"Jüngers Blick auf den Krieg hat sich mehrfach gewandelt"

Helmuth Kiesel im Gespräch mit Joachim Scholl · 06.09.2013
Ernst Jüngers Buch "In Stahlgewittern" über den Ersten Weltkrieg hat Verehrer und Verächter. Nun erscheint es in einer Ausgabe, die alle sieben Fassungen dokumentiert. Herausgeber Helmuth Kiesel sagt, dass Jünger das Destruktive des Krieges erst in späteren Jahren als bedrängend und schmerzend empfunden habe.
Ernst Jünger: Ich weiß, dass ich Zeit meines Lebens, das bereits länger als das Goethes währt, vielen ein Ärgernis gewesen bin. Die Ambivalenz begleitete mich durch die mehr als 60 Jahre meiner Autorschaft, die mir Gegner in allen Lagern eintrug, und es ist zu erwarten, dass sich daran auch wenig ändern wird.

Joachim Scholl: Der Schriftsteller Ernst Jünger 1982 in der Frankfurter Paulskirche, wo der den Goethepreis der Stadt Frankfurt in Empfang nahm. Vorausgegangen war damals eine wochenlange Kontroverse, und Stein des Anstoßes war auch Jüngers frühes erstes Buch über seinen Kampfeinsatz im Ersten Weltkrieg "In Stahlgewittern – aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers". Eine unreflektierte Verklärung des Gemetzels, sagen Kritiker bis heute, eine objektive, realistische Darstellung nennen es Jüngers Verteidiger. Im Studio begrüße ich nun Helmuth Kiesel. Der Germanist aus Heidelberg legt jetzt eine kritische Ausgabe von "In Stahlgewittern" vor in zwei Bänden mit über 1.200 Seiten Text und Kommentar. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Helmuth Kiesel.

Helmut Kiesel: Ja, guten Tag und vielen Dank für die freundliche Einladung.

Scholl: Ernst Jünger, Herr Kiesel, war 19 Jahre alt, als er freiwillig in den Krieg zog, am Ende war er einer der höchstdekorierten Soldaten des deutschen Heeres mit dem Ruf eines furchtlosen Haudegens – sieben Mal wurde er verwundet –, und er führte in diesen vier Jahren Tagebuch, woraus "In Stahlgewittern" dann entstand. Ging hier ein junger Mann in den Krieg, um schließlich Schriftsteller zu werden?

Kiesel: Das würde ich so nicht sagen. Jünger ging in den Krieg, weil damals alle hingingen, nicht nur dahin gingen, sondern sich geradezu danach drängten. Er selber war schulisch in der Klemme, hatte ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn sogar versucht, sich seinen Problemen durch den Gang in die Fremdenlegion zu entziehen. Er hatte keine Perspektive, und da kam ihm der Krieg sozusagen gerade recht, zumal er auf diese Weise auch noch zum Kriegs- oder Notabitur kam. Aber, insofern haben Sie recht, er hatte seine literarische Ader bereits entdeckt durch kleinere Dichtungen im Rahmen der Schulklassen und des Wandervogels, und er nahm ein Notizheft wohl auch in der Absicht mit, den Krieg literarisch auszumünzen.

Scholl: Wer bislang Jüngers Buch in Händen hielt und las, war sich vermutlich nicht bewusst, dass es insgesamt sieben Fassungen gibt, die von Jünger bearbeitet wurden in den folgenden Jahrzehnten, zum Teil sehr massiv, von 1920, als das Buch erstmals erschien, bis 1978. Was sind denn für Sie, Herr Kiesel, die gravierendsten Veränderungen, die Jünger am Text vornahm?

