Kaddisch in der Liturgie

"Ein Ritual für die Trauernden"

Die Rabbiner Yitshak Ehrenberg (links) und Berel Polatsek (rechts) lesen 2002 im Kaddisch, dem traditionellen jüdischen Totengebet, auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof im polnischen Slubice.
Die Rabbiner Yitshak Ehrenberg (links) und Berel Polatsek (rechts) lesen 2002 im Kaddisch, dem traditionellen jüdischen Totengebet, auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof im polnischen Slubice. © dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Mimi Sheffer im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 24.01.2016
Zehn Menschen sollen zuhören und antworten, wenn das jüdische Totengebet gesprochen wird. Auch die Erinnerung an die Schoah spielt im Kaddisch eine Rolle, erklärt die Sängerin Mimi Sheffer, die als Kantorin die Liturgie im jüdischen Gottesdienst genau kennt.
Anne Françoise Weber: Das Kaddisch, wir haben es im Feature gehört , ist eigentlich ein Lobpreis Gottes, der die Seele der Verstorbenen begleiten soll. Es ist ein alter Text, der mit der Erinnerung an die Millionen vernichteter Juden in der Schoah eine neue Bedeutung bekommen hat. Erinnerung ist wichtig im Judentum, das habe ich am Anfang gesagt, und dazu gehört nicht nur die Weitergabe der Erzählungen, sondern auch der Liturgie und der Musik. In den Gebeten und Liedern wird der Glaube der Vorfahren weitergetragen.
Wie sich diese Tradition durch die größte Bedrohung der Erinnerung, durch die Schoah, verändert hat, darüber habe ich vor der Sendung mit Mimi Sheffer gesprochen. Sie ist Sängerin und Kantorin, in Israel aufgewachsen, hat lange Zeit in den USA gelebt und war unter anderem Leiterin der Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam. Zunächst habe ich Mimi Sheffer gefragt, ob denn im regulären jüdischen Gottesdienst am Schabbat in der Liturgie der Opfer der Schoah gedacht wird – oder ob das vom Ort oder von der Ausrichtung der Synagoge abhängt?
Mimi Sheffer: Das kenne ich in manchen Synagogen in Berlin, dass die Opfer der Schoah direkt erwähnt werden, dass am Ende des Gottesdienstes zum Beispiel in der Pestalozzistraße ... aber es ist, wie Sie sagen, von Ort und Ausrichtung abhängig.
Weber: Kaddisch der Trauernden, also dieser Kaddisch Jatom, ist ein fester Bestandteil jedes Schabbat-Gottesdienstes. Sie haben mir im Vorgespräch erklärt, das wird nicht von der Kantorin vorgetragen, sondern von wem gebetet?
"Als ein Ritual für die Trauernden gedacht"
Sheffer: Das ist wirklich als ein Ritual für die Trauernden gedacht, und ich muss sagen, Kaddisch verlangt auch, dass mehrere Leute da sind, in der Orthodoxie zehn Männer, ansonsten zehn Menschen, die zuhören können und respondieren können. Und im Falle von Kaddisch Jatom, also von dem Trauernden-Kaddisch, gibt es den Trauernden ein Jahr nach dem Tod die Gelegenheit, ein Ritual drei Mal am Tag zu feiern mit der Gemeinde, in der Mitte zu stehen und von der Gemeinde respondiert zu werden, also quasi auch getröstet zu werden.
Weber: Wenn wir jetzt noch mal auf die Erinnerung an die Schoah zurückkommen, dazu gibt es in Israel ja auch einen offiziellen Gedenktag, Jom HaSchoah – 2016 ist der am 5. Mai –, da wird nun ein besonderes Gebet gesprochen, das aber auch nicht nach dem Holocaust formuliert wurde, sondern viel älter ist: El Male Rachamim. Was ist das für ein Text, und gab es auch Versuche, einen besonderen Text nach dem Holocaust zu schaffen für diesen Tag?
Sheffer: Sie haben viele Fragen auf einmal gestellt. El Male Rachamim ist ein Gebet für die Verstorbenen, das kommt meistens in Gedenkfeiern vor und hat auch sozusagen einen Leerraum, wo man Namen der Verstorbenen und auch die Beziehung zu den Verstorbenen erwähnen kann, und das gehört zu mehreren Ritualen. Das ist El Male Rachamim. Weil es diese Flexibilität hat, hat es sich gerade für die Schoah sehr gut angepasst, und hier in Berlin wurde von Kantor Estrongo Nachama eine Tradition entwickelt, nicht den Namen der Opfer zu erwähnen, sondern viele KZs und Vernichtungslager und Ghettos, in denen sie gestorben sind.
