Juden aus der Ex-Sowjetunion in Sozialnot

Erst Arzt, dann Almosenempfänger

Kaum Geld zum Leben - ein leeres Portemonnaie
Kaum Geld zum Leben haben viele jüdische Senioren aus der Ex-UDSSR. © dpa / picture-alliance / Hans Wiedl
Von Jens Rosbach · 21.11.2016
Die deutsche Bürokratie ist vor allem für die Älteren der jüdischen Kontingentflüchtlinge aus Russland ein Problem. Viele leben in Armut oder am Existenzminimum. Sie kämpfen gegen Ungleichbehandlung und die Anerkennung ihrer Notlage.
"Wir, die ersten frei gewählten Parlamentarier der DDR, erklären einmütig vor der Weltöffentlichkeit: Durch Deutsche ist während des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden. Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren. Sie sind entweder Ingenieure, Ärzte, aber auch Künstler und Musiker. Ihnen fehlten damals die deutschen Sprachkenntnisse und viele Abschlüsse wurden häufig nicht anerkannt. Das hat auch bei vielen zu psychosomatischen Erkrankungen geführt: Plötzlich stehe ich da, von niemandem gebraucht, und das ist wirklich ein Problem. Wenn wir sehen, dass von der deutschen Wohnbevölkerung 2,4 Prozent Grundsicherung im Alter beziehen – bei den zugewanderten Kontingentflüchtlingen die Zahl aber zwischen 30 und 50 Prozent liegt - dann ist das schon ein signifikanter Unterschied. Altersarmut macht nicht halt an Religionsgrenzen. Das ist ein russischer Rundfunk, 97,2, FM, ja…"

Ein bisschen Heimat hat sich Leonid Berezin bewahrt, hier in seiner Einzimmerwohnung in Berlin-Charlottenburg: Er hört russisches Radio, liest russische Bücher und hat in seiner Schrankwand russische Kristallgläser stehen. Der kleine Mann mit grauen Haaren, Silberbrille und blau gestreiftem Poloshirt ist 87 Jahre alt. Früher, in der Sowjetunion, war er ein angesehener Forschungsprofessor, ein Spezialist für Funktechnik: "Wohnung gehabt, ein Auto gehabt, viele Leute mir bekannt und wissen mich und sagen: Komm zu uns, komm zu uns, mach das, mach das! Erzähl uns das! Ich bin sehr… in einem Kreis populär war. Und die Leute gucken und sagen: Oh!"
Heute lebt der Top-Wissenschaftler von der "Grundsicherung im Alter" – das entspricht dem Regelsatz von Hartz IV. Der Rentner zieht einen Brief aus einer Schublade seiner Schrankwand. "Wir gucken: Letzter Bescheid vom Bezirksamt. Und gleich können wir zusammen sehen: Die gnädige Frau schreibt mir: Ich bekomme 622 Euro. Man muss Miete zahlen und noch Transport, Telefon, Fernsehen – alles von dieser Hilfe. Was bleibt? Fast…. fast gar nichts!"
"Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin: Sehr geehrter Herr Berezin, ich habe die Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des zwölften Buches Sozialgesetzbuch (in Klammern SGB Römisch zwölf) wie folgt neu festgesetzt: Grundmiete 312 Euro, Nebenkosten 148 Euro, Heizkosten 135 Euro, Grundsicherungsbedarf: 404 Euro."

Gerettet aus Leningrad, aber dann wieder zurück in die belagerte Stadt

Leonid Berezin ist jüdischer Kontingentflüchtling. Er hat im Zweiten Weltkrieg die Blockade Leningrads durch die Deutschen überlebt und den Holocaust. 1941, als die Wehrmacht auf die russische Millionen-Metropole zumarschierte, wurde er mit einem Kindertransport evakuiert. Doch der Zug wurde von deutschen Bombern angegriffen: "Kaputt, ja alles! Die Kinder- fast alle tot! Blut! Angst! Und unsere Kinderleiterin! Gesammelt ungefähr 15 Kinder. Dazu noch meine Cousine, ein Jahr jünger und eine andere Cousine, drei Jahre alt. Sie konnte nicht laufen, ich musste sie tragen. Ich war zwölf Jahre alt und bin drei Tage zu Fuß zurück nach Leningrad gegangen."
Die deutsche Armee belagerte schließlich die alte Zarenstadt, um die Bewohner auszuhungern – mehr als zwei Jahre lang. 900.000 Menschen starben elendig.
"Wir hatten nichts zum Essen. Alles schon aufgegessen: die Katzen, die Meisen, Gürtel, Kleister. Die Leute fallen ohne Kraft um."
Im Februar 1942 konnte der damals 13-jährige Leonid mit einem Teil der Familie bei minus 30 Grad über den zugefrorenen Ladogasee nach Sibirien entkommen. Sein Vater, sein Bruder und sein Onkel starben hingegen in Leningrad. Andere Verwandte wurden in Weißrussland Opfer der deutschen Judenvernichtung.