"Liebesbeziehung zu einer Französin mochte er erst 1924 bekennen"
Kiesel: Na ja, der Text ist insgesamt um etwa ein Viertel gewachsen in dieser Zeit, durch eine Reihe von größeren und kleineren Einfügungen. Man kann die grob gesagt einmal in zwei Klassen einteilen: Es gibt einmal Erweiterungen des Berichts durch konkretisierende und präzisierende Darstellungen, etwa des Alltags im Graben oder des Verlaufs eines Kampfeinsatzes, oder auch durch Schilderungen der Geschehnisse im Kameradenkreis und so weiter, ebenso dann auch durch Schilderung beispielsweise einer Liebesbeziehung zu einer jungen Französin, die Jünger erst 1924 bekennen mochte und eingefügt hat. Daneben auch allerdings reflektorische Einfügungen, Gedanken über den Charakter des Krieges, über das Verhältnis zum Gegner oder zum Feind, über die Zerstörungen etwa beim Somme-Rückzug, die Jünger in großes Erstaunen versetzt haben, und die er dann nachträglich auch beurteilte.

Scholl: Man hat Jünger immer wieder vorgeworfen diesen nüchternen, protokollierenden, kalten Chronistenblick, mit dem er eben auch auf Tod, Entsetzen und Blut und Gemetzel schaut. So, wie Sie es sagen, hat er sich doch dann auch zum reflektierenden Schriftsteller gewandelt, der also durchaus dieses Dilemma in Worte fasst?

Kiesel: Ja, Jüngers Blick auf den Krieg hat sich mehrfach gewandelt. Zuerst einmal durch die politische Situation, die ja im Laufe der Weimarer Zeit hochbrisant war, dann auch durch die hinzutretende historische Erfahrung in den 30er-Jahren, im Zweiten Weltkrieg, und schließlich auch durch das Alter. In den 20er-Jahren hat Jünger den Krieg vor allem unter politischem, mehr hin nationalistischem Aspekt betrachtet als unter der Frage, wie der Erste Weltkrieg für die weiteren politischen Auseinandersetzungen zu nutzen wäre. In den 30er-Jahren hat er ihn eher unter einem historischen und weltgeschichtlichen Aspekt gesehen, als Auftakt zu einer großen und unabsehbaren Neuordnung der Welt. Später wurde ihm das Destruktive des Krieges deutlicher, begann ihn zu bedrängen und zu schmerzen. Und das nötigte ihn dazu, die Dinge immer wieder neu zu bedenken, die Darstellung zu revidieren, zu modifizieren, neu zu akzentuieren, ohne allerdings seine früheren Positionen und Darstellungen ganz zu verraten.

Scholl: Erstmals eine kritische Ausgabe von Ernst Jüngers Kriegsbuch "In Stahlgewittern" – wir sind im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Herausgeber Helmuth Kiesel. In Ihrer Ausgabe nun, Herr Kiesel, kann man die erste und die letzte Fassung parallel lesen, dazu gibt es – jeweils farblich in rot, blau, grün abgesetzt –, die Korrekturen der anderen fünf Fassungen. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat bereits von der farbenfrohesten Ernst-Jünger-Ausgabe gesprochen, die es je gab. Ermöglicht denn dieses bunte Bild auch einen neuen Blick auf Ernst Jünger als ein Buch?

Kiesel: Na ja, ich denke schon, sonst hätten wir uns diesen ganzen Aufwand ja erspart. Das ist ja ein großer Arbeitsaufwand, eine solche Ausgabe herzustellen, und es ist auch ein großer Aufwand für den Verlag. Ich hoffe, dass die Leserschaft das ebenso sieht wie wir. Jedenfalls denke ich, wird jetzt auf den ersten Blick erkennbar, wo Jünger in den Text eingegriffen hat, in welchem Umfang und in welcher Weise er ihn verändert hat, und wann dies geschehen ist. Und dafür muss man jetzt nicht nur unbedingt mehr das Variantenverzeichnis lesen, das es auch gibt, sondern man sieht das im farbigen Paralleldruck auf den ersten Blick.

Scholl: Ich möchte noch mal, Herr Kiesel, zurückkommen auf diesen inneren Wandel, von dem Sie gesprochen haben. Sie machen in Ihrem Kommentar auf etliche Stellen aufmerksam, die doch mit der Zeit sehr anders klangen. Da schreibt Jünger etwa angesichts eines von ihm getöteten jungen Engländers: "Oft habe ich später an ihn zurückgedacht, und mit den Jahren häufiger. Der Staat, der uns die Verantwortung abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien. Wir müssen sie austragen, sie reicht tief in die Träume hinab." Dieser Satz fehlt gänzlich in den frühen Ausgaben, von Trauer war da überhaupt nicht die Rede. Jünger hat ihn hinzugesetzt – könnte man sagen, dass er mit den Jahren doch moralisch klüger geworden ist?