Weber: Vielleicht können Sie uns doch noch mal grundsätzlich sagen: Liturgie im jüdischen Gottesdienst, ich habe den Eindruck, das ist was ganz Zentrales. Also einen christlichen Gottesdienst kann man im Grunde ohne Kirchenmusiker feiern, aber nicht ohne Pastor, einen jüdischen Gottesdienst kann man ohne Rabbi feiern, aber nicht ohne Vorbeter, und das ist ja eigentlich der Kantor.
Sheffer: Ja, ich fang an mit dem, was ich aus meiner Kindheit kenne, und zwar was man auf Englisch nennt "the modal cloud", also die modalische Wolke. Es wird musiziert die ganze Zeit auf verschiedenen Modi, die zu verschiedenen Anlässen passen, und die hat man im Ohr, und alles, was man betet, betet man auch selber zu diesen Modi. Und dann kommt der Vorbeter und wird darauf improvisieren oder aus einer Rezitation ein Solostück entwickeln, und später kamen auch Kompositionen dazu. Also im Grunde genommen wird die ganze Zeit musiziert, egal was man macht. Die Ausnahmen sind: Stilles Gebet, da betet jeder für sich und nachher wird es wiederholt, und das Kaddisch und das Trauernden-Kaddisch, nicht das andere Kaddischim, sondern das hier, wo alles dann wirklich aufhört und das Kaddisch nicht gesungen wird, sondern ausgesprochen wird von den Trauernden, und die Gemeinde respondiert. Und das ist auch eine ziemlich dramatische Minute, wo dann der Fokus auf den Trauernden ist. Wenn es keine Trauernden gibt, dann wird es auch vom Kantor ausgesprochen, oder im Falle zum Beispiel von Erwähnungen der Opfer der Schoah gibt es natürlich für wenige auch Überlebende, die Kaddisch über sie sprechen.
Weber: Und gab es nun nach dem Holocaust eine Diskussion darüber, ob man diese wichtige zentrale Liturgie im wöchentlichen Gottesdienst eigentlich verändern sollte nach diesem großen Einschnitt oder war das nie ein Thema?
"Das ganze Problem mit der Beziehung zu Gott"
Sheffer: Ich kann jetzt nicht sagen, dass es eine große Diskussion gab. Es gab verschiedene Versuche, und ich sage jetzt nicht, die Liturgie zu ändern. Was früher passiert ist nach solchen Ereignissen – und seien es auch kleine Ereignisse, die nur in einer Gemeinde passiert sind –, ist, dass ein Zusatz gekommen ist, zum Beispiel ein Lament im Stil von einem mittelalterlichen Gedicht, und vielleicht ist dieses Lament nachher passend gefunden worden auch von anderen Gemeinden und hat sich dann verbreitet. Es gibt wenige solcher Lamente, die geschrieben worden sind, und selbst die sind fast nicht bekannt. Die hat man jetzt auch nicht wöchentlich oder täglich genommen, sondern zu anderen Trauertagen, die schon bestanden haben. Man fragt sich wirklich, warum so wenig gemacht worden ist.
Zum Beispiel gab es auch einen Versuch, eine sechste Rolle zu schreiben. Es gibt ja fünf Rollen, und die werden fast alle zu bestimmten Feiertagen vorgelesen, und es gab einen Versuch, eine weitere Rolle zu schreiben von Liturgisten für die Schoah und auch für den Unabhängigkeitstag des Staates Israel. Das hat auch nicht geklappt. Es hat mehrere Gründe: Das eine ist wirklich, dass früher, wenn ein Ereignis passiert ist, war das lokal, und dann konnte man gleich darauf reagieren. Hier ist das Ereignis so groß und so überwältigend, dass die Reaktion nicht schnell genug und auch nicht groß genug kommen kann, das kann nur lokal sein. Und wenn man guckt, ob das aus dem liturgischen, halachischen, religiösen Aspekt ist, warum so wenig oder fast nichts geschrieben worden ist, ist es wirklich, dass man sich zu klein fühlt, um so ein Ereignis zu ... ich würde nicht mal sagen, beschreiben.
