Judentum in Europa heute

Von Heinz-Peter Katlewski · 07.05.2010
Entsteht in Europa ein jüdisches Zentrum mit einer eigenen Identität? Diese zehn Jahre alte These der Pariser Historikerin Diana Pinto macht seit einigen Jahren die Runde. In Deutsch-land wurde sie zuletzt vor einem Jahr bei einer internationalen Tagung des Potsdamer Moses Mendelssohn Instituts von renommierten Wissenschaftlern diskutiert.
Unter ihnen dominierten Zweifel, ob die unterschiedlichen jüdischen Identitäten in Europa mit-einander kompatibel seien. Vergangenes Wochenende trafen sich nun junge Akademiker aus ganz Europa in Berlin, um aus ihrer Perspektive das jüdische Europa zu analysieren.

Dr. Lea Mühlstein, Leo-Baeck-College London, 9. April 2010: "I think, in fifteen or twenty years more so than now, all Jews in Europe will be Jews by choice. We do no longer have to be Jews. If we don’t want to, we don’t have to. Which means, everyone who opts in actually opts in."

Lea Mühlstein überraschte die 40 Konferenzteilnehmer aus ganz Europa mit einer gewagten These: In 15 bis 20 Jahren würden alle Juden in Europa "Jews by Choice" sein - ein Begriff, der vor allem in Nordamerika für Menschen verwendet wird, die zum Judentum übergetreten sind.

Auch geborene Juden, also solche mit einer jüdischen Mutter, würden dann selbstverständlich frei darüber entscheiden, ob sie jüdisch bleiben wollen oder nicht. Die traditionalen Bindungen, die familiären und die ethnischen an das jüdische Volk werden an Gewicht verlieren, glaubt die promovierte Chemikerin, so wie im Rest der Gesellschaft auch.

Lea Mühlstein studiert am Londoner Leo-Baeck-College. Sie will Rabbinerin werden und rechnet damit, in Zukunft häufiger mit wechselndem Engagement und sogar mit Konjunkturen der Beteiligung konfrontiert zu werden: mit Aufs und Abs:

Dr. Lea Mühlstein, Leo-Baeck-College London, 9. April 2010: "Ich denke durchaus auch dieses 'Jews by Choice', diese Idee, das ist nicht unbedingt 'ich entscheide das einmal und das wird für mein Leben so bleiben'. Ich glaube, das ist ziemlich zyklisch. Und wir sehen das durchaus auch jetzt. Wir schauen uns die jüdischen Gemeinden an und 'zwischen 18 und 35, da kommt ja niemand', das heißt 'die jüdische Gemeinde wird jetzt aussterben'. Ich denke, das ist nicht der Fall. Die Leute haben später Kinder, die Leute heiraten später und kommen später zurück und wählen das Judentum als ihre Identität vielleicht eher für einen Lebensabschnitt als für ihr gesamtes Leben."

Das ist immerhin eine Chance. Selbst dort, wo die jüdische Gemeinde in Vergessenheit geraten sollte, ist sie nach dem Fall des eisernen Vorhangs zurückgekehrt. Bei einer Volkszählung in Polen vor mehr als 20 Jahren gaben gerade einmal 1100 Menschen an, Juden zu sein. Heute dagegen sind 10.000 in jüdischen Gemeinden organisiert. Viele Menschen suchen offenbar wieder die Bindung an die Geschichte ihrer Familie und ans Judentum - auch wenn sie nicht unbedingt ihre Religion praktizieren.

Die Lauder-Stiftung, die seit Jahren den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Polen betreibt, geht davon aus, dass es etwa 50.000 Menschen sind, die im Sinne der religiösen Tradition Juden sind. Jahrzehntelang hätten sie ihre Herkunft verschwiegen. Verlässliche Zahlen gibt es dazu nicht, nur ein paar Forschungsdaten:

Adrian Wójcik, Zentrum für Vorurteilsforschung - Uni Warschau, 10.4.10: "Wir fragten die Abonnenten der polnisch-jüdischen Zeitschrift 'Midrasch' wie lange sie sich dessen bewusst sind, Juden zu sein. Ungefähr die Hälfte von ihnen gaben an, sie wüssten es schon immer. Und etwa 10 Prozent sagten, dass sie es seit mehr als 20 Jahren wissen. Der Rest kam in den folgenden Jahren dazu. Etwa sechs entdeckten erst kürzlich ihre jüdischen Wurzeln."

Adrian Wójcik ist Soziologe, Doktorand und einer der Gründer des Zentrums für Vor-urteilsforschung an der Universität Warschau. Jüdisches erlebt in Polen derzeit ein Revival. Jüdische Kultur- und Musikfestivals sind populär und sind auch für Nichtjuden interessant. Auch wenn es eine kleine aktive Minderheit von Antisemiten gibt, die meisten polnischen Juden scheinen derzeit keine Scheu zu haben, sich zu bekennen.

60 Prozent der Befragten der Zeitschrift Midrasch, halten die Religion zwar für einen wichtigen Aspekt ihrer jüdischen Identität, weit wichtiger sogar als ihre ethnische Zugehörigkeit. In ihrem Alltag aber spielt diese Religiosität nur eine geringe Rolle. Dazu der Berliner Soziologe und Publizist Sergey Lagodinsky.

Dr. Sergey Lagodinsky, 10. April 2010: "Das ist das, worauf ich immer versuche zu verweisen oder hinzuweisen, dass man eben offen sein muss sowohl gegenüber dem säkularen Judentum, einem Judentum, das vielleicht auf der Familientradition eher sich aufbaut, auf geschichtlichen und familiären Narrativen, aber auch auf säkularem Selbstver-ständnis. Die Zugehörigkeiten können ja multipel ausgestaltet sein. Und religiöse Zugehörigkeit ist ja nur eine Dimension von vielen."

Aber eben eine, die auf keinen Fall verloren gehen darf, wenn die jüdische Gemein-schaft eine Zukunft haben will. Für Lea Mühlstein vom Londoner Leo-Baeck-College liegt hier der Auftrag der jüdischen Gemeinden und ihrer Rabbinerinnen und Rabbiner:

Interview Dr. Lea Mühlstein, Leo-Baeck-College London, 9. April 2010:
"Wir müssen viel ernster nehmen, die Tatsache, dass der Großteil der jüdischen Welt in Europa extrem hohen Bildungsstandard hat. Die meisten mit Uni-Ausbildung und höherer Uni-Ausbildung. Und das muss eben auch in den jüdischen Gemeinden reflektiert werden.

Es ist einfach nicht gut genug, wenn Religion auf einem Niveau angeboten wird, das gerade mal für eine Abiturklasse angebracht wäre, wenn überhaupt das. Es ist meiner Meinung nach überraschend, dass man diese ganze riesige Menge an jüdischer Philosophie, dass die kaum in den jüdischen Gemeinden gelesen, reflektiert, weiterentwickelt wird."