Kampf gegen alte Werte

15.10.2007
Die Dramatik von Ibsens, Strindbergs und Wedekinds Werken galt der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé als Vorlage: Ausweglos erscheint die Situation in ihrem Roman "Aus fremder Seele", den die russische Schriftstellerin 1896 veröffentlichte. In ihm thematisiert Andreas-Salomé eine fundamentale Krise des Glaubens und das Spannungsfeld zwischen alten und neuen Werten.
Die 1861 in Sankt Petersburg geborene Louise von Salomé zählt zu den charismatischsten Schriftstellerinnen des Fin de siècle. 1882 begegnet die erst 21-Jährige in Rom keinem Geringeren als Friedrich Nietzsche, dem die intensiven Gespräche mit Lou "das Nützlichste" sind, was er in dieser Zeit erlebt. Mit Rainer Maria Rilke bereist Lou Andreas-Salomé 1899 und 1900 die russische Heimat. In den Jahren 1912/13 nimmt sie an den legendären Mittwochsgesprächen des internen Psychoanalytikerkreises um Sigmund Freud teil, der in seinem "Nachruf" 1937 bekannte: "Die letzten 25 Lebensjahre dieser außerordentlichen Frau gehörten der Psychoanalyse an, zu der sie wertvolle wissenschaftliche Arbeiten beitrug und die sie auch praktisch ausübte."

Als Schriftstellerin debütiert Lou Andreas-Salomé unter dem Pseudonym Henri Lou 1885 mit dem Roman "Im Kampf um Gott". Im Titel reagiert sie damit auf die Programmatik der Zeit, denn in allen Bereichen wird den alten Werten der Kampf angesagt. Als höchstes Kunstideal gilt nicht mehr die Antike, das neue Modewort lautet Moderne. Mit der Spätherbstgeschichte "Aus fremder Seele", die 1896 erscheint, knüpft Lou Andreas-Salomé an das Thema ihres Debütromans an. Auch in diesem Text geht es um eine fundamentale Krise des Glaubens.

Pastor Theodor Arnsfeldt, Sohn einer Jüdin, versieht seit vielen Jahren sein Amt in einer kleinen Dorfgemeinde. Als "Himmelsprediger" verehrt, stellt er für die Gemeinde eine moralisch-ethische Instanz dar. Geachtet wird er zudem, da er vor Jahren den Sohn einer verstorbenen Freundin adoptiert und im tiefen Glauben an Gott erzogen hat. Inzwischen ist dieser Junge erwachsen und hat auf Anraten des Pastors ein Jahr in einer Genfer Erziehungsanstalt verbracht. Nun kehrt er in die vermeintliche Idylle seiner Kindheit zurück. Doch die Zeit der Abwesenheit hat seinen Blick geschärft und viele Fragen aufgeworfen. Lou Andreas-Salomé wirft anhand der Vater-Sohn-Beziehung ein breites Spektrum relevanter Fragen auf. Wie in Henrik Ibsens Drama "Stützen der Gesellschaft" wird mit jeder Episode erzählt, wie es wirklich gewesen ist. Doch die Figuren werden nicht an den Pranger gestellt. Aus verschiedenen Perspektiven wird ihr Verhalten erklärt, aber nicht bewertet. Es zeigt sich, dass nicht erwidertes Liebesverlangen und Liebesverrat in allen Geschichten den thematischen Kern bilden. Als der Pastor aus Liebe zu seinem Sohn vor der Gemeinde die Arbeit seines Lebens widerruft, da sie auf einer Lüge aufbaut, gerät die Welt aus den Fugen. Lou Andreas-Salomé sucht nicht nach Wegen, die aus der Katastrophe hinausführen könnten. Mit psychologischem Gespür umreißt sie ihre Figuren und lotet das Ausmaß der Tragödien konsequent aus.

Rezensiert von Carola Wiemers

Lou Andreas-Salomé: Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte
dtv 2007, 144 Seiten, 8,50 Euro