Jugendliche Rebellion in Kabul

26.09.2013
Afghanistan Anfang der 50er Jahre: Das verarmte Mädchen Pari kommt in eine andere Familie und wird von seinem Bruder getrennt. Fortan verfolgt Khaled Hosseini in "Traumsammler" den Lebensweg der beiden Kinder. Ein raffiniert konstruierter und vielstimmiger Roman über Verluste, Verzweiflung und Würde.
Alles beginnt mit einem Märchen, das ein Vater seinen beiden Kindern erzählt. Es handelt von einem Bauern, der seinen Sohn einem Dämon ausliefert, dann versucht, ihn zu befreien und schließlich begreift, dass es dem Sohn dort erheblich besser geht als in seinem hungernden Dorf. Anderntags bringt der Erzähler, ein Kleinbauer, seine jüngste Tochter Pari nach Kabul, um sie einem reichen Ehepaar zu übergeben. Es zerreißt ihm das Herz, doch sein karges Land wirft zu wenig ab, um seine zweite Frau, deren Säugling sowie seinen Sohn Abdullah zu ernähren. Zwei Kinder, die sich innig lieben, werden auseinandergerissen.

Was wie eine Tränendrüsengeschichte beginnt, erweist sich als raffiniert konstruierter, vielstimmiger, facettenreicher Roman. Zwar folgt der afghanische Erfolgsschriftsteller Khaled Hosseini seinen beiden Kindern auf ihrem weiteren Lebensweg, denn die Geschichte beginnt 1952 in einem kleinen afghanischen Dorf, aber er verweigert sich jeglicher Chronologie, jeglichem stringentem Erzählfluss. Er springt in der Zeit vor und zurück und verflicht dabei ein Dutzend Schicksale so ineinander, dass sie sich zwar immer wieder berühren, aber jedes für sich allein steht.

Da wäre zuerst einmal der Onkel, ein Chauffeur und Koch, bei dessen Herrschaft Pari, die Bauerntochter fortan lebt. In seinem Nachlass 2009 findet sich ein Brief, der die unglückliche Ehe seines Arbeitgebers schildert. Dessen Frau Nila floh mit dem Mädchen nach Paris, nicht zuletzt weil sie begriff, dass ihr Mann eigentlich nur den Onkel liebt, das aber nie eingestehen würde. Er bleibt bei ihrem Mann, pflegt ihn nach einem Schlaganfall bis zu dessen Tod, erbt das Haus.

Liebesunfähig, aber auf der Suche nach Liebe
Dann entführt uns Hosseini in das Paris der 70er-Jahre. Nila betreibt eine kleine Buchhandlung, schreibt Gedichte, hat ständig wechselnde Liebhaber, trinkt zu viel. In einem Interview erzählt sie von ihrer jugendlichen Rebellion gegen die patriarchalischen Kabuler Verhältnisse. Eine Frau auf der Suche nach Liebe, selbst aber liebesunfähig. Eine schwierige Kindheit für Pari, die erst nach dem Freitod ihrer Mutter erfährt, dass sie nicht deren leibliche Tochter ist.

Und wieder kehrt der Autor in das heutige Afghanistan zurück. Der Sohn eines Warlords muss erfahren, dass sich sein Vater die Grundstücke, die einst Abdullahs Vater gehörten, widerrechtlich angeeignet hat. Bleibt noch der griechische Arzt Markos zu erwähnen, ein plastischer Chirurg, der seine sehr erfolgreiche Praxis in Athen aufgegeben hat, um in Kabul Kriegsverletzte wiederherzustellen.

Obwohl Khaled Hosseini aus dem jeweiligen Leben seiner Protagonisten erzählt, also ganz verschiedene Erzählstränge verfolgt, erfahren wir doch peu à peu immer mehr vom Werdegang der beiden Kinder. Auch stilistisch wechselt er stets die Perspektiven, zeigt sich mal als allwissender Erzähler, wechselt dann in die Erste Person, nutzt die Interview-Form, lässt ein Geständnis ablegen. Das macht den Roman sehr lebendig, weckt Neugier und überrascht durch unverhoffte Wendungen. Ein gelungener Roman über Verluste, Selbstbehauptung, Verzweiflung und Würde.

Besprochen von Johannes Kaiser

Khaled Hosseini: Traumsammler
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
441 Seiten, 19,99 Euro