Jurczenko: Großbanken dürfen nicht weiter subventioniert werden

Wieslaw Jurczenko im Gespräch mit Frank Meier · 17.04.2012
Im Zuge der US-Immobilienkrise musste die Investment-Bank "Lehman Brothers" im Jahr 2008 Insolvenz anmelden - die bis dahin größte Pleite der Bankengeschichte. Doch statt die Banken stärker zu kontrollieren, fließen weiter Subventionen. Ein schwerer Fehler, sagt Wieslaw Jurczenko.
Frank Meier: 20 Cent soll es zurückgeben, 20 Cent für jeden Dollar, den die Anleger bei der Pleite der Bank "Lehman Brothers" verloren haben. Heute bekommen die ersten amerikanischen Kleinanleger ihre Entschädigung überwiesen. Insgesamt sollen aus der Konkursmasse von "Lehman Brothers" 65 Milliarden Dollar zurückgezahlt werden. Die Pleite von "Lehman Brothers" und ihre Folgen – das ist jetzt unser Thema. Wieslaw Jurczenko ist für uns im Studio, Fachanwalt für Wertpapierrecht. Seien Sie herzlich willkommen!

Wieslaw Jurczenko: Guten Tag, Herr Meier!

Meier: Herr Jurczenko, wenn es jetzt 20 Cent zurückgibt für jeden verlorenen Dollar – ist das angesichts der Riesenpleite eigentlich noch ein ganz gutes Ergebnis für die Anleger?

Jurczenko: Das ist ein sehr gutes Ergebnis. Man hat eigentlich niedrigere Quoten erwartet. Für manche wird es sogar möglicherweise noch besser als 20 Prozent: Wenn sie zum Beispiel – reden wir jetzt von Kleinanlegern – von ihren Banken bereits entschädigt wurden, von ihren Hausbanken, und ihre Ansprüche gegen "Lehman" nicht abtreten mussten – da könnte noch was draufkommen.

Meier: So ein Laie wie ich, der staunt ja, wenn ich jetzt höre: Nach dieser gigantischen Pleite sind immer noch 65 Milliarden Dollar da, die jetzt zurückgezahlt werden. Staunen Sie da auch?

Jurczenko: Nein, nicht unbedingt. "Lehman" war nun mal keine kleine Firma, "Lehman" hatte oder hat Sachwerte auch, wie Immobilien, Kunst und Ähnliches, "Lehman" hat natürlich auch Schuldner, ist nicht nur reiner Gläubiger, diese Forderungen, die "Lehman" hatte, die werden nach und nach beglichen. Und aus diesen Forderungen respektive aus Verkäufen von Sachwerten werden Forderungen beglichen, und ich sage mal, Forderungen von "Lehman" haben mitunter auch lange Fälligkeitszeiträume, das heißt, da kommt immer wieder mal was rein, und aus denen wird zurückgezahlt.

Meier: Aber an dieser Restsumme, 65 Milliarden, sieht man, wie groß diese Bank einmal gewesen sein muss, und das hat eben zu dieser bisher dramatischsten Pleite der Finanzgeschichte geführt. Als das passiert ist 2008 und danach, da hieß es ja immer wieder, das darf nie wieder passieren, das Finanzsystem müsste besser reguliert werden. Was ist denn aus diesem Vorsatz geworden, besonders in den USA, wo die Bank angesiedelt war?

Jurczenko: Ja, es ist leider nicht so viel daraus geworden, wie man erwarten würde. In den USA bekannt geworden ist der sogenannte Dodd-Frank-Act, ein Großprojekt für Regulierung, das ist ein Regelpaket mit – man kann es nur noch nach Seiten beschreiben – 2.300 Seiten, die möglicherweise auch kaum jemand wirklich genau kennt. Allerdings ist das nicht ein Gesetz, wie wir das jetzt erwarten würden, wo jetzt schon alles drinsteht, sondern der Dodd-Frank-Act enthält 243 Mandate unter anderem zur Ausarbeitung von Regeln, die in den kommenden Jahren erstellt und umgesetzt werden müssen. Da sind auch Übergangsfristen und Bestandsschutzregeln von bis zu zwölf Jahren vorgesehen. Also was am Ende bleibt, ist derzeit eigentlich noch nicht mal abzuschätzen.

