Juden in Deutschland

Aufruf zur Desintegration

Ein ultra-orthodoxer Jude beim "Tashlich", einem Ritual, um die Sünden des vergangenen Jahres los zu werden.
"Desintegration als künstlerische Strategie bedeutet eine Alternative zur Opferposition", schreibt Max Czollek. © picture-alliance/ dpa / epa Pavel Wolberg
Von Max Czollek · 26.05.2017
Auf seine Aufarbeitung des Holocausts ist Deutschland stolz. Ein Punkt, auf den sich die meisten in jeder Leitkultur-Debatte einigen können. Max Czollek hält dagegen. Für ihn geht dabei die gegenwärtige jüdische Kultur unter. Daher ruft er Juden zur "Desintegration" auf.
Wer kann in Deutschland von einer gemeinsamen jüdisch-christlichen Tradition sprechen? Wer freut sich darüber, endlich wieder die Deutschlandfahne rauszuhängen, im Gesicht zu tragen oder auf dem Toastbrot zu essen? Wer besteht auf Schweinefleisch im Kindergarten und in der Mensa? Wer errichtet sich selbst ein Mahnmal, das an eine Gaskammer erinnern soll, und fragt dann die Juden, ob es ihnen gefällt?
Die Debatte über Vergangenheit und Gegenwart wird von einem deutschen Bedürfnis nach Läuterung vom Nationalsozialismus strukturiert. Als Juden leisten wir einen wesentlichen Beitrag dazu, dieses deutsche Selbstverständnis zu stabilisieren. Indem wir vor Antisemitismus warnen und die Shoahgeschichte unserer Familien preisgeben, versichern wir die Deutschen, dass sie keine Nazis mehr sind. Der kanadisch-deutsche Wissenschaftler Y. Michal Bodemann hat diese Inszenierung treffend als "Gedächtnistheater" bezeichnet.

Hoher Preis für "Gedächtnistheater"

Der Deal ist dabei: Für das Performen des "Juden für Deutsche" erhalten öffentliche Jüdinnen und Juden jene materielle und soziale Anerkennung, von der sie vielleicht schon immer geträumt haben. Aber für die Übernahme der Judenrolle zahlen wir einen hohen Preis. Unsichtbar die sowjetischen Juden und Jüdinnen, deren Familien nicht aus Auschwitz befreit wurden, sondern die Auschwitz befreit haben. Unsichtbar auch jene, deren Familiengeschichte nicht in Europa wurzelt und die keine Shoahgeschichte in petto haben. Juden, das sind jüdische Opfer, Mitbürger jüdischen Glaubens, blasse Thoraschüler mit Pejes, mosaische Religionsangehörige, Israeliten, Muskeljuden oder Holocaustüberlebende.
Offensichtlich ist zugleich, dass viele jüdische Künstlerinnen und Künstler und öffentliche Personen die Erwartungen und Zuschreibungen einer deutschen Dominanzkultur eilfertig bedienen. Eine Kritik am Gedächtnistheater müsste daher in beide Richtungen zielen: auf das deutsche Begehren und auf die Komplizenschaft vonseiten deutscher Jüdinnen und Juden.

Desintegration als Alternative zur Opferposition

Genau hier setzt das Konzept der Desintegration an: Desintegration bedeutet, sich nicht gebrauchen zu lassen, wenn Deutsche eine jüdisch-christliche Tradition erfinden und damit eigentlich sagen wollen: Der Islam hat in Deutschland nichts zu suchen. Desintegration bedeutet, den deutschen Blick und das deutsche Begehren hinter dem Gedächtnistheater sichtbar zu machen. Desintegration bedeutet, zu sagen: Wenn wir Eure Juden sind, dann seid Ihr auch unsere Kartoffeln.
Desintegration als künstlerische Strategie bedeutet eine Alternative zur Opferposition! Es bedeutet, einen Zaun um das Holocaustmahnmal zu ziehen, eine Kasse aufzubauen und Eintritt zu nehmen. Es bedeutet, die Artefakte der Ermordeten aus deutschen Museen zu stehlen und eine Notiz zu hinterlassen auf der steht: "Wir haben uns nur genommen, was uns sowieso gehört."

Wider den positiven Nationalismus

Desintegration bedeutet das Gegenteil von Angst. Es bedeutet Wut auf die Selbstgerechtigkeit, mit der Deutsche das Ende ihrer Erinnerungswilligkeit verkünden. Über den ungehemmten Narzissmus, mit dem sich die "guten" Deutschen in ihrer Nachkommenschaft inszenieren. Es bedeutet wütend zu sein über diese blöde Freude am positiven Nationalismus, dessen schwarz-rot-goldenes Symbol seit 2006 auf jedem blöden Produkt zu finden ist. Wütend über diese Scheinheiligkeit, diesen Glauben, man käme so billig davon.
Der Innenminister hat Unrecht, wenn er glaubt, Deutschland bestehe nur aus jenen, für die, Zitat, "[u]nsere Nationalfahne und unsere Nationalhymne selbstverständlicher Teil unseres Patriotismus" sind. Um es mit den Worten Kurt Tucholskys zu sagen: "Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht [ ... ] Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir." Der positive Nationalismus ist ein deutscher Traum, der aus einem deutschen Trauma entstanden ist. Es gab einmal eine Zeit, da wollten Juden dazugehören. Dieser Zug ist abgefahren - und es saßen Deutsche im Schaffnerhäuschen!

Max Czollek, geboren 1987 ist Lyriker, Wissenschaftler und Kurator. 2016 promovierte er am Zentrum für Antisemitismusforschung mit der Arbeit "Das Antisemitismus-Dispositiv". Im selben Jahr initiierte er gemeinsam mit Sasha Marianna Salzmann die Veranstaltung Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen am Maxim Gorki Theater, Studio Я (Kongresskatalog, Kerber Verlag 2017). Er ist Gründungsmitglied des Magazins Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart (Neofelis Verlag). Im Verlagshaus Berlin erschienen bislang zwei Lyrik Monographien "Druckkammern" (2012) und "Jubeljahre" (2015) sowie das ebook "A.H.A.S.V.E.R" (2016).

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