Junge Eliten in Georgien

Sie wollen keinen Messias

22:32 Minuten
Eine junge Frau in gelber Jacke reckt bei einer Demonstration den Arm in die Höhe.
Straßenproteste gegen das Ergebnis der Parlamentswahl von 31.10.2020. In die Politik gehen, um dort wirklich etwas zu verändern, wollen aber nur wenige junge Georgier. © imago / ITAR-TASS / David Mdzinarishvili
Von Thomas Franke · 17.02.2021
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Seit der Unabhängigkeit Georgiens 1991 wurden viele junge Menschen im westlichen Ausland ausgebildet, um in ihrer Heimat demokratische Verhältnisse aufzubauen. Doch die Wahlen gewinnen andere: Heilsversprecher, die sich nicht als Demokraten verstehen.
Das Zentrum von Georgiens Hauptstadt Tiflis im Herbst 2020. Vor dem Parlament protestieren die Menschen gegen die Ergebnisse der Parlamentswahl: Erneut hat die Regierungspartei "Georgischer Traum" gesiegt. Unter einigen tausend Demonstrierenden ist Anna Tschaia, 27 Jahre alt, Juristin.
"Unser Wahlrecht, unsere Grundfreiheiten sind von einem einzelnen Menschen gekapert worden", sagt sie. "Er ist Chef einer politischen Partei, hat aber sonst keine offizielle Funktion. Wir versuchen, unsere Rechte zurückzubekommen, für eine bessere Zukunft."
Die Rede ist von Bidzina Iwanischwili, dem Vorsitzenden der Regierungspartei "Georgischer Traum". Er ist Multimilliardär, der reichste Mann Georgiens. Vor neun Jahren ging er in die Politik, gründete seine eigene Partei – und gewann prompt die damalige Parlamentswahl. Viele glaubten, er werde mit dem Füllhorn durchs Land ziehen und Reichtum über Georgien bringen. Seitdem wurde seine Partei immer wiedergewählt, wenn auch mit sinkender Zustimmung. Und obwohl die 27-jährige Juristin Tschaia dessen Wahl kritisiert, scheint es keinen Ersatz als Alternative zu den Heilsversprechern zu geben.

Partei des Milliardärs Iwanischwili regiert seit 2012

Eine Parteiveranstaltung des "Georgischen Traums" in der Industriestadt Rustawi. In einer neuen Fabrikhalle sind Stühle aufgestellt. Politiker präsentieren einen Plan für regionale Wirtschaftsförderung. Der Vorsitzende ist nicht dabei. Bidsina Iwanischwili hält sich neuerdings im Hintergrund. Und das aus gutem Grund.
"Die jüngere Generation wartet auf keinen Messias mehr," sagt Nikoloz Samkharadse, 41 Jahre alt und in der Partei für internationale Beziehungen zuständig. Doch auf solchen Erwartungen beruht der bisherige Erfolg der Partei und damit auch Samkharadses politische Karriere.
"Wir haben eine Art Generationenkonflikt. Die Älteren, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, sind daran gewöhnt, dass der Staat alles für sie tut. Aber die jüngere Generation, die Leute, die bereits im unabhängigen Georgien aufgewachsen sind, denken anders. Sie haben eine andere Mentalität."
Doch diese scheint die meisten von ihnen nicht in die Politik zu führen.

Weinanbau statt politisches Engagement

Lascha Khvedelidze steht in seinem Weinkeller in Sagarejo, einem Städtchen rund 50 Kilometer von Tiflis entfernt. Mit aller Kraft stemmt sich der 38-Jährige auf einen langen Stock und drückt ihn in die Tiefe. Eine große Amphore aus Ton ist in den Boden eingelassen, ein Qvevri, darin gären Weintrauben. Knapp 2000 Liter fasst das Gefäß.
"Das, was oben ist, muss unbedingt in diese Flüssigkeit reingedrückt werden, damit es oben nicht braun bleibt", erklärt er. "Wenn das braun bleibt, ändert sich auch der Geschmack von dem Wein."
Khvedelidze hat neun Jahre in Deutschland gelebt, hat in Freiburg Politik und Jura studiert, in Berlin gearbeitet.
"Wir sind wirklich stolz, dass dieser erste Wein, mit dem wir überhaupt unser Geschäft angefangen haben, nach Deutschland kommt."