Die Volkskammer entschuldigt sich, aber die Bundesrepublik zahlt nicht

"Wir, die ersten frei gewählten Parlamentarier der DDR, erklären einmütig vor der Weltöffentlichkeit: Durch Deutsche ist während des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden…"

45 Jahre nach Ende des Krieges, im April 1990, entschuldigt sich die Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl für das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Die Nachwende-DDR erklärt sich bereit, Verantwortung für die NS-Verbrechen zu übernehmen. 40 Jahre lang hatte sich Ost-Berlin davor gescheut.

"Wir erklären, alles uns Mögliche zur Heilung der seelischen und körperlichen Leiden der Überlebenden beitragen zu wollen und für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste einzutreten."

Dann verkündet die Parlaments-Chefin einen folgenreichen Beschluss:

"Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren."
Anfang 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, bestätigt die Bundesrepublik die Einladung an verfolgte Juden – genauer: an Juden aus den Sowjetrepubliken. Rund 230.000 jüdische Russen, Weißrussen, Ukrainer und Balten sowie ihre Angehörigen sind der Einladung seitdem gefolgt. Leonid Berezin kam 1992 aus Sankt Petersburg nach Berlin. Der Wissenschaftler hatte damals seine Arbeit in einem Militär-Institut verloren. Nun wollte der 63-Jährige zu seinem Sohn, der bereits nach Berlin gezogen war. Der Rentner und seine Frau erhielten 49 Quadratmeter in einem Wohnheim.
"Nun gut, wir haben gesagt: Einige Zeit wir können in Einzimmerwohnung auch ganz gut leben. Und diese Zeit dauert 24 Jahre. Ich bin da in diesem Haus!"

Überlebende der Leningrader Blockade - bedroht von Altersarmut

Für eine größere Wohnung hat es nie gereicht, und Berezin musste improvisieren. So stehen in seiner Mini-Küche heute Campingstühle, die bei Bedarf zusammengeklappt werden. Im Jahr 2000 starb seine Frau, doch der Witwer verfiel nicht in Apathie. Er suchte Kontakt zum russischen Club "Dialog" in Berlin und gründete dort die Initiative "Überlebende der Leningrader Blockade". Mit anderen Betroffenen kämpft er gegen die Altersarmut seiner jüdischen Landsleute. Souverän tippt der 87-Jährige seine zahlreichen Beschwerden am Computer:
"Berlin, 5. Juli 2016. An: Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Sehr geehrte Frau Ministerin Nahles. Wir, die jüdischen Zuwanderer, die den Holocaust überlebt haben, wenden uns hilfesuchend an Sie. Seit dem Erreichen der Regel-Arbeitsgrenze leben wir am Existenzminimum."
Hinzu kommt, dass jüdische Kontingentflüchtlinge im Vergleich zu den Spätaussiedlern benachteiligt werden. Während den deutschstämmigen Zuwanderern bei der Rentenberechnung ihre Erwerbsjahre in der ehemaligen Sowjetunion angerechnet werden, zählt die frühere Berufszeit bei den zugewanderten russischsprachigen Juden hingegen nicht - so landen sie oft in der Grundsicherung. Warum diese Ungleichbehandlung, will Leonid Berezin von der SPD-Ministerin wissen. Andrea Nahles antwortet:
"Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Sehr geehrter Herr Dr. Berezin. Bei den ehemaligen sowjetischen Staatsangehörigen mit jüdischer Herkunft handelt es sich weder um Vertriebene noch um Spätaussiedler. Für eine Einbeziehung jüdischer Zuwanderer in das Fremdrentengesetz besteht daher kein Anknüpfungspunkt. Eine Änderung der Gesetzeslage vermag ich vor diesem Hintergrund nicht in Aussicht zu stellen. Mit freundlichen Grüßen … im Auftrag … Regierungssekretärin."
"Ich habe eine interessante Geschichte. Ich habe einen Teller."
Yevgeniya Usoskina steht in ihrer Küche in Berlin-Neukölln, in der Hand einen Frühstücksteller mit gelben und grünen Blumen. Die 80-Jährige, die aus der Ukraine stammt, hat das zerbrechliche Porzellan von ihrem Vater geschenkt bekommen. Dieser hatte einst als Rotarmist Berlin mit erobert. Bei seiner Rückkehr in die Sowjetunion brachte er den Teller als Souvenir mit: "Und ich war bei ihm zu Besuch, sehr oft. Und der Teller hat mir sehr gefallen. Und er hat gesagt: Wenn Du willst, kannst Du ihn nehmen. Ich hab ihn genommen und zurück nach Deutschland gebracht. 'Kriegsbeute', habe ich gesagt: "Sie ist schon fast hundert Jahre alt."