Meier: Soweit ich gehört habe, leisten vor allem die Republikaner wütenden Widerstand gegen diese Regulierungsbestrebungen. Also: Wird dieser Act tatsächlich umgesetzt werden?

Jurczenko: Er wird sicher umgesetzt werden, die Frage ist aber zu stellen, in welcher Form er umgesetzt wird, und gerade die knackigsten Punkte, die der Dodd-Frank-Act enthielt, werden insbesondere von der Lobby angegriffen, also auch … oder von der Finanzlobby, also egal, ob das jetzt Republikaner oder Demokraten sind. Die Republikaner selbst sind eben auch dabei, gegen dieses Gesetz Sturm zu laufen, aber wie gesagt: Es gibt diese Mandate zur Ausarbeitung von Regeln. Die werden noch ein paar Jahre brauchen, das heißt, die Lobby hat noch lange Zeit, sich mit den Einzelheiten zu beschäftigen.

Meier: Und was wären diese knackigsten Punkte, wie Sie sie gerade genannt haben?

Jurczenko: Ja, man denke zum Beispiel an das sogenannte Verbot des Eigenhandels: Die Volcker-Regel, wie sie auch genannt wird, wird auch derzeit ziemlich zerpflückt. Und da das ein, sagen wir mal, ein prinzipienbasiertes System ist, kann man da sehr weit interpretieren und mal sehen, was dann daraus am Ende wird – im Moment ganz, ganz schwierig einzuschätzen.

Meier: Nach der Lehman-Pleite hieß es ja auch in der deutschen Debatte, dass die Banken nie mehr so groß werden dürften, dass sie systemrelevant sind, also dass sie nicht pleite gehen können, ohne dass der ganze Finanzmarkt dadurch ins Rutschen kommt. Jetzt sind aber die großen Investmentbanken noch größer geworden nach 2008. Warum das? Warum ist das passiert?

Jurczenko: Das ist passiert, weil eben große Häuser in Schwierigkeiten geraten sind dadurch, dass "Lehman" nun mal in die Pleite entlassen wurde und man Angst hatte, dass das alles zusammenbricht, und deswegen gab es speziell in den USA Zwangsfusionen. Zum Beispiel hat die "Bank of America" "Merrill Lynch" übernommen, dann "Chevy Morgan Chase" übernahm "Washington Mutual", Bear Stearns, dann "Wells Fargo" ist mit "Wachovia" fusioniert, und das Ganze hat natürlich dazu geführt, dass dann noch größere Riesen entstanden sind. Des Weiteren führt die dauernde Staatshilfe für die großen Häuser oder auch die indirekten Staatshilfen der Zentralbanken dazu, dass der Markt immer weiter verzerrt wird. Wir sehen in den USA von 1992 bis 2010 etwa ein gigantisches Bankensterben – dieser Konzentrationsprozess findet nicht nur an der Spitze der 30 größten statt, aber dort insbesondere. Wir haben da eine Schrumpfung von 14.000 auf 8.000 Banken bis 2010, das dürften mittlerweile weniger sein, und dadurch entstehen eigentlich immer mehr große Institute, was man eigentlich vermeiden sollte.

Meier: Und haben Sie irgendeine Stimme aus der Politik gehört, die vor gerade dieser Entwicklung, die damals immer als die große Gefahr beschworen wurde, die vor dieser Entwicklung jetzt gewarnt hat?

