Juden als Feindbild

Die Geschichte des Mythos der Weltverschwörung

29:16 Minuten
Leo Trotzki bei einer Ansprache vor Soldaten um 1921
Leo Trotzki entstammte einer jüdischen Familie – er hatte einmal auf die Frage, ob er Jude oder Russe sei, geantwortet: "Sie irren sich. Ich bin Sozialist und nur das." © picture alliance/IMAGNO
Von Winfried Roth · 21.11.2018
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Die „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ ist einer der stärksten Mythen des 20. Jahrhunderts – bis heute. Die Nationalsozialisten propagierten ihn und ähnliche Ideen verbreitete auch die stalinistische Sowjetunion. Wie sah die Wirklichkeit aus?
Zitator: "Im russischen Bolschewismus haben wir den im zwanzigsten Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen".'
Adolf Hitler, "Mein Kampf". Revolutionen in Russland, Deutschland, Ungarn: Ausdruck jüdischen Machtstrebens. Das war die Propaganda von rechts. Zu ihr gesellten sich bald auch ähnliche Thesen von links, in der Sowjetunion und anderen "realsozialistischen" Staaten. Die Geheimdienste entlarvten dort, wie es hieß, "zionistische Verschwörungen". Prof. Wolfgang Wippermann von der Freien Universität Berlin ist Experte für Verschwörungstheorien:
"Dann wird die Ideologie von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung weltweit übernommen und weiter ausgesponnen – bis heute. Und heute vor allem in den islamischen Ländern."
Zitator: "Russisches Volk, erwache! Nimm den Prügel in die Hand und mache Jagd auf die Juden-Kanaille, die Russland zugrunde richtet. In Deutschland, in Polen, in Kiew wird dieses Pack gehetzt und vertrieben. Ihr allein fahrt in eurer Dummheit fort, den Befehlen von Trozkij und Co. zu gehorchen."
So hieß es in einem Aufruf "weißer" – gegenrevolutionärer – Truppen nach dem "Roten Oktober" von 1917 in Russland. In der "weißen" Presse tauchte der Mythos von einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung zum ersten Mal auf.
Wladimir Iljitsch Lenin auf einem Podest, er spricht a, 5. Mai 1920 auf dem Swerdlow-Platz (ehem. Theaterplatz) in Moskau zu Soldaten der Roten Armee vor deren Abmarsch an die Front im Russisch-Polnischen Krieg; rechts auf den Stufen der Tribüne stehend: Leo Trotzkij (vorn) und Lew Kamenew (digital koloriert)
Lenin auf dem Rednerpult und Trotzki daneben – nach Oktoberrevolution der Bolschewiki hoben manche die jüdische Herkunft zahlreicher Revolutionäre hervor.© picture alliance/akg-images/Grigori Petrowitsch Goldstein
Die demokratische Februarrevolution hatte 1917 die Zarenherrschaft beendet. Einem chaotischen halben Jahr liberaler Demokratie folgte die Oktoberrevolution der Bolschewiki – der radikalen Linken um Lenin und Trozki. Wirklich gesiegt hatten sie erst nach einem grausamen fast dreijährigen Bürgerkrieg. Manche "Weiße" hoben "nur" die jüdische Herkunft zahlreicher Revolutionäre hervor. Andere griffen die gesamte jüdische Minderheit in Russland als "fünfte Kolonne des Bolschewismus" an. Neben jahrhundertealte Feindbilder wie "Christusmörder" und "gierige Wucherer" trat ein neues: der kaltschnäuzige "rote Kommissar" mit Lederjacke und zwei Revolvern am Gürtel.
I. Juden als Feinde: die Vorgeschichte des Verschwörungsmythos
Wolfgang Wippermann: "Es ist eine Waffe, nicht nur ein Mythos. Solche Begriffe sind Waffen und sie werden auch angewandt."
Von jüdischen Verbrechen war im christlichen Europa schon im Mittelalter häufig die Rede.
"Dann gibt es Verschwörungstheorien über die Verbreitung der Pest. Dafür wurden Juden verantwortlich gemacht, "weil sie Brunnen vergiftet haben". Dann werden – neben den Freimaurern – Juden verantwortlich gemacht für die Französische Revolution."