Kriegsbeute mit Symbolkraft

Die Tochter eines stolzen Sowjetsoldaten, der dazu beigetragen hat, Deutschland von den Nazis zu befreien, lebt hierzulande in Armut: Die Jüdin muss mit der Grundsicherung auskommen - ähnlich wie der Petersburger Leonid Berezin: "Nun, ich spare selbstverständlich, weil ich esse zu Hause – nicht in Gaststätte. Zum Frühstück esse ich Haferflockenbrei, jeden Tag. Und trinke Tee, Kräutertee. Dann esse ich kleine Stulle von schwarzem Brot mit Käse. Dann koche ich irgendwelche Suppe zum Mittagessen. Und so weiter. Jetzt ist schwer zu sparen, weil ich bin nicht gesund, leider. Und viele Leistungen bei Ärzte sind nicht kostenlos. Zum Beispiel Brille muss man selber bezahlen. Hautproblem – fast alle Salben muss man selber bezahlen. Wir müssen auskommen mit diesem Geld."
Yevgeniya Usoskina – sie trägt kurze schwarze Haare und knallroten Lippenstift – hat zu Sowjetzeiten Physiologie studiert und anschließend ein Spezial-Labor in Lemberg geleitet. Allerdings wurde sie wegen ihrer Herkunft jahrzehntelang benachteiligt: "Ich habe Labor für Aids gemacht, aber ich war nicht Oberst von diesem Labor, weil ich war Jude. Sie haben eine ukrainische Ärztin ausgesucht, die keine Ahnung von Aids hatte, und sie war Leiterin. In Wirklichkeit ich habe regiert. Aber formal sie war Leiterin."
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR nahm in der Ukraine der Antisemitismus zu und auch der Nationalismus. Zudem gab es kaum noch geeignete Nahrungsmittel für die Diabetikerin zu kaufen. So emigrierte die Jüdin 1994 nach Deutschland. Damals war sie Ende 50 und hatte eigentlich nicht vor, sich zur Ruhe zu setzen: "Ich habe geglaubt, dass mein seltener Beruf – Aids – dass ich irgendeinen Job finde. Leider nicht. Das war ein unangenehmes Gefühl, aber ich habe Verständnis dafür. Das ist hier ein anderes Land, sie haben ihre eigenen Leute, jüngere Leute. Hätten sie mich gebraucht, vielleicht hätten sie mir ein Angebot gemacht."

Keine Härtefall-Regelung für die Entkommenen

Statt beruflich aufzusteigen, wurde die Expertin zum Sozialfall. In Berlin hat Yevgeniya Usoskina plötzlich viel Zeit. So beginnt sie, mehr Gerechtigkeit einzufordern. Dabei legt sie sich sogar mit der Jewish Claims Conference an - einer jüdischen Organisation, die sich weltweit um Entschädigungszahlungen kümmert. Dort beantragt sie 1995, kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland, eine Härtefallhilfe für NS-Opfer. Doch sie wird mehrfach abgewiesen; die Claims Conference begründet das so: "Zur Zeit des 2. Weltkrieges waren Sie nicht in einem von den Deutschen besetzten Gebiet, so dass Sie nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen nicht unterworfen sein konnten."
Der Hintergrund: Die Ukrainerin stammt ursprünglich zwar aus St. Petersburg, dem früheren Leningrad, konnte aber als Kind rechtzeitig vor der deutschen Belagerung fliehen und somit auch vor der deutschen Judenvernichtung: "Wäre St. Peterburg besetzt, wir wären alle tot als Juden."

