Karine Tuil: "Die Zeit der Ruhelosen"

Kometenhafte Aufstiege und erbarmungslose Abstiege

Cover "Zeit der Ruhelosen" von Karine Tuil
Cover "Zeit der Ruhelosen" von Karine Tuil © picture alliance / Bernd Thissen/dpa / Ullstein Verlag
Von Dina Netz · 22.03.2017
In "Die Zeit der Ruhelosen" geht es um Egoismus, Rassismus und Kapitalismus. Auf 500 Seiten erzählt Karine Tuil von den Erfolgen und Misserfolgen ihrer drei Protagonisten - eine gnadenlose Diagnose der französischen Gesellschaft, vorgetragen mit einer gewissen Schnoddrigkeit: absolut lesenswert.
Karine Tuil beschreibt in ihrem neuen Roman "Die Zeit der Ruhelosen" die Opfer des französischen Gesellschaftssystems. Tuils Romane gleichen Laborexperimenten: Sie setzt ihre Figuren in einen Glaskasten, entzieht ihnen Sauerstoff, pumpt zwischendurch kurz wieder welchen hinein, bis es doch zum Vakuum kommt. Und dann schaut sie sich an, was von ihren Protagonisten übrig bleibt - meist ist das nicht viel. Diese Vorgehensweise hat nun weniger mit Karine Tuils persönlichen Sado-Neigungen zu tun als mit ihrem Thema: Sie beschreibt das gesellschaftliche System Frankreichs. Und um Frankreich steht es wahrlich nicht gut, die Wirtschaft lahmt, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, das politische System verkrustet.
Tuil selbst hat kürzlich in einem Zeitungsartikel den französischen Politikbetrieb mit einem Reptiliengehege verglichen. In diesem Gehege sitzt auch Osman Diboula, er ist schnell, intelligent und wendig, aber er ist schwarz und hat nicht studiert. Gegen den offenen Rassismus der weißen christlichen Oberschicht ist er machtlos. Osmans Stern als Präsidenten-Berater steigt und sinkt, so wie es dem Politikbetrieb gerade opportun erscheint.

Es geht um Abstürze und Aufstiege

Der Stern von François Vély hingegen erlebt einen Absturz. Vély ist erfolgreicher Mobilfunk-Unternehmer, zehntreichster Mann Frankreichs. Doch zuerst ereilt ihn eine private Katastrophe: Nach seiner Heirat mit der Journalistin Marion Decker stürzt sich seine Ex-Frau aus dem Fenster. Und dann unterläuft ihm ein irreparabler Fauxpas: Er lässt sich auf der Skulptur einer gefesselten schwarzen Frau sitzend fotografieren. Danach ist Vély von der politisch korrekten Meute zum Abschuss freigegeben und in etwa so endet er auch.
Der dritte Protagonist, Romain Roller, kommt wie Osman aus der Banlieue. Er ist Afghanistan-Heimkehrer, der seine Soldaten nicht hat schützen können, deshalb von Schuldgefühlen gequält wird und mit 26 Jahren "fertig mit der Welt" ist. Mit Vély verbindet ihn naturgemäß nichts, bis Romain sich in dessen Frau Marion verliebt.

Drei absolut glaubwürdige Protagonisten

Karine Tuil ist keine große Stilistin, ihr wird zu Recht oft eine gewisse Schnodderigkeit im Stil vorgeworfen. Trotzdem möchte man auf keine der mehr als 500 Seiten verzichten. Denn alle drei Figuren sind absolut glaubwürdig in ihrem Ächzen unter dem sozialen Druck, in ihrer Ambivalenz, ihrer Menschlichkeit. Tuil hat für ihre Milieustudien akribisch recherchiert. Am interessantesten (und erschütterndsten) ist der politische Aufsteiger Osman, dem trotz aller Kompetenzen seine Herkunft, die in Frankreich so viel zählt, immer wieder zu Fall bringt. Und das sogar in der Liebe.
Egoismus, Rassismus, Kapitalismus – das waren die Themen von Karine Tuils vorigem Roman "Die Gierigen", ein von der Machart her eher amerikanischer Gesellschaftsroman über Schein und Sein. "Die Zeit der Ruhelosen" ist ein durch und durch französisches Buch, in dem es um dieselben Themen geht, aber mit den Spezifika der französischen Gesellschaft. Gnadenlose Diagnosen unserer Zeit sind beide Bücher. Karine Tuil hat den neuen Roman "den Verwundeten" gewidmet. Und damit sind nicht nur die Opfer des Afghanistan-Krieges gemeint.

Am Montag, den 27. März 2017 sprechen wir in unserer Sendung "Lesart" mit Karine Tuil über ihr spannendes Buch. Das Gespräch können Sie schon jetzt online hören:

Karine Tuil: Die Zeit der Ruhelosen
Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
Ullstein Verlag, Berlin 2017
508 Seiten, 24 Euro

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