Eingefahrene Denkweisen verändern

Mit Ende 20 ist er nach Georgien zurückgekommen, hat investiert, Seminare besucht, um seinen Wein in die EU ausführen zu dürfen. Er legt den Stock zur Seite und tritt hinaus in den Hof.
"Die ganze Zeit ist es so gewesen, dass wir unter der Sowjetunion sind und alles, was wir machen, wird in die Sowjetunion verkauft. Das ist aber nicht mehr so. Also wir müssen uns Mühe geben, damit wir was Gutes machen. Was Besseres machen, was konkurrenzfähig ist."
Das Leben der Bauern hat sich nach dem Ende der sowjetischen Kollektivwirtschaft komplett verändert. Nun müssen sie, wenn sie staatliche Unterstützung bekommen wollen, Wirtschaftspläne ausarbeiten, Anträge schreiben, konkurrenzfähig sein.

"Ich habe auch ziemlich oft mit den Bauern zu tun, und die meckern, die sagen, wir brauchen noch mehr, aber das ist ein Prozess. Ich meine, das Wichtigste ist, wenn sie die Denkweise nicht ändern, dann kriegen sie auch nichts."
Eine Marktfrau mit Covid-Maske verkauft Gemüse und Fisch auf dem zentralen Markt in Tiflis, Georgien. Dezember 2020.
Auch 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion fällt vielen Bauern die Umstellung auf eine konkurrenzorientierte Produktion schwer. © AFP / Vano Shlamov

Schewardnadse schickte junge Menschen ins Ausland

Es geht dabei nicht nur um Profit und Wirtschaftlichkeit, es geht um die ganze Gesellschaft. Der langjährige Staatschef Georgiens, Eduard Schewardnadse, hat deshalb bereits in den 90er-Jahren aktiv junge Menschen gefördert, damit sie in der EU und den USA leben und lernen.
Ein mehrstöckiges Wohnhaus im wohlhabenden Tifliser Stadtteil Wake. Hier wohnt Petre Mamradze. Er war der Kanzleichef Schewardnadses. Während Mamradze die flachen Stufen aus Stein hochgeht, erzählt er als erstes von seiner Tochter. Sie ist in Deutschland, studiert Wirtschaft, arbeitet nebenbei in einer deutschen Firma.
Mamradzes Frau öffnet die Tür. Die Wohnung ist vollgestellt mit antiken Möbeln und einem Flügel. Auf dem Esstisch stapeln sich Bücher.
Eduard Schewardnadse war der letzte Außenminister der Sowjetunion. Als er Anfang der 90er-Jahre nach Tiflis zurückkam, in das mittlerweile unabhängige Georgien, wollte er das Land verändern, die Sowjetunion hinter sich lassen, erzählt Mamradze.
"Schewardnadse hat immer gesagt: ‚Wir brauchen eine neue Generation, die nicht mehr mit der kommunistischen Ideologie belastet ist.‘"
Deshalb habe Schewardnadse alle Angebote, junge Leute zur Ausbildung in den Westen zu schicken, sofort angenommen.
"Einmal hat sich Schewardnadse bei einer großen Sitzung an seine Generation gewandt und gesagt: ‚Wer sind wir? Wir sind Ansager auf einer Bühne, und wir müssen uns so lange halten, bis junge Leute kommen und übernehmen. Sie werden besser als wir wissen, was Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft sind.‘"

Auslandsstudium brachte nicht den erwünschten Effekt

Die EU-Staaten haben mitgespielt, haben Förderprogramme für Georgier aufgelegt, damit diese nach den Auslandsaufenthalten heimkehren und in ihrer Heimat demokratische Verhältnisse aufbauen. Und doch hat das bisher nicht den gewünschten Effekt gehabt.
Zurück ins Zentrum von Tiflis. Es ist Abend. Vorm Parlament hat sich die Protestdemonstration gegen die Wahlen aufgelöst. Am Brunnen vor dem Portal wartet eine junge Frau. Nina Janaschia wohnt in der Nähe.
"Wenn es Proteste hier gibt und so, dann ist das immer sehr unruhig hier in der Gegend. Wir haben immer ganz viel Polizei hier", sagt Janaschia.

Junge Leute, die im westlichen Ausland studieren, muss man begleiten, wenn sie in ihre postsowjetischen Heimatländer zurückgehen, sagt Stefanie Schiffer von der gemeinnützigen GmbH "Europäischer Austausch", die seit knapp 30 Jahren mit jungen Leuten in Osteuropa zusammenarbeitet. Das ganze Interview am Ende dieser Weltzeit.

Sie ist auf dem Weg zu ihrem Onkel, er hat einen Weinladen im Zentrum. 2016 war sie als Praktikantin im Deutschen Bundestag – es ist eines der beliebtesten Stipendienprogramme in Georgien.
"Wir haben keine politische Kultur, wir haben keine Kultur, z.B. Debatte zu machen", so die junge Frau, die bei einem Sozialdemokraten hospitiert und gelernt hat, wie ein Parlament arbeitet.
"Man sieht, dass diese ganz gut ausgebildeten Menschen in die Politik gehen, und dann werden sie ganz komisch, und niemand kann verstehen, warum sie diese Entscheidung treffen, die die jetzt treffen."

Ehemaliger Präsident Saakaschwilli studierte in den USA

Besonders deutlich wird das bei Michail Saakaschwili, dem Anführer der größten Oppositionspartei, der "Nationalen Bewegung". Der ehemalige Staatspräsident Saakaschwili wurde auch im Westen ausgebildet, in den USA. In den ersten Jahren seiner Macht räumte er mit der Kleinkorruption auf, verbesserte das Investitionsklima. Doch dann geschah, was in Georgien offenbar immer wieder auch mit hochqualifiziertem Personal geschieht. Saakaschwili regierte immer autoritärer, in den Gefängnissen wurde gefoltert. Mittlerweile ist er in Georgien rechtskräftig verurteilt und lebt seit Jahren im Ausland. In Teilen der Bevölkerung ist seine Popularität dennoch ungebrochen. Saakaschwilis Anhänger und die des Multimilliardärs Iwanischwili bekämpfen einander, wo es geht, liefern sich sogar Schlägereien vor den Wahllokalen.
Nina Janaschia verzieht das Gesicht. In Georgien gehe es immer nur darum, dem anderen Lager zu schaden. Sie vermisst Politiker mit Überzeugungen, die diese auch durchsetzen:
"Es ist ein bisschen frustrierend, dass wir uns politisch nicht entwickeln. Es ist immer die gleiche Geschichte, es gibt immer Wahlen, es gibt immer diese zwei Parteien, es gibt immer diejenigen, die sagen, okay, diese Wahlen sind nicht legitim, etwas war falsch. Das wiederholen wir schon seit zwanzig Jahren, denke ich."
Genau das halte viele qualifizierte Menschen ihrer Generation davon ab, in die Politik zu gehen. Auch sie selbst. Nina Janaschia arbeitet bei der GIZ, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Ihr Schwerpunkt ist die Klima- und Verkehrswende. Ein in Georgien noch gar nicht wirklich bearbeitetes Politikfeld. Sie gehe nicht in die Politik, weil sie befürchte, in dem auf Vetternwirtschaft und Machismo angelegten politischen System Georgiens unter die Räder zu kommen.

