Kaiser ohne Reich

03.03.2011
Dalos schildert Gorbatschow als ehrgeizigen, reformfreudigen Mann, der zunächst unbeirrt seinen Weg der Perestroika verfolgt. Doch die massive Kursänderung nach Jahren erstarrter Abläufe verunsichert Volk und Führungskaste.
Gorbatschow sieht sich Quertreibereien und vermehrt offenem Widerstand ausgesetzt. Anfangs hat er die Lage im Griff, sein Wort gilt, doch die gewährte ungewohnte Freiheit führt in einen Umbruch, wie ihn Gorbatschow nicht geplant oder gewünscht hatte: Während das Selbstbewusstsein der russischen Trabanten wächst, breitet sich damit einhergehend ein unerwarteter Nationalismus aus, dem die Zentrale in Moskau zunehmend machtlos gegenübersteht. Erst sagen sich die bisherigen Bruderstaaten von der Sowjetunion los, dann fallen die Sowjetrepubliken wie Dominosteine nacheinander vom zunehmend hohlen Gebilde Sowjetunion ab. Zum Schluss ist Gorbatschow ein Kaiser ohne Reich.

György Dalos steht Gorbatschow mit distanziertem Wohlwollen gegenüber. Er schildert den Kremlchef als intelligent und wortgewandt, in entscheidenden Situationen allerdings als zögerlich und entscheidungsschwach. Auch attestiert er ihm eine mitunter schlechte Menschenkenntnis, die es engsten Vertrauten möglich macht, einen Putsch gegen ihn anzuzetteln, der hauptsächlich aufgrund seiner stümperhaften Vorbereitung schiefgeht.

Andererseits hatte es Gorbatschow mit übermächtigen Gegnern zu tun: mit einem kaum aufzuhaltenden Kollaps der Wirtschaft, mit einem charakterschwachen, aber umso machtgierigeren Konkurrenten Boris Jelzin. Gorbatschows hohes Ansehen im Ausland, ja selbst die Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn, haben keinen Einfluss auf die Meinung seiner Landsleute. Sie, die anfangs große Hoffnungen auf ihn gesetzt hatten, sehen sich angesichts der zunehmend chaotischen Lage im Land durch ihn betrogen.

György Dalos präsentiert den letzten Kremlchef nicht als bedauernswertes Opfer, sondern als Politiker mit Instinkt, dem allerdings der Lauf der Dinge entgleitet, nachdem sich die von ihm initiierte Glasnost verselbstständigt hat. Mitunter passieren Gorbatschow gravierende Fehler, deren Vermeidung dem Gang der Geschichte vielleicht eine andere Richtung hätte geben können: So hatte er zu lange nicht viel von den politischen Fähigkeiten seines späteren Widersachers Boris Jelzin gehalten. Auch hatte er die aufkommende nationale Frage völlig unterschätzt und hätte bei den ersten schweren Zwischenfällen in Georgien, Aserbaidschan und im Baltikum entschieden Stellung beziehen müssen.

Die historische Begegnung mit dem Papst lässt Dalos unerwähnt, gibt aber insgesamt einen guten Einblick in die Abläufe der Sowjethierarchie, die mitunter erstaunlich hilflos wirken. Während der Westen in den ausgehenden 80ern des vorigen Jahrhunderts eingedenk der Jahre 1956 und 1968 zitterte, wie weit die Reformen in der Sowjetunion gehen könnten, ohne dramatisch abgewürgt zu werden, zeigt das Buch auf, wie sehr dieses Regime am Ende und letztlich zu keinerlei nachhaltigen Interventionen mehr fähig war.


Über den Autor:
György Dalos: Der 68-jährige, in Budapest geborene Autor, lebt und arbeitet in Berlin. Er wurde bereits mit zahlreichen Preisen geehrt, zuletzt vor einem Jahr mit dem "Preis der Leipziger Buchmesse für Europäische Verständigung". Sein jüngstes Buch heißt "Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa" und ist 2009 erschienen.

Besprochen von Stefan May

György Dalos: "Gorbatschow – Mensch und Macht. Eine Biografie",
deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla
Verlag C.H.Beck, München 2011, 288 Seiten, 19,95 Euro


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Gorbi hier - Verräter dort -
"Podium" zum 80. Geburtstag von Michail Gorbatschow