Weil sie diesem Schicksal entkommen konnte, soll sie nicht von der Nazi-Verfolgung betroffen gewesen sein? Gegen diese Einschätzung legt Yevgeniya Usoskina Widerspruch ein – der wird erneut abgelehnt. Aktuelle Richtlinien der Bundesrepublik verhinderten eine Härtefall-Zahlung, erklärt die Claims Conference: "Wir bedauern, Ihnen keinen für Sie günstigeren Bescheid geben zu können und bitten Sie, von weiteren Eingaben abzusehen."

Eine Entschädigung wird von der anderen abgezogen

Dennoch verfasst die Jüdin eine weitere Eingabe. Sie betrachte die Abweisung ihres Antrags als äußerst herzlos, antwortet sie verbittert. Erst 17 Jahre später, im September 2012, spricht die Claims Conference der Shoah-Überlebenden eine Härtefall-Zahlung zu. Neue Richtlinien der Bundesregierung ermöglichten dies, so der jüdische Entschädigungsverband. Allerdings hat die Migrantin in der Zwischenzeit - von einer anderen Opfer-Organisation - 1000 Euro erhalten. Diese Summe zieht die Claims Conference ihr nun ab.
"Da Doppelentschädigungen für die erlittene Verfolgung nach den geltenden Richtlinien der deutschen Regierung verboten sind, ist es uns leider nur möglich, Ihnen den Differenzbetrag… zukommen zu lassen."
Yevgenia Usoskina wird eine Einmalzahlung gewährt - statt der üblichen 2.500 erhält sie jedoch nur 1500 Euro.

"Hierfür bitten wir um Ihr Verständnis."
Aus einer gelben Plastiktüte zieht die 80-Jährige sämtliche Belege und Kopien: Behördenschreiben, Eingaben, Kontoauszüge. Von den Härtefall-Zahlungen hat sie 2000 Euro auf einem Sparbuch angelegt. Das Geld will sie trotz ihrer klammen Haushaltskasse nicht anrühren.

"Wenn ich sterbe, ist das Geld… werde brauchen. Vielleicht für meine Beerdigung."

Doch selbst dieses Sterbegeld gerät in die Behördenmühlen: Das Bezirksamt Berlin-Neukölln fragt kritisch nach ihrem "Vermögen". Denn ein Grundsicherungsempfänger darf maximal 2600 Euro besitzen. Die zuständige Sachbearbeiterin weist darauf hin, dass das Geld nicht gewinnbringend angelegt werden darf.

"Und sie hat das Recht, mir die Zinsen wegzunehmen - weil: Das ist Vermögen."

Kritik über Ungleichbehandlung

Berlin-Mitte. In einer ehemaligen Altbauwohnung mit verwinkelten Fluren und hohen Decken hat die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ihren Sitz. Hier kümmern sich Günter Jek und seine Mitarbeiterin Tatjana Koroll um die Sozialbelange jüdischer Menschen. Vor allem um die Notlage russischsprachiger Zuwanderer.