Jurczenko: Eigentlich in Deutschland keine wesentliche Stimme. Es gibt sehr kritische Stimmen von der deutschen Aufsicht, von der deutschen Bankenaufsicht, die durchaus recht hat mit der Kritik, die sie äußert. Allerdings: Besonders in letzter Zeit zielt man mehr auf die Schattenbanken, also auf die Hedgefonds, auf bestimmte Gebilde, Special Purpose Vehicles, wie die sich nennen, also Zweckgesellschaften und sonstige Einrichtungen, die eigentlich keiner Regulierung zugänglich sind. Das Problem ist einfach: Solange diese Schattenbanken oder Schattenbanken-Einrichtungen so stark verflochten sind über die Investmentbanken mit den Universalbanken, mit denen sie ja nun mal heute unter einem Dach agieren, ist das ziemlich vergebliche Liebesmüh. Wenn ich dort nicht eine Trennlinie einziehe, wird es dieses Problem immer schärfer geben, weil eben die Häuser auch immer größer werden.

Es gibt Initiativen. In UK gab es eine Bankenkommission unter dem Vorsitz eines ehemaligen Mitglieds der "Bank of England", Sir John Vickers, dort wollte man auch eine stärkere Trennung von Investmentbanken und Geschäftsbanken. Das ist jetzt so vom Tisch. In der Schweiz gibt es oder gab es eine Too-Big-to-Fail-Vorlage, da hat man mittlerweile eigentlich sich auch nur noch auf höhere Eigenkapitalanforderungen geeinigt, die wohl am Ende wahrscheinlich der Steuerzahler wird wieder aufbringen müssen, wenn wir wieder eine Krise bekommen.

Meier: Deutschlandradio Kultur, heute zahlt die Pleitebank "Lehman Brothers" die ersten Entschädigungen aus, und wir reden über diese spektakuläre Pleite und ihre Folgen mit Wieslaw Jurczenko, Fachanwalt für Wertpapierrecht.

Bei diesen Entwicklungen zu immer größeren Banken – spielen da eigentlich auch nationale Egoismen eine Rolle, dass jedes Land gern eine große Bank hätte, um sich damit international zu zeigen und Einfluss zu haben?

Jurczenko: Das vielleicht zum einen, aber ich glaube, viel stärker ist der Motivationstreiber die Tatsache, wie weit die jeweilige Volkswirtschaft vom Finanzsektor abhängig ist. Wenn Sie sich gerade Großbritannien, die USA und die Schweiz angucken – das sind drei sehr, sehr abhängige Länder im Blick des Finanzsektors, und die versuchen natürlich auch, die Bedeutung dieses Finanzsektors nicht runterzufahren. Hier gibt es eine sehr ausgeprägte – wie auch in Deutschland übrigens –, eine sehr ausgeprägte Definitionsmacht der Finanzindustrie, die auch der Politik letzten Endes die Regeln vorgibt und vorformuliert und dafür sorgt, dass sie selber in ihrer eigenen Bedeutung nicht runtergefahren wird.

Das ist eines der Kernprobleme, dass die Politik hier eigentlich keine Orientierung findet, weil sie von unglaublich vielen Einflüsterern umgeben ist aus der Finanzindustrie. Denken Sie auch an die USA, denken Sie an Obama: Er will die nächste Wahl gewinnen, das heißt, er braucht unglaublich viel Geld. Dieses Geld wird er unter anderem auch von der Wall Street erhalten.

Meier: Und heißt das, was Sie jetzt beschreiben, diesen Prozess zu immer größeren Banken in den USA und anderswo – wenn solch eine systemrelevante Bank heute pleite ginge, dann hätten wir eine noch größere Katastrophe als vor drei Jahren mit "Lehman Brothers"?

Jurczenko: Wahrscheinlich schon, vor allem wird sich dann die Frage stellen, wer dann die Rettung organisiert und wie die bezahlt werden soll. Es ist wahrscheinlich auch schon dann auch politisch nicht mehr durchsetzbar, noch weitere Rettungsaktionen durchzuführen. Insoweit halte ich das für einen sehr, sehr falschen Weg, Institute immer größer werden zu lassen mithilfe von, wenn Sie so wollen, Subventionen. Wenn die EZB zum Beispiel, wie jetzt mit der "Dicken Bertha", eine Billion Euro für drei Jahre zu einem Prozent rausgibt, ist natürlich, die Differenz zum Marktzins, den diese Banken zu zahlen hätten für das Geld, was sie da bekommen, ist dies Subvention. Und mit solchen Subventionen kann man nicht weiter arbeiten. Diese Banken verzerren auch den Markt vollständig.

Meier: Also Subventionsabbau wäre ein Weg, um das Wachstum der Großbanken aufzuhalten. Aber was müsste generell passieren, um uns vor diesen zu großen Banken zu schützen und den Risiken, die aus diesen Großbanken erwachsen?

Jurczenko: Meines Erachtens braucht es eine grundlegende Strukturreform des Finanzsektors. Wir dürfen solche großen Institute nicht mehr haben. Es gibt zwei Amerikaner, die mal gesagt haben: "If a bank is too big to fail, it is too big", also dann ist sie zu groß, wenn sie zu groß ist, um gerettet zu werden. Und das sind also durchaus prominente Vertreter dieser Sicht, die sagen: Eine Zerschlagung ist zumindest mal ein Aspekt des Ganzen, auch eine Verkleinerung des Ganzen, und auch ein Trennbanken-System.

Meier: Zerschlagung, Verkleinerung – da geraten Sie aber gleich unter Sozialismusverdacht, wenn Sie so was vorschlagen.

Jurczenko: Ja, das hört sich so an, aber die Urheber dieser Maßnahmen sind – die eigentlich ihren Ursprung haben in der Herstellung marktwirtschaftlicher Verhältnisse –, sind die Amerikaner. Wir müssen mal dran denken, ein Instrument der Marktwirtschaft ist eben die Zerschlagung gewesen: In den USA, als die "Standard Oil" zerschlagen haben in 34 Unternehmen in den 1911- bis 1914er-Jahren oder so etwas – das war ein amerikanisches Instrument, das man eingesetzt hat. Es hat jetzt mit sozialistischer Thematik nichts zu tun. Es ist eher eine Form von Sozialismus, wenn Sie so wollen, wenn Sie heute den Banken Milliarden und Billionen hinterherwerfen, und das aus Steuerzahler-Mitteln.

Meier: Aber so ein Vorgang, wie Sie ihn jetzt für dieses Riesen-Ölunternehmen beschrieben haben, das ist für die Gegenwart, in der gegenwärtigen amerikanischen Politik, nicht absehbar, oder, dass da jemand vorschlägt, die Großbanken auseinanderzunehmen?

Jurczenko: Noch nicht, aber es wird darauf ankommen: Wenn wir noch eine Krise haben, die das Ganze möglicherweise noch verschärft, werden sich die Stimmen mehren. Es wird ja auch immer darauf ankommen, ob solche Vorhaben politisch durchsetzbar sind. Das werden sie immer weniger. Ich meine, was wir geschafft haben mit der Subvention oder Dauersubvention über die EZB und die Rettungsschirme, ist, Zeit zu gewinnen, und es ist sehr, sehr wichtig, diese Zeit zu nutzen, um am Ende zu einer Strukturreform zu kommen, die allen dienlich ist und nicht nur einigen wenigen Banken. Es geht auch wirklich nur um einige wenige, es geht vielleicht um 30, 40 Häuser weltweit.

Meier: Die Großbanken müssten zerschlagen werden – das sagt Wieslaw Jurczenko, Fachanwalt für Wertpapierrecht. Heute haben die Entschädigungszahlungen der insolventen Bank "Lehman Brothers" begonnen. Herr Jurczenko, vielen Dank für das Gespräch!

Jurczenko: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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