Neue Partei "Girchi" setzt auf Eigenverantwortung

Doch es gibt neue, frische Kräfte, und die kommen auch voran. Bei der Parlamentswahl im Herbst trat eine neoliberale Partei an, die radikal auf Eigenverantwortung setzt. Sie heißt Girchi, auf Deutsch "Tannenzapfen".
Statt langweiliger Imagefilme verbreiten sie Videos ihrer Politaktionen. So gingen die Aktivisten mit einem Ferkel im Zentrum von Tiflis spazieren, um auf den desolaten Zustand der Straßen und auf ewige Baustellen hinzuweisen. Einmal pflanzten sie öffentlich Marihuana und erreichten sogar, dass die Droge legalisiert wurde. Zurab Japaridze, 45 Jahre alt und Vorsitzender, grinst:
"Alles sollte privatisiert sein. Es sollte eine stabile Währung im Land geben. Und die Staatsausgaben sollten reduziert werden. Wenn wir diese drei Dinge tun, werden wir ein zweistelliges Wirtschaftswachstum erreichen."
Eine Gruppe junger, schwarz gekleideter Menschen steht verstreut auf einer sumpfigen Wiese.
Anhänger der neoliberalen Partei Girchi bei einer Protestaktion in Tiflis. Erfolg hatte Girchi bisher vor allem in der Hauptstadt.© imago / ITAR-TASS / David Mdzinarishvili
In der Hauptstadt Tiflis bescherte ihnen dieses radikale Programm einen kleinen Erfolg: Girchi holte vier Sitze. In vielen ländlich geprägten Regionen dagegen war die Partei gar nicht erst angetreten.
"Wir versuchen, die Mentalität und die Weltanschauung der Menschen zu ändern und ihnen klar zu machen, dass es ohne Freiheit keine Entwicklung und kein schnelles wirtschaftliches Wachstum gibt", sagt Japaridze. "Das ist schwierig und dauert. Wir sehen jedoch, dass immer mehr und vor allem junge Menschen davon überzeugt sind. Und dann bekehren diese jungen Menschen sozusagen ihre Eltern, ihre Großeltern. Und so wachsen wir."
Das ist mehr Wunsch als Realität. In der Provinz wird überwiegend der mit den überzeugendsten Heilsversprechungen gewählt. Warum ist das so? Warum bringen sich die Demokraten nur selten ein? Ist das nicht der Sinn der Stipendien, Verantwortung zu übernehmen, Demokratie und professionelle Standards auch in ihrer Heimat umzusetzen?

Journalist Absandze hat in Deutschland studiert

In der bekanntesten Politik-Talkshow im georgischen Fernsehen grillt Irakli Absandze, 45 Jahre alt, jeden Montag seine Gäste: Politiker, Wirtschaftsbosse, Funktionäre. Er ist einer der besten Journalisten Georgiens. Auch er hat in Deutschland studiert, in den 90er-Jahren.
"Mein primäres Ziel war nicht unbedingt eine Uni-Ausbildung. Ich habe damals schon einen georgischen Abschluss gehabt und wollte weg von hier, weg von den dunklen 90er-Jahren und wollte das selbst miterleben, was ich in der Literatur gelesen, was ich in französische Kinofilmen gesehen habe, z.B. Truffaut und so weiter und sofort. Wollte irgendwie prüfen, ob ich dazu gehöre. Und dazu gehören heißt, dass ich auch ein Weltmensch bin und nicht nur Georgier. Wollte auch sehen, wie die anderen sind. Und dann habe ich festgestellt, dass ich sehr gut dazu gehöre."
Es gehe um die innere Einstellung, wenn man ins Ausland gehe, sagt Absandze. Viele seiner georgischen Kommilitonen hätten in Deutschland ihr Heimweh mit georgischem Essen und georgischem Gesang gepflegt, statt rauszugehen. Absandze nicht:
"Ich hab dort weniger georgische Kontakte gesucht. Eigentlich nur Georgier kontaktiert, die ich schon von Georgien aus kannte, und habe versucht, neue Freunde zu finden. Und die habe ich gefunden."

Es ist schwer, in Georgien etwas zu verändern

Für Absandze war zu keinem Zeitpunkt eine Option, in Deutschland zu bleiben. Er wollte sein Wissen und seine Fähigkeiten in Georgien einbringen und etwas verändern. Doch in Georgien dann auch wirklich zu starten und durchzuhalten, ist schwer. Absandze mischt sich ein, eckt an. Georgische Eliten sind es nicht gewöhnt, dass Journalisten ihnen echte Fragen stellen und nachhaken. Sie versuchen, seine Sendung zu boykottieren, versuchen, über seine Chefs Druck auszuüben. Absandze hat deshalb mehrfach den Sender gewechselt.
Von den im Westen ausgebildeten Eliten wird er geschätzt. Das Problem für ihn ist, sich damit durchzusetzen und die herrschende Hoffnung auf den Messias ein für alle Mal zu beenden. Zwar habe der Multimilliardär Bidzina Iwanischwili mehrfach betont, er wolle kein Messias sein, sagt Absandze, aber:
"Er ist mehr als ein Messias. Der ist eigentlich Eigentümer von diesem Land."
Und dennoch ist der 45-jährige Journalist vorsichtig optimistisch. Weil die Parlamentswahl im Herbst 2020 gezeigt habe, dass man anfängt, sich vom alten politischen Denken abzulösen, sagt er.
"Das wird länger dauern, aber einen Weg zurück gibt es nicht. Denn wir haben keinen Messias."
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