"Wenn wir sehen, dass von der deutschen Wohnbevölkerung 2,4 Prozent Grundsicherung im Alter beziehen – bei den zugewanderten Kontingentflüchtlingen die Zahl aber zwischen 30 und 50 Prozent liegt, dann ist das schon ein signifikanter Unterschied." Der Büroleiter räumt ein, dass andere Sozial-Experten die Altersarmut der jüdischen Migranten nicht nur auf 30 bis 50, sondern sogar auf 70 Prozent schätzen. Genaue Erhebungen gebe es nicht. Tatjana Koroll, die aus der Ukraine stammt, weiß aus eigener Erfahrung, mit welchen Träumen die Juden aus den Sowjet- bzw. GUS-Staaten hier ankamen: "Sie hatten ein Bild: Deutschland ist ein Land von Dichter und Denker. Das ist ein Land mit einem hohen kulturellen Niveau. Und das ist ein Land mit einer hohen ökonomischen positiven Lage. Und alles wird verbessert."
Doch die Landung in Deutschland ist häufig hart gewesen. Zum einen sprachen die Neuankömmlinge kaum Deutsch. Zum anderen wurden die Berufsabschlüsse zumeist nicht anerkannt. So mussten Ärzte als Pfleger arbeiten und Ingenieure als Schlosser. Erst 2012 ist die Berufsanerkennung erleichtert worden – für die Älteren, die schon in den 90er Jahren kamen, war das zu spät. So sind viele Kontingentflüchtlinge erst arbeitslos geworden und dann, als Rentner, in der Grundsicherung gelandet: "Das hat auch bei vielen zu psychosomatischen Erkrankungen geführt: Plötzlich stehe ich da, von niemandem gebraucht, und das ist wirklich ein Problem. Die Leute sind ja nicht Opfer ihrer Zuwanderung geworden, die sind Opfer des deutschen Sozialsystems geworden. Und Altersarmut macht nicht halt an Religionsgrenzen. Sondern das hat etwas mit Einkommen, mit Chancengleichheit und Teilhabe zu tun."
Der Sozialverband kritisiert auch die Ungleichbehandlung von Spätaussiedlern und jüdischen Kontingentflüchtlingen. Für Günter Jek hat es einen bitteren Beigeschmack, dass jüdische Zuwanderer ausgerechnet aus ethnischen Gründen benachteiligt werden. "Das Fremdrentengesetz geht von einer besonderen Volkszugehörigkeit zu Deutschland aus, dieser Begriff des Völkischen zieht sich da halt leider durch dieses Gesetz so durch."

Der Experte weiß: Zugewanderte Juden fühlen sich nicht nur gegenüber den Spätaussiedlern ungerecht behandelt. Sondern auch gegenüber anderen Juden, die sehr früh – bis Anfang 1991 - nach Deutschland kamen. Diese Gruppe erhält heute eine richtige Entschädigungs-rente anstelle der Grundsicherung. Alle, die später kamen, hätten Pech gehabt – sagt Günter Jek.

"Wenn Deutschland etwas wiedergutmachen möchte und Fehler der Vergangenheit korrigieren, dann sollte man das auch mit einem etwas offeneren Portemonnaie machen."

Armut vor allem in der älteren Generation

Warum haben die Kontingentflüchtlinge, die ausdrücklich nach Deutschland eingeladen wurden, keine politische Lobby? Die Wohlfahrtstelle des Zentralrats der Juden erklärt dies mit der relativ geringen Zahl: Bei einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen fallen 230.000 Juden nicht ins Gewicht. Zudem wanderten in den letzten Jahren immer weniger russischsprachige Juden ein. Vor allem aber: Den Kindern und Enkeln der Einwanderer geht es besser; viele von ihnen studieren und machen Karriere. Die über 60-Jährigen, die fast die Hälfte der jüdischen Gemeinden stellen, führten hingegen einen jahrelangen Kampf um Almosen: "Dieser Papierkram! Diese Schreiben hin- und her! Das ist wirklich sehr schwierig!"
Leonid Berezin, der vor 75 Jahren bei der Leningrader Blockade fast verhungerte, telefoniert, mailt und faxt Tag für Tag mit den Behörden. Auch weil von seinen 404 Euro Grundsicherung noch Geld abgezogen wird. Warum? Der Rentner besitzt – neben dem deutschen - noch einen russischen Pass. Deswegen erhielt er monatlich rund dreihundert Euro Rente aus Russland. Bis sich sein Bezirksamt meldete.
"Sie haben gesagt: Oh, Sie haben so viele Jahre nicht gesagt uns! Und deswegen Du bist Schuld! 12.000 Euro zurückzahlen! Ich habe nicht dieses Geld. Nun gut, dann haben sie geschrieben: Jeden Monat ein Drittel von deiner Hilfe wird abgezogen!"