Im 19. Jahrhundert stellten in verschiedenen Ländern die Gegner von Demokratisierung, Säkularisierung und Modernisierung die Behauptung auf, hinter dem aufkommenden Liberalismus und Sozialismus steckten Juden. Das Buch zum Thema erschien 1903 in Russland: die "Protokolle der Weisen von Zion" – sie sollten eine internationale Verschwörung von Demokraten, Sozialisten und Juden dokumentarisch beweisen. Möglicherweise war an dieser Fälschung der Geheimdienst des Zaren beteiligt. Der Historiker Wolfgang Wippermann:
"Die Verschwörungstheorie über die Weisen von Zion ist zur zentralen Ideologie des weltweiten Antisemitismus gemacht worden. Die Deutschen haben das aus Russland importiert."
In Russland lebten zu Anfang des 20. Jahrhunderts mehr Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft als in irgendeinem anderen Land.
"In Westeuropa versuchten sich die Juden in ihrer Mehrzahl an die bürgerliche Gesellschaft zu assimilieren und versuchten, die Aufstiegschancen, die ihnen besonders nach der Französischen Revolution geboten wurden, zu nutzen, sie errangen Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft und glichen sich der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung weitestgehend an. In Osteuropa war die Situation gänzlich anders."
Prof. Mario Keßler von der Universität Potsdam ist Experte für die Geschichte des Antisemitismus in Russland.

Juden galten als "Christusmörder"

Die fünf Millionen Jüdinnen und Juden zwischen Wilna, Lemberg und Odessa waren nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern auch eine ethnische Minderheit mit einer eigenen Sprache – dem Jiddischen – und einer eigenständigen Kultur. Unter Industriellen oder Bankiers, unter Ärzten oder Rechtsanwälten waren sie stark vertreten, die große Mehrheit gehörte aber zur Mittel- oder Unterschicht.
Russland – damals der despotischste Staat Europas – war auch ein weitläufiges "Völkergefängnis". Bei seinem Aufstieg zur Großmacht hatte das Zarenreich gewaltige Gebiete mit nichtrussischer Bevölkerung unterworfen, von der Ostsee bis zum Pazifik, von der Arktis bis zum Kaukasus. Rechtlosigkeit und Unterdrückung trafen die Minderheiten noch härter als die russischen Untertanen.
Mario Keßler: "Es gab einen besonders durch den Klerus der orthodoxen Kirche verbreiteten Judenhass."
Sie galten als "Christusmörder". Im 19. Jahrhundert schürte ein neuer Antisemitismus Abwehrreflexe gegen Juden – ähnlich wie in Westeuropa. Er machte Juden für die schmutzigen Seiten des aufkommenden Kapitalismus verantwortlich. Anders als ihre christlichen Konkurrenten seien jüdische Unternehmer "Ausbeuter und Betrüger". Die zaristischen Eliten versuchten so, die Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung in eine ungefährliche Richtung zu lenken.
Dieses Feindbild wurde bald auch nationalistisch aufgeladen. Die sogenannten Schwarzen Hundertschaften kamen auf – reaktionäre antisemitische Massenbewegungen. Juden galten als "vaterlandslose Verräter", nicht zuletzt unter Berufung auf die "Protokolle der Weisen von Zion". An diese Ideen schloss der seit den Revolutionen 1917/18 verbreitete Mythos "jüdisch-bolschewistische Verschwörung" an.
Während die Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg siegten, scheiterten linke Revolutionen in anderen Ländern. Aber die Kommunistische Internationale blieb überaus aktiv. Gleichzeitig erstarkten extrem rechte Bewegungen. Zu einer ihrer wichtigsten Propagandawaffen wurde der von den russischen "Weißen" übernommene Verschwörungsmythos. Adolf Hitler und der NS-Theoretiker Alfred Rosenberg bemächtigten sich dieses Mythos.