"Die Getöteten wurden im Bewusstsein präsent"
Kiesel: Zweifellos ist das so, und dieser Satz ist ein Beispiel dafür. Er findet sich erstmals in der sechsten Fassung von 1961, also immerhin noch einige Jahre, bevor Alexander und Margarete Mitscherlich den Begriff der Trauer ins Zentrum der politischen Kultur der Bundesrepublik gerückt haben. Er resultiert bei Jünger einfach aus der genannten Erfahrung, dass die Menschen, die er persönlich getötet hat, weil sie ihn sonst getötet hätten, dass diese Menschen sozusagen wiederkehrten, in Träumen, in der Erinnerung, im Bewusstsein präsent wurden, und das Gefühl aufkommen ließen, dass ihnen etwas unwiderruflich genommen worden sei, was ja so ist, das Leben nämlich. Und wahrscheinlich hat dabei auch eine Rolle gespielt, dass Jüngers eigener Sohn Ernst Ende November 1944, also im Zweiten Weltkrieg, im Alter von 18 Jahren gefallen war, ein blutjunges Kerlchen, wie Jünger über den von ihm getöteten Engländer an der gerade zitierten Stelle auch schreibt.

Scholl: Klaus Mann hat einmal über Ernst Jünger geschrieben: "Ein Mann von der finsteren Glut Jüngers kann Unheil stiften." Und der französische Nobelpreisträger André Gide, der wiederum hielt "In Stahlgewittern" für das schönste Kriegsbuch, das er je gelesen habe. Bis heute sind das die Positionen zwischen Verachtung und Bewunderung für diesen Schriftsteller. Sie, Herr Kiesel, haben vor einigen Jahren auch eine umfassende Biografie verfasst. Hat denn jetzt diese vergleichende Lektüre der "Stahlgewitter" Ihren persönlichen Blick noch mal verändert, geschärft?

Kiesel: Natürlich ist mir die zunehmende Differenziertheit des Textes, nicht nur der schriftstellerischen Faktur, sondern auch der moralischen, ethischen Bewertung des Krieges, noch einmal deutlicher geworden. Auch der deskriptive, der emotionale, der ethische Zugewinn, den der Text erfahren hat, den sehe ich jetzt noch deutlicher. Vor allem aber hat mich – das liegt jetzt nun nicht am Text, sondern an den Texten, die ich dazu gelesen habe und die in der Ausgabe auch dokumentiert sind –, vor allem hat mich das Studium der Rezeptionszeugnisse zum Staunen gebracht, weil namhafte Zeitgenossen – ich nenne Erich Maria Remarque und Paul Levi beispielsweise, den Reichstagsabgeordneten der SPD –, dass solche Zeitgenossen die "Stahlgewitter" keineswegs als ein kriegstreibendes Buch betrachtet haben, sondern als ein Buch, das extrem kritisch wirke, und Remarques Wort sogar, das am meisten pazifistisch wirkende Buch der Zeit sei. Das sind erstaunliche Entdeckungen, die auch dazu beigetragen haben, dass ich und auch andere bereits die "Stahlgewitter" noch einmal neu gelesen haben.

Scholl: "In Stahlgewittern", die erste historisch-kritische Ausgabe des Buches von Ernst Jünger, herausgegeben von Helmuth Kiesel. Herzlichen Dank Ihnen für dieses Gespräch. Erscheinen wird die Edition am 23. September im Verlag Klett Cotta mit 1.250 Seiten in zwei Bänden zum Preis von 68 Euro. Und wer in der nächsten Woche eventuell das Internationale Literaturfestival in Berlin besucht, der kann sich diesen Termin notieren, am Dienstag wird die Ausgabe auf dem Festival präsentiert.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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