Zusätzlich zieht das Amt auch die laufende russische Pensions-Zahlung von der Grundsicherung ab. Verrechnet wird sogar eine russische Mini-Rente für Leningrader Blockade-Überlebende: umgerechnet neun Euro pro Monat. Leonid Berezin stritt lange Zeit mit dem Berliner Senat, dass ihm – und allen anderen ehemaligen "Blockadniki" - diese Entschädigungs-Rente nicht verloren geht. Am Ende ging der 87-Jährige als Sieger aus dem Papierkrieg hervor:

"Und endlich ein Brief, und in diesem Brief steht klar: Alles, was ist Entschädigung, muss bleiben bei diese Leute. Nicht abziehen! Es muss bleiben."
Dies gilt nun zumindest für Betroffene im Land Berlin. Im Juli 2011 weist die Senatsverwaltung für Soziales die Bezirksämter an, die russischen Ehrenrenten nicht mehr anzutasten:
"In der Vergangenheit widerrechtlich auf die Sozialhilfe angerechnete Beträge sind zeitnah zu erstatten. Entsprechendes gilt für vergleichbare andere Kriegsinvalidenrenten, Blockaderenten, Entschädigungen für nationalsozialistisches Unrecht."

Betteln um Belege

Der 87-Jährige sieht dennoch keinen Grund, sich zurückzulehnen: Seine Initiative von Blockade-Überlebenden muss sich nämlich nicht nur mit deutschen Behörden anlegen, sondern auch mit russischen, denn die Berliner Bezirksämter tasten die Blockade-Renten nur dann nicht an, wenn russische Behörden sämtliche Zuwendungen genau aufschlüsseln. Meistens bekommen die Kriegs- und Holocaustüberlebenden jedoch nur einen Gesamtbetrag überwiesen, der nicht zwischen normaler und Entschädigungs-Rente differenziert. Die Kontingentflüchtlinge müssen also ständig Belege aus Russland erbetteln. Hinzu kommt, dass die russische Rentenkasse regelmäßig eine Lebensbescheinigung verlangt: Jedes Jahr müssen die Senioren bei der russischen Botschaft in Berlin vorstellig werden um nachzuweisen, dass sie noch nicht gestorben sind.

"Das ist nicht so gut, moralisch nicht so gut."
Würde Leonid Berezin nicht von einer jüdischen Stiftung monatlich 128 Euro Zuschuss erhalten, wüsste er nicht weiter. Dennoch lässt der alte Herr nicht den Kopf hängen: "Will man weiter auf dieser Welt bleiben, muss man immer ein bisschen lächeln, immer ein bisschen gute Laune haben und etwas für andere Leute tun, helfen, wo es möglich ist. Und dann geht das Leben weiter."

"Ich bin Deutschland dankbar"

"Ja, das ist von Verdi, die Musik, das ist von Aida." Auch Yevgeniya Usoskina aus der Ukraine versinkt nicht in Gram angesichts ihrer sozialen Lage: "Fühlen Sie sich bequem, möchten Sie eine Tasse Kaffee?"

Die 80-Jährige, die auf jeden Cent achten muss, hat für Gäste immer Edelschokolade und Kekse parat. Mit typisch russischer Gastfreundschaft wartet sie mit Leckereien auf, die sie selbst - als Diabetikerin - gar nicht essen darf. Die Aids-Spezialistin kennt keine Verbitterung angesichts der Almosen, die sie hierzulande für ihre Lebensleistung erhält.

"Ich bin Deutschland dankbar, dass ich überhaupt aufgenommen wurde. Und ich kann hier überleben. Die Probleme, die meine Freunde haben, die sind dort geblieben, habe ich hier nicht, diese Angst. In der Ukraine ist Bürgerkrieg. Ungerechtigkeit. Mir gefällt die deutsche Demokratie. Ich mag die deutsche Kultur, ich interessiere mich für bildende Kunst, für die vielen Museen. Ich genieße das Leben in Berlin, dieses Kulturleben."

Trotz Altersarmut, trotz Krankheit, trotz Kriegs- und Migrationsschicksal: Die Berliner Jüdin will sich ihren Lebensmut nicht nehmen lassen, niemals: "An Depression leiden nicht nur jüdische Leute, die deutschen auch. Sie sind gut situiert, trotzdem haben sie Depressionen. Nein, ich leide nicht an Depressionen. Nicht in schlechten, nicht in guten Zeiten. Gott sei dank."
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