Jugendroman

Tunnel der Erkenntnis

Mauer in Bethlehem trennt das Westjordanland von Israel
Der 13-jährige Joshua gerät auf die andere Seite der trennenden Mauer im Westjordanland - mit dramatischen Folgen. © dpa / picture alliance / Roland Holschneider
Von Sylvia Schwab · 16.09.2014
In "Auf der richtigen Seite" klettert ein israelischer Junge durch einen geheimen Tunnel. Er wirft einen Blick in den Alltag der Palästinenser, der sein eigenes Leben dramatisch auf den Kopf stellt.
Auf der "richtigen" Seite ist Joshua, ein 13-jähriger Israeli, der mit Mutter und Stiefvater in Amarias lebt, einer fiktiven jüdischen Siedlung in der Westbank. Eine schwerbewachte Mauer verläuft am Stadtrand und schützt Amarias vor dem Feind auf der anderen, der "falschen" Seite. Dort lauern – das ist Konsens – Terroristen darauf, die jüdischen Siedler zu töten.
Doch eines Tages findet Joshua einen geheimen Tunnel, der nach drüben führt. Und von dem Moment an, in dem er dort den Kopf aus der Erde streckt, verändert sich sein Leben. Er wird verfolgt und gerettet. Er erkennt, in welch jämmerlichen Verhältnissen die Palästinenser leben und kann helfen. Und er beginnt, die jüdischen Positionen infrage zu stellen, die Brutalität seines Volkes zu hassen und seinen eigenen Gefühlen zu vertrauen. Es gibt nur einen Weg für ihn: weg vom sturen, ungeliebten Stiefvater, der das radikale Israel verkörpert, und der schwachen Mutter, nach drüben.
Filmreife Verfolgungs- und Fluchtszenen
William Sutcliffes Roman ist viel mehr als ein spannendes Jugendbuch über die brisante politische Situation in Israel und Palästina. Er ist so etwas wie ein Gleichnis über die Relativität von Richtig und Falsch, von Gut und Böse. "Auf der richtigen Seite" beschreibt deshalb nicht nur eine geografische, sondern auch eine moralische Dimension, und Joshua entscheidet sich gegen sein Volk, um das Richtige zu tun. Die Mauer, der Tunnel, der Olivenhain, den er für die Palästinenser pflegt – diese alten literarischen Motive tragen eine tiefere Bedeutung. Sie stehen für Krieg, Terror und Gewalt, für Freiheit, Frieden und Freundschaft. Dass Amarias ein wenig zu steril und künstlich wirkt, wie in einer Fantasy-Geschichte, hebt den Roman zusätzlich über die augenblickliche Aktualität hinaus.
Spannend ist der Roman in zweierlei Hinsicht: in seinen filmreifen Verfolgungs- und Fluchtszenen ebenso wie in Joshuas dramatischen Auseinandersetzungen zu Hause. Sein Kampf um die "richtige" Haltung, um Mut und Menschlichkeit, seine schrecklichen Ängste im Tunnel, seine Einsamkeit und sein Glück bei der Arbeit im Olivenhain – das sind sehr bewegende Momente und Szenen.
Natürlich, glaubhaft, überzeugend
Dabei kommt William Sutcliffe nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daher. Auf welcher Seite er steht, ist eindeutig. Sein Kunstgriff, die jüdische Position von innen heraus zu kritisieren, steigert die Identifikation. Doch er warnt vor Gewalt und Vorurteilen auf allen Seiten, rüttelt seine jungen Leser auf und mahnt zur Skepsis gegenüber jeglichen politischen Parolen. Und das gelingt ihm so gut, weil Joshua seine Geschichte selbst natürlich, glaubhaft und überzeugend erzählt. Dieser intelligente, sensible Junge geht seinen eigenen Weg zwischen Neugier und Angst, Gehorsam und Geheimnis, Verbot und Abenteuerlust. Es gibt kein Happy End, auch das ist realistisch. Aber es gibt die richtige – die menschliche – Seite. Und eine Mauer stand oder steht in vielen Ländern.

William Sutcliffe: "Auf der richtigen Seite"
Übersetzt von Christiane Steen
Rowohlt Verlag, Hamburg 2014
346 Seiten, 16,99 Euro, ab 12 Jahren

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