Jugendkriminalität

"Knast macht Jugendliche nicht besser"

Ein Häftling steht in der Jugendstrafanstalt Adelsheim an seinem Zellenfenster.
Ein Häftling steht in der Jugendstrafanstalt Adelsheim an seinem Zellenfenster. © picture-alliance / dpa / Norbert Försterling
Von Swantje Unterberg · 04.12.2017
Wie kann man verhindern, dass jugendliche Straftäter rückfällig werden? Harte Strafen sind der falsche Weg, meint der ehemalige Häftling Volkert Ruhe. Er hat das Präventionsprojekt "Gefangene helfen Jugendlichen" gegründet und setzt auf Aufklärung.
"Das Schlimmste, was passieren kann: dass man einen Jugendlichen in den Knast steckt. Denn Knast macht Jugendliche nicht besser, er macht sie nur schlimmer."
Volkert Ruhe weiß, wovon er spricht. Der 62-Jährige ist mit 18 selbst ins Gefängnis gekommen, für drei Monate.
"Eigentlich hätte ich nur eine Geldstrafe bezahlen müssen von 1000 Euro, nee, DM waren das damals noch, an die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger oder so. Und der Richter hat auch gesagt, ich kann das in Raten zahlen, hundert Mark im Monat. So viel Geld hatte ich aber auch nicht, und irgendwann kam die Polizei und hat mich in den Knast gebracht."
22 Neuntklässler blicken gebannt auf Ruhe, der aus seiner bewegenden Lebensgeschichte erzählt. Von den Gewalt- und Alkoholexzessen in der Familie, der fehlenden Hilfe für ihn als Heranwachsender. Bei der einen Haft bleibt es nicht. Mit 40 wird er verurteilt zu 13 Jahren, wegen Kokainhandels im großen Stil. Volkert Ruhe ist niemand, der die Verantwortung auf andere abschiebt. Und doch sucht er nach strukturellen Ursachen und Lösungen:
"Während meiner Haftzeit war eben die Überlegung, was hätte mir helfen können, damit ich hier nicht lande."

Jugendliche können sich Sucht nicht leisten

So ist hinter Mauern das Projekt "Gefangene helfen Jugendlichen" entstanden. Erst kamen die Jugendlichen nur zu Besuch ins Gefängnis. Seit seiner frühzeitigen Entlassung wegen guter Führung fahren Ruhe und andere ehemalige Häftlinge selbst in die Schulen: zur Gewalt- oder Drogenprävention, und um den Jugendlichen klar zu machen, was Haft eigentlich bedeutet.
Ruhe: "Weil die meisten Jugendlichen, wahrscheinlich auch ihr, kennt Knast woher? Woher kennt ihr Knast?"
Schüler: "Von Filmen."
Ruhe: "Und wie wird Knast so dargestellt in den Serien, die ihr kennt?"
Schüler: "Das ist eher so ne überspitzte Version eines amerikanischen Gefängnisses."
Ruhe: "Überspitzt ist der genau richtige Eindruck. Die Gefangenen wollten das Bild mal ein bisschen gerade rücken, wie es wirklich hinter Gefängnismauern ist. Jetzt fragt ihr euch, wie verbindet sich das ganze mit Suchtprävention. Was kostet ein Gramm?
Schüler: "Zehn Euro."
Ruhe: "Und wie viel Taschengeld kriegst du?"
Schüler: "25 Euro."
Die Gymnasiasten aus Hamburg-Rahlstedt rechnen hoch, dass Jugendliche sich Sucht schlicht nicht leisten können – außer sie werden kriminell. Rauschgiftdelikte sind bei Unter-21-Jährigen laut der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik besonders häufig. Aber auch bei Gewaltdelikten und Ladendiebstahl sind junge Menschen gegenüber Älteren deutlich überrepräsentiert.
Volkert Ruhe von "Gefangene helfen Jugendlichen" spricht vor einer 9. Klasse.
Volkert Ruhe von "Gefangene helfen Jugendlichen" spricht vor einer 9. Klasse.© Swantje Unterberg

400.000 jugendliche Straftäter pro Jahr

"Ein Kriminalitätsproblem unter Jugendlichen gibt es auf alle Fälle," sagt Bernd-Rüdeger Sonnen, emeritierter Professor mit Schwerpunkt Jugendstrafrecht und Jugendkriminalität an der Universität Hamburg. Von jährlich gut zwei Millionen ermittelten Tatverdächtigen sind etwa 400.000 unter 21 Jahren.
"Wir können davon ausgehen, dass sie ungefähr zwei bis dreimal höher belastet sind, prozentual, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht."
Nur verurteilt werden sie deutlich seltener als Erwachsene:
"Das liegt aber auch daran, dass 70 Prozent aller Jugendverfahren informell erledigt werden."
Ins Gefängnis kommt man als Jugendlicher also gar nicht so schnell. Die Grundidee sei, Haft zu verhindern, sagt Strafrechtler Sonnen. Dafür soll die Jugendgerichtshilfe sorgen:
"Durch ambulante Angebote, durch eine Jugendhilfeorientierung, nicht durch eine Strafrechtsorientierung. Und das ist der große Unterschied im Jugendstrafrecht gegenüber dem allgemeinen Strafrecht: Das Jugendstrafrecht ist kein kleines Strafrecht."
Chancen geben, statt sie zu verbauen. Das soll die Gerichtshilfe gewährleisten, egal, woher die Heranwachsenden kommen und welche Schule sie besuchen.
"Wie sehen die Leute da im Knast aus?"
Volkert Ruhe – selbst schlank, graue kurze Haare, Brille, Hemd - deutet vor den Neuntklässlern erst auf sich und dann auf seinen Kollegen Teyfik Sahin, ebenfalls ein ehemaliger Häftling, muskulös, schwarze, zurückgegelte Haare, Goldkettchen, enganliegendes Shirt.

Kriminalität wächst sich in der Regel aus

"Wenn ihr jetzt die Wahl hättet? Wer kommt dem Klischee ein bisschen näher?"
Ein Schüler deutet auf Sahin, der sich demonstrativ aufplustert.
"Weil er ein bisschen breiter gebaut ist, weil er ein bisschen mehr nach Gangster aussieht, so."
Justitia hingegen soll blind sein - übersieht dabei aber auch die unterschiedlichen Voraussetzungen, die Jugendliche ob ihrer Bildung oder Herkunft mitbringen, kritisiert Kriminologe Sonnen.
"Das Instrumentarium, das das Jugendstrafrecht zur Verfügung hat im Bereich der sogenannten Erziehungsmaßregeln: sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich, Betreuung, soziale Gruppenarbeit, und, und, und. Das sind alles Angebot, die aber eine bestimmte Kompetenz voraussetzen."
Gerade junge ausländische Tatverdächtige, die in der Statistik ebenfalls überrepräsentiert sind, würden so nicht erreicht, schließlich härter bestraft und durch die Haft verloren gegeben. Denn eigentlich würde sich das Problem bei guten Rahmenbedingungen, bei Zukunftsperspektiven fast von selbst erledigen.
"Jugendkriminalität wächst sich aus, durch neue Rollen, in der Partnerschaft, im beruflichen Bereich, da erreichen wir ungefähr zwischen 90 und 95 Prozent, die dann nicht mehr rückfällig werden. Aber es bleiben eben diese fünf Prozent."
Volkert Ruhe hat zu diesen fünf Prozent gehört. Heute will er dafür sorgen, dass ihm weniger nachfolgen.
Mehr zum Thema