Wolfgang Wippermann: "Die Ideologie von der jüdischen Weltverschwörung ist die Rechtfertigung für den Vernichtungskrieg gegen die Juden, aber auch gegen die Kommunisten. Der Krieg gegen die Sowjetunion ist ja ein beispielloser Vernichtungskrieg gewesen."
II. Juden in der Arbeiterbewegung
In der internationalen sozialistischen Bewegung gab es nicht wenige Akteure mit jüdischem Hintergrund – angefangen mit Karl Marx und Ferdinand Lassalle.
Historischer O-Ton Leo Trotzki: "An die Rote Armee" (russisch)
Der russische Verteidigungsminister Lew Trotzki, der hier 1920 zu Soldaten spricht, entstammte einer jüdischen Familie.
Mario Keßler: "Es gab in der Führung der Bolschewiki in auffälligem Maß Juden."
Sagt der Historiker Mario Keßler. Jakow Swerdlow, der erste Staatspräsident der russischen Sowjetrepublik, entstammte einer jüdischen Familie, ebenso Politbüromitglied Grigorij Sinowjew, der auch Vorsitzender der Kommunistischen Internationale war. Der einflussreiche Politiker Lew Kamenew hatte einen jüdischen Vater.
In der deutschen Novemberrevolution 1918/19 und dann in der KPD der zwanziger Jahre stammten prominente Akteure aus jüdischen Familien: Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Paul Levi, Ruth Fischer. Unter den Politikern der kurzlebigen bayerischen Räterepublik von 1919 Gustav Landauer und Eugen Leviné, im ungarischen Rätestaat desselben Jahres Béla Kun und Jenö Landler. In der Führung der Kommunistischen Internationale Osip Pjatnizkij und Karl Radek.
Josef Stalin mit Maxim Gorkij, Lasar Kaganowitsch und Kliment Woroschilow 1931 auf der Tribune des Leninmausoleums.
Josef Stalin mit Maxim Gorkij, Lasar Kaganowitsch und Kliment Woroschilow 1931 auf der Tribune des Leninmausoleums.© picture alliance/akg-images
Mario Keßler: "Einige der schlimmsten Stalinisten waren jüdischer Herkunft. Sie waren nicht besser und nicht schlechter als die anderen."
Historischer O-Ton Lasar Kaganowitsch aus seiner Rede vom 30. 7. 1935 (russisch)
Lasar Kaganowitsch – zeitweilig Stalins Stellvertreter – bei einer Kundgebung 1935. Außer ihm fanden sich unter den "höchsten Repräsentanten von Partei und Staat" in der Sowjetunion der dreißiger und vierziger Jahre etwa Genrich Jagoda – der Geheimdienstchef zu Beginn des "Großen Terrors", der Militärpolitiker Lew Mechlis und der langjährige Außenminister Maksim Litwinow.
Als die Sowjetunion in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg halb Europa unter ihre Kontrolle brachte, gehörten zur politischen Führung in Polen Jakub Berman und Hilary Minc, in der Tschechoslowakei Rudolf Slánský und in Ungarn Mátyás Rákosi und Ernö Gerö.
III. Revolutionäre "mit jüdischem Hintergrund"
Beispiel Russland: Bemerkenswert viele russische Revolutionäre stammten aus jüdischen Familien. Warum?
Mario Keßler: "Der Alphabetisierungsgrad unter Juden war deutlich höher als im Zarenreich allgemein."
Für Zeitungen oder Flugblätter der Opposition waren sie daher leichter erreichbar. Außerdem ging die Revolution von den Großstädten aus, wo die jüdische Bevölkerung einen erheblich größeren Anteil ausmachte als auf dem Land. Vor allem aber gehörten Juden zu den am stärksten diskriminierten Minderheiten in Russland.
Mario Keßler: "Die antisemitische Gesetzgebung des Zarenreiches war dafür verantwortlich, dass Juden nur in sehr begrenztem Maß studieren durften, eine Anzahl von Berufen nicht ergreifen konnten."
Im größten Teil des Landes durften sie sich nicht aufhalten. Jiddische Schulen waren verboten. In den unruhigen letzten Jahrzehnten der Zarenherrschaft kam es zu Pogromen mit tausenden von Toten.
Mario Keßler: "Sie reagierten in verschiedener Weise. Zum einen war es der Versuch der Auswanderung. Zum zweiten war es die Teilhabe an der revolutionären Bewegung, weil sie dort akzeptiert wurden und nicht als Juden stigmatisiert."
Nicht nur bei den Bolschewiki, auch in anderen Oppositionsparteien konnten sie eine wichtige Rolle spielen – bei den Liberalen ebenso wie bei den gemäßigten Sozialisten. Das spielt jedoch beim Mythos von der jüdisch-bolschewistischen Verschwörung keine Rolle. Stattdessen drehen sich die Verschwörungsnarrative nur um diejenigen Politiker und Militärs mit jüdischem Hintergrund, die in Lenins Oktoberrevolution aktiv waren.
Für die jüdische Bevölkerung in Russland änderte sich die Situation durch die demokratische Februarrevolution, allerdings blieb die Lage für sie bedrohlich, so der Potsdamer Historiker Mario Keßler:
"Es gab keine antijüdischen Gesetze mehr, aber die Träger des Antisemitismus wurden nicht entmachtet, die antisemitischen Organisationen durften weiter wirken."
Da die neue Regierung um den Sozialisten Aleksandr Kerenskij den Krieg nicht beendete und die versprochenen sozialen Reformen aufschob, verlor sie ihren Rückhalt in der Bevölkerung, sodass im Oktober 1917 die Bolschewiki die Macht an sich reißen konnten.

Die meisten russischen Juden lehnten die Bolschewiki ab

Was folgte, war die Radikalisierung bei den "Roten" und ihren Gegnern, den "Weißen", durch den Bürgerkrieg. "Weiße" Journalisten stellten die Oktoberrevolution als jüdische Verschwörung dar. In Wirklichkeit lehnten die meisten russischen Juden die Bolschewiki ab – viele waren religiös, viele fürchteten um ihren wirtschaftlichen Status als Selbstständige, viele fanden einfach andere Parteien sympathischer. Aber die "weiße" Propaganda hatte grausame Folgen für sie:
Mario Keßler: "Das größte organisierte Massaker an Juden vor Auschwitz, dem etwa 120- bis 150.000 Juden zum Opfer fielen, waren die Pogrome der weißen Armeen im Bürgerkrieg. Viele Juden, die ursprünglich nichts mit den Bolschewiki gemeinsam hatten, sahen, dass im Bürgerkrieg die Rote Armee bereit ist, das Leben der Juden zu schützen."
Waren die Juden im Machtbereich der Bolschewiki besser geschützt?
Mario Keßler: "Es gab auch einzelne Pogrome der Roten Armee – etwa fünf Prozent aller Pogrome."
1919 hält Lenin eine Rede zu einem Beschluss der Revolutionsregierung, der sich gegen die Pogrome der Bürgerkriegsgegner gegen die Juden wendet:
Historischer O-Ton Wladimir Iljitsch Lenin: Rede "Über Pogromhetze" (russisch)
Übersetzer: "Die Konterrevolutionäre führen in vielen Städten eine pogromistische Agitation, in deren Folge es zu Ausschreitungen gegen die werktätige jüdische Bevölkerung gekommen ist. Die bürgerliche Konterrevolution greift die Waffe auf, die den Händen des Zaren entglitten ist. Die jüdischen Bourgeois sind nicht als Juden, sondern als Bourgeois unsere Feinde, der jüdische Arbeiter ist unser Bruder. Jede Hetze gegen irgendeine Nationalität ist unzulässig und schändlich. Der Rat der Volkskommissare weist alle Sowjets an, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um die antisemitische Bewegung mit der Wurzel auszurotten. Pogromisten und Pogromagitatoren sind außerhalb des Gesetzes zu stellen."
Pogromagitatoren stellen sich außerhalb des Gesetzes: mit diesem Satz rechtfertigte Lenin selbst terroristisches Vorgehen. Die Errichtung der bolschewistischen Diktatur geht zunächst einher mit einem Kampf gegen Diskriminierung.
Immerhin: Nach dem Sieg der "Roten" im Bürgerkrieg erlosch zumindest der organisierte Antisemitismus in Russland. Facharbeitern, Technikern oder Wissenschaftlern jüdischer Herkunft boten sich ungeahnte Aufstiegschancen. Auch die jiddische Kultur blühte für einige Jahre auf.
IV. Das revolutionäre Russland und die "nichtjüdischen Juden"
Zitator: "Niemals fand ich irgendetwas in mir, das mich mit dem Judentum, seinen religiösen Überlieferungen oder seinen nationalen Idealen verbunden hätte ..."
... erklärte der Schriftsteller Lew Kopelew, geboren 1912 in Kiew, in seiner Autobiografie.
"Sie sind zu Juden gemacht worden. Ich kämpfe dagegen an, ihnen ein jüdisches Selbstverständnis zu unterstellen."
Sagt der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann.
Karl Heinrich Marx 5 May 1818 – 14 March 1883) Marx was a German philosopher, economist, sociologist, historian, journalist, and revolutionary socialist. Marx s work in economics laid the basis for the current understanding of labour and its relation to capital, and has influenced much of subsequent economic thought WHA PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY !ACHTUNG AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT! Copyright: WHA UnitedArchivesWHA_037_0743 Karl Heinrich Marx 5 May 1818 – 14 March 1883 Marx what a German Philosopher Economist sociologist Historian Journalist and Revolutionary Socialist Marx S Work in Economics laid The Basis for The Current Understanding of Labour and its Relation to Capital and has Influenced Much of subsequent offer Economic Thought Wha PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Regard date estimated Copyright Wha UnitedArchivesWHA_037_0743
Karl Marx – Enkel eines Rabbiners – hatte sich in seinem Text "Zur Judenfrage" abschätzig über "traditionelle" Juden geäußert.© imago stock&people
Die russische Revolution sei kein "jüdisches Projekt" gewesen. Trozkij, Swerdlow, Sinowjew und tausende andere waren jüdischer Herkunft, aber keine gläubigen Juden. Wie alle Bolschewiki waren sie Atheisten. Nur wenige ihrer Genossen sahen sich als ethnische Juden. Schon Karl Marx – Enkel eines Rabbiners – hatte sich in seinem Text "Zur Judenfrage" abschätzig über "traditionelle" Juden geäußert.
"Marx hat gesagt 'Damit habe ich nichts zu tun'. In der 'Judenfrage' hat er ja die Vernichtung aller Religion gefordert, einschließlich der jüdischen."
Lange vor der Revolution hatte Trotzki einmal auf die Frage, ob er Jude oder Russe sei, geantwortet:
Zitator: "Sie irren sich. Ich bin Sozialist und nur das."
Mario Keßler: "Die freiwillige Assimilation war relativ stark."
So der Historiker Mario Keßler. Nach dem Sieg der russischen Revolution zogen Millionen Menschen in die neuen Industriezentren, in denen sich die Bolschewiki mit ihrem militanten Atheismus durchsetzten. Sämtliche Religionsgemeinschaften galten als "Handlanger der Großgrundbesitzer und Kapitalisten". Gläubige Juden erlebten ähnliche Diskriminierung wie christliche Russen und Armenier, wie muslimische Kasachen und Aserbaidschaner.
Allgemeine Religionsfeindschaft bedeutete aber noch keinen Antisemitismus. Dass dieser im "Land des Roten Oktober" wieder aufleben würde, schien unwahrscheinlich. Und doch kam es so.
V. Internationale zionistische Verschwörungen: ein realsozailistischer Mythos
Historischer O-Ton Solomon Michoels: Rede vom 24. 8. 1941 (russisch)
Übersetzer: "Ich bin Vertreter jenes Teils des jüdischen Volks, das wie nirgendwo auf der Welt so frei das wundervolle und bedeutungsvolle Wort aussprechen kann, das ungeheuer liebe Wort, das in einer Reihe mit 'tate un mame / Papa und Mama' steht und das der Ursprung von Mut und Heldentum ist – das Wort 'hejmland / Heimat'. Unser sowjetisches Land ist diese Heimat."
Das sagte der populäre jüdische Schauspieler Solomon Michoels am 24. August 1941 auf einer Kundgebung in Moskau. Hitlers Divisionen rückten seit zwei Monaten scheinbar unaufhaltsam vor. Stalins Sowjetunion mobilisierte alle Kräfte und verhinderte am Ende die Eroberung durch die Nationalsozialisten, die auch für Juden den sicheren Tod bedeutet hätte.
Die Sowjetunion trat als revolutionäre Weltmacht auf – aber für die Juden war das bald keine Verheißung. Wenige Jahre nach dem Krieg starteten Stalin und die von ihm unterworfenen Ostblock-Staaten ihre eigenen antisemitischen Kampagnen.
Wolfgang Wippermann: "Auf jeden Fall ist das Verschwörungsdenken kein Spezifikum der Rechten, sondern auch der Linken – und auch der Mitte. Verschwörungsdenken ist in allen politischen Lagern vorhanden. In der Sowjetunion hat es verschiedene Verschwörungstheorien gegeben."
Ein neuer Mythos erzählte in den Jahren um 1950 von "zionistischen Verschwörungen" in der "sozialistischen Staatengemeinschaft".
VI. Die Sowjetunion und Israel
Mario Keßler: "Die Sowjetunion hatte ursprünglich die Staatsgründung Israels unterstützt."
Stalin wollte 1947 den neuen Staat auf die eigene Seite ziehen, vor allem aber das britische Empire, zu dem Palästina bis dahin gehörte, schwächen.
Mario Keßler: "Im ersten israelisch-arabischen Krieg unterstützte die Sowjetunion Israel."
Als sich Israel im beginnenden Kalten Krieg auf die Seite des Westens stellte, organisierte die sowjetische Führung eine skrupellose antisemitische Kampagne. Sympathien sowjetischer Juden für Israel wurden jetzt als "Zionismus" gewertet. Man wollte auch den Wunsch nach Auswanderung unterdrücken.
Ein anderes Motiv für den politischen Kurswechsel waren Unruhen in verschiedenen nichtrussischen Regionen der Sowjetunion. Das Regime warf den Minderheiten "nationalistische Abweichungen" vor. In Wirklichkeit setzte es selbst auf Nationalismus und forderte eine beschleunigte sprachliche und kulturelle Assimilation an das sogenannte "russische Brudervolk". Willkürakte gerade gegen kleinere wehrlose Bevölkerungsgruppen – wie die jüdische – sollten abschreckend wirken.
Die Kampagne gegen "zionistische Verschwörungen" traf zuerst das "Jüdische Antifaschistische Komitee" der Sowjetunion. Es war 1941 entstanden. Ihm gehörten Künstler, Wissenschaftler und Militärs an. Vorsitzender war der Schauspieler Solomon Michoels. Seine Anweisungen bekam das Komitee von der Partei. Es sollte auch Kontakt zu Israel halten. Nach dem Bruch mit dem "Staat der Zionisten" wurde es aufgelöst. Schon zuvor starb Michoels angeblich bei einem Verkehrsunfall. Er erhielt ein Staatsbegräbnis. Tatsächlich hatten ihn Geheimdienstmitarbeiter erschlagen.
20 der 70 Komitee-Mitglieder und Hunderte andere Intellektuelle kamen in Haft. Durch Folter erreichte man "Geständnisse". In Geheimprozessen verhängten Gerichte über 20 Todesurteile, unter anderem gegen die bekannten Schriftsteller Perez Markisch und Dawid Bergelson. Die meisten jiddischsprachigen Zeitungen, Schulen, Theater und Buchverlage wurden geschlossen.
"Offiziell hat Stalin sich immer gegen den Antisemitismus ausgesprochen."
Sagt Mario Keßler. Entgegen allen Versicherungen, man kritisiere nicht Juden, sondern Zionisten und die Regierung Israels, nahm die Kampagne unverhohlen antisemitische Züge an.

Antisemitismus in Stalin-Ära wurde taktisch eingesetzt

Zitator: "Sie wussten, wie sie den Ausdruck der Augen ändern mussten, um ihren Wolfsseelen ