Judith Holofernes über das Chaos

"Ich bin vielleicht die letzte Optimistin"

Die Musikerin Judith Holofernes
Judith Holofernes bevorzugt "nonkonformistische Lebenswege". © picture alliance / Jens Kalaene
Moderation: Korbinian Frenzel · 13.03.2017
"Ich bin das Chaos" heißt das neue Solo-Album von Judith Holofernes. Im Studio von Deutschlandradio Kultur und hat die Sängerin uns erzählt, was für sie das Anziehende - und Komische - am Chaos ist. Und: Sie sei ein großer Fan nonkonformistischer Lebenswege.
Seit 2014 ist Judith Holofernes, ehemalige Sängerin der Band "Wir sind Helden", solo unterwegs. Am 17. März erscheint ihr zweites Solo-Album "Ich bin das Chaos". Wie ein roter Faden durchzieht das Thema Chaos die elf Songs.
Im Alltag sei sie selbst so etwas wie das personifizierte Chaos - Freunde, die sie sehr gut kennen, hätten jedenfalls "schallend gelacht", als sie vom Titel des neuen Albums erfahren hätten.
Attraktiv am Chaos sei dessen kreative Kraft. "Auf der anderen Seite versuchen wir immer, das Chaos zu befrieden und in seinen Schranken zu halten. Und verwenden wahnsinnig viel Energie darauf – und nicht unbedingt auf die schlaueste Art."

Tauschhandel mit dem Universum

Lebensplanung entstehe oft aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus – "dass man beschließt, ein ungeliebtes Studium fünf Jahre lang durchzuziehen, nur weil man denkt, dass man damit irgendeine schräge Art von Tauschhandel mit dem Universum eingeht. Und das dann belohnt wird – und danach kann man dann endlich glücklich sein."
Insgesamt verwende man im Alltag zu viel Energie "in Wege, denen wir nicht mal vertrauen". Judith Holofernes betonte, sie sei "ein großer Fan von nonkonformistischen Lebenswegen und Zick-Zack-Schlagen und Innehalten". Sie habe die Hoffnung, mit dem Album-Song "Ode an die Freude" vielleicht den einen oder anderen doch dazu bewegen zu können, sein Studium abzubrechen, wenn keine richtige Lust und Überzeugung dahinter stecke.

Leuchten vor dunklem Hintergrund

Ihr neues Album sei "teilweise sehr dunkel und teilweise sehr hell", sagte Judith Holofernes weiter. Sie selbst habe durchaus Talent zum Traurigsein – wobei ihr Gesamtgefühl dennoch "ein sehr helles" sei. Es sei aber ein Leuchten, dass vor allem vor einem dunklen Hintergrund funktioniere. "Eigentlich bin ich vielleicht die letzte Optimistin." So lautet auch einer der Songs auf dem neuen Album.

Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Sie ist die Frau, die Aurélie die deutschen Männer erklärt hat und ihre Schwierigkeit zu flirten. Sie ist die Stimme, die Denkmäler am liebsten mit dem Vorschlaghammer zertrümmert. Sie ist eine Heldin der 2000er-Jahre, ohne Frage – Judith Holofernes, einstmals Frontfrau der Berliner Band, seit einiger Zeit solo unterwegs. Am Freitag erscheint ihr neues Album "Ich bin das Chaos". Sie war damit bei mir zu Gast, hier im Studio. Online können Sie das sehen, deutschlandradiokultur.de, und on Air können Sie es hören, jetzt: Judith Holofernes mit ihrem neuen Album "Ich bin das Chaos". Ich hab sie gefragt, ob sie das ist, sie selbst, das Chaos.
Judith Holofernes: Der dazugehörige Song ist ein Rollenlied, und in dem Lied wollte ich in die Rolle des Chaos schlüpfen, und ich wollte gerne sozusagen das Attraktive und das Bedrohliche im Chaos verkörpern, dass es sozusagen flirtet mit seinem Gegenüber und versucht, den endgültig auf seine Seite zu ziehen. Jetzt aber weniger metaphysisch: Ja, ich bin das Chaos. Ja, ich –
Frenzel: Im täglichen Leben?
Holofernes: Also Leute, die mich sehr gut kennen, haben auf jeden Fall schallend gelacht, als sie den Albumtitel gehört haben.
Frenzel: Was ist denn das Anziehende, das Attraktive am Chaos, was Sie gerade beschrieben haben, fangen wir mal mit der Seite an.
Holofernes: Ich glaube, was uns so anzieht am Chaos, ist, dass wir erstens tief in unseren Herzen wissen, dass das Chaos einfach ist, dass das eine kreative Kraft ist und dass es diese Gewalt hat, und irgendwie, dass es auch die Wahrheit ist, die Wahrheit des Lebens. Das ist natürlich erst mal anziehend, Leben ist irgendwie attraktiv. Und auf der anderen Seite versuchen wir immer, das Chaos zu befrieden und in seinen Schranken zu halten und verwenden wahnsinnig viel Energie darauf und nicht unbedingt auf die schlauesten Arten.

Die Sehnsucht in uns

Frenzel: Haben Sie da ein Beispiel, fällt Ihnen da was ein?
Holofernes: Zum Beispiel habe ich das Gefühl, dass ganz viel Lebensplanung aus Sicherheitsbedürfnis heraus entwächst, also dass man beschließt, ein ungeliebtes Studium fünf Jahre lang durchzuziehen, nur weil man denkt, dass man damit irgendeine Art von schrägem Tauschhandel mit dem Universum eingeht und das dann belohnt wird und danach kann man endlich glücklich sein. Und dann denkt man, jetzt muss man nur noch 20 Jahre in dem ungeliebten Job arbeiten, und dann geht man in Rente, und dann kann man endlich glücklich sein. Und wenn man das dann in Bezug dazu setzt, dass anscheinend, wie eine sehr schöne Studie belegt, die Freude über einen überraschenden Blumenstrauß größer als die über ein abgeschlossenes Hochschulstudium, dann finde ich das einfach sehr unterhaltsam.
Frenzel: Wobei der Blumenstrauß natürlich verwelkt nach einer Zeit.
Holofernes: Der Blumenstrauß verwelkt, aber das Studium auch. Ich finde es lustig, wie viel Energie und Lebenszeit wir in Wege geben, denen wir eigentlich selber noch nicht mal vertrauen. Und dann finde ich es wieder interessant, sich zu fragen, was ist das für eine Sehnsucht, mit der wir alle ständig die Apokalypse hervorbeschwören und sie lustigerweise damit ja auch herbeireden. Eine Entwicklung wie die AfD, die wären ja nicht möglich gewesen ohne dieses Doomsday-Narrativ sozusagen.
Frenzel: Ich würde es vielleicht nicht Doomsday nennen, aber doch so ein bisschen Melancholie spürt man ja schon auf Ihrem Album. Sie fangen ja auch dieses Album an, das erste Lied heißt "Der letzte Optimist", das ja etwas Trauriges auch hat, oder habe ich das falsch gehört?
Holofernes: Das Album ist teilweise sehr dunkel und teilweise sehr hell. Mein Gesamtgefühl ist doch ein sehr helles, aber das ist sozusagen so ein Leuchten, das nur vor einem dunklen Hintergrund funktioniert.
Frenzel: Zeitgeist oder Stimmung von Judith Holofernes?
Holofernes: Nee, schon eher Zeitgeist. Aber ich unterschreibe die Apokalypse eigentlich nicht, ich finde es aber trotzdem spannend, sie zu besingen. Ich weiß nicht, zum Beispiel, es gibt einen Song, der heißt "Das Ende" – von wegen Apokalypse.
Frenzel: "Der letzte Optimist" – "Das Ende" – ja?
Holofernes: Und bei "Das Ende", da ist die zweite Strophe – "Du blätterst dich …" – also es geht eigentlich darum, wie wir uns die Welt erzählen, und dass wir alle das gleiche Buch lesen, obwohl wir es noch nicht mal mögen. Und die zweite Strophe ist "Und ach, am Ende kriegt der Held voll auf die Mütze. Achtung, Spoiler Alert, das letzte Wort ist Apokalypse." Und der Refrain ist aber dann immer "Aber immerhin weiß man immer, wer gewinnt, immerhin weiß man immer, wer verliert."

"Ich habe eine Talent zum Traurigsein"

Frenzel: Nämlich wer?
Holofernes: Ich bin doch der Künstler, das muss ich nicht zu Ende erzählen. Ich habe ein Talent zum Traurigsein, aber eigentlich bin ich dann doch vielleicht die letzte Optimistin.
Frenzel: Zu Ihrem Song "Oder an die Freude" haben Sie, wenn ich das richtig zitiere, in einem Interview gesagt, sie hofften ja insgeheim, dass dieser Song irgendjemandem den letzten Schubs gibt, sein Studium abzubrechen. Um was zu tun? Um sich dem Leistungsdruck zu entziehen? Spüren Sie zu viel davon in unserer Gesellschaft?
Holofernes: Ja, definitiv. Ich bin ja ein großer Fan von nonkonformistischen Lebenswegen und Zickzack-Schlagen und Innehalten und Hinhören. Ich finde, ein Studium ist an sich überhaupt nichts Schlechtes, da ist überhaupt nichts gegen einzuwenden, wenn man weiß, was man machen möchte oder wenn es einen so interessiert. Am besten, im besten Fall, noch nicht mal, wenn man weiß, was man damit machen möchte, sondern wenn es einen wirklich interessiert. Aber ich habe einen starken Widerwillen gegen das Verschwenden von Lebenszeit und Sachen, die man aus Vernunftgründen macht, um irgendwelche wichtigeren Fragestellungen aufzuschieben. Dann bin ich immer eher dafür, dass man ein halbes Jahr lang still in einer Höhle sitzt und sich dieser Frage erst mal zuwendet, bevor man sechs Jahre lang irgendwas studiert, was einem vielleicht grundlegend egal ist.
Frenzel: Gibt es ein Lieblingslied, das Sie haben unter diesen elf Liedern auf Ihrem neuen Album?
Holofernes: Also es gibt so Lieblingsmomente, wo ich nicht still sitzen kann oder wo ich einfach so quasi die Fäuste hochreißen möchte. Das eine ist tatsächlich das Klarinettensolo oder überhaupt der Orchesterteil, das Outro von "Oder an die Freude", wo wir schon drüber gesprochen haben.
Frenzel: Der Studienabbrechersong, so nenne ich ihn jetzt mal.
Holofernes: Ja, nennen wir ihn den Studienabbrechersong, und – [lacht]
Frenzel: Judith Holofernes, sie war zu Gast bei uns, zu sehen auch als Video auf deutschlandradiokultur.de. "Ich bin das Chaos", ihr zweites Soloalbum erscheint am Freitag, und wir hören daraus jetzt den besagten Titel zum Studienabbrechen "Oder an die Freude"
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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