Dann gibt es auch das ganze Problem mit der Beziehung zu Gott. Das hat sich geändert, es ist nicht wie früher in den Gedichten, wo man von Strafen überzeugt war. Wie schreibt man das heute? Schreibt man das als einen Schrei an Gott, ein Ringen mit Gott, einen Verlust des Glaubens? Was schreibt man heute? Es ist einfach überwältigend, sage ich.
Weber: Sie haben ein Stück eingespielt, das in besonderer Weise auch mit der Schoah zusammenhängt, "Ani Ma'amin", wir werden es gleich im Anschluss an dieses Gespräch hören. Was ist die Geschichte dieses Stückes, warum haben Sie es aufgenommen?
Sheffer: Das gehört zu den wenigen liturgischen Stücken, die doch mit der Schoah verbunden sind, und zwar kommt es eigentlich aus einer Liste, 13 Glaubensprinzipien von Maimonides, es ist das zwölfte, und es steht dabei: Ich glaube an das Kommen des Maschiach, des Messias: Und auch wenn er zögert, warte ich jeden Tag, dass er kommt. Und das ist für mich fast so der Ausdruck eines Kindes, jeden Tag zu warten und warten und warten, bis das, was man sich erwünscht, passiert. Und je schlimmer die Umstände für manche, desto bedeutsamer ist das Gebet dann. Und es ist erzählt, dass dieses Gebet wirklich auf den Lippen der Opfer in ihren letzten Minuten noch gesungen wurde zu einem bestimmten Nigun, einer bestimmten Melodie, eine chassidische Melodie, die sehr bekannt ist. Und das ist auf jeden Fall in der Liturgie sehr deutlich geworden – und nicht nur in der Liturgie, das wurde mehrmals komponiert, auch als Poplieder ist das sehr bekannt. Die CD ist keine Schoah-CD, es geht um das Beleben der Musik, um die Lebendigkeit der Musik. Es geht um die Musik David Eisenstadts, der selber ermordet worden ist im Warschauer Ghetto, allerdings hat ein bisschen seiner Musik überlebt sozusagen. Also ich nenne das "überlebende Musik", und ich hab das mit einem Warschauer Chor aufgenommen. Und dann war es aber auch wichtig, dieses Stück dazu zu nehmen, und der Chor hat dazu improvisiert, und das hat so ein sehr dramatisches Ergebnis gebracht.
Weber: Es ist ja ein Anliegen von Ihnen, jüdische Musik zu bewahren, und zwar eben nicht nur die Liturgie, die im Gottesdienst weitergegeben wird, sondern ganz verschiedene Formen jüdischer Musik. Deswegen startet am 31. Januar die dritte Runde Ihrer Musikreihe, "Jüdische Musik für Liebhaber und Neugierige". Da bringen Sie so unterschiedliche Dinge zusammen wie Tango, Kompositionen von Kurt Weill und Synagogalmusik – warum?
Sheffer: Es gibt noch mehr unterschiedliche Sachen, es gibt Harfenmusik ...
Weber: Ich hab nur drei Beispiele rausgegriffen.
"Weil diese Facetten alle existieren und lebendig sind"
Sheffer: ... zum Beispiel von israelischen Komponisten, es gibt auch Ladino-Musik, weil diese Facetten alle existieren und lebendig sind, und wenn man die zusammen als Collage bringt, ist das sehr, sehr aufregend und bunt. Und wenn wir auch schauen, dass die Reihe am 31. Januar anfängt, also direkt nach dem 27. Januar, symbolisiert es auch das Lebendige in der Musik, das, was immer passiert. Die Reihe passiert über das Jahr und nicht verbunden mit November, Pogromtag, sondern es symbolisiert wirklich das Leben und das Lebendige in der Musik. Dazu kommt auch, dass es viele hochkarätige Musiker gibt, die sich damit befassen, mit dieser Musik. Die Musik muss erforscht werden und neu belebt werden, und die dann mit einem Publikum zusammen zu bringen, das die Musik und dadurch die jüdische Kultur und Religion besser kennenlernen kann, ist eine sehr aufregende Aufgabe.
Weber: Vielen Dank Mimi Sheffer, Kantorin und Sängerin, die Sie auch erleben können, Sie haben es gehört, am 31. Januar um 16 Uhr im Großen Saal der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße. Das Konzert heißt "Collage – Facetten jüdischer Musik".
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