, als enthielte sie eine nie gesehene, fantastische Welt. Gestandene Kritiker - tatsächlich sehr oft männliche - berichten mit feuchten Augen von ihrer Knausgardmanie, von dem Rausch, in den sie bei der Lektüre des knapp 4000 umfassenden literarischen Riesenprojekts versinken.
Radikal schonungslose Selbstoffenbarung
Was ist da los? Woher rührt die Faszination? Unbestreitbar kommt der Leser in den Genuss einer Selbstoffenbarung, die an radikaler Schonungslosigkeit nicht zu überbieten ist. Knausgard ist nichts zu peinlich, um via Buch an die Öffentlichkeit zu gelangen; keiner seiner zahlreichen Alkoholabstürze, nicht sein jahrelanges sexuelles Dilemma, sein Hass auf den tyrannischen Vater, der als verwahrloster Alkoholiker starb, auch nicht seine quälenden künstlerischen Selbstzweifel. Ebenso unbestreitbar haben Knausgards Leser aber auch lange Textstrecken zu durchwandern, in denen Alltagsbanalitäten – das Öffnen von Bierflaschen, die Herstellung von Mahlzeiten für die Kinder, das Ankleiden am Morgen und Auskleiden am Abend etc. - geschildert werden und dies im literarischen Echtzeitverfahren.
Nur: Die Stimme, die solcherart Normalitäten mitteilt, verrät einen allzeit erregungsbereiten, geradezu altmodischen Gefühlsmenschen, dem kein Anlass, keine Tätigkeit, kein Erlebnis zu gering ist, um auf die Achterbahnfahrt zwischen jubelnder Euphorie und düsterster Niedergeschlagenheit zu geraten. Der Mann, der sich in diesem autobiografischen Mammutwerk porträtiert, darf als Normalo bezeichnet werden: 1968 in Oslo geboren, in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, verheiratet in zweiter Ehe, Vater von vier Kindern. Seine Ängste und Neurosen kennt, in welchem Grad auch immer, eigentlich jeder.
Aber dieser identifikationsfähige Jedermann Karl Ove Knausgard besitzt die literarische Fähigkeit, das Normale in den Aggregatzustand emotionaler und existentieller Hochspannung zu versetzen. Dies dürfte ein wesentlicher Grund seiner Anziehungskraft sein.
Jahre des Erwachsenwerdens
Nun erscheint in Deutschland der fünfte seiner sechs autobiografischen Bände. Er trägt wie alle vorangegangenen ein Verb als Titel: "Träumen". Er umfasst die vierzehn Jahre, die Knausgard von 1988 bis 2002 in der norwegischen Stadt Bergen verbrachte, Jahre des Erwachsenwerdens. Knausgard besucht die neu gegründete Schreibakademie von Bergen, kommt endlich in einer Liebesbeziehung und in seiner ersten Ehe an, geht wie gewohnt durch sämtliche Höhen und Tiefen der Seelenlandschaft: Ein Inbild des fühlenden modernen Mannes, in dem sich eine weltweite, auch und gerade männliche Leserschaft wiedererkennen kann.

Karl Ove Knausgard: "Träumen"
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand Verlag, München 2015
793 Seiten, 24,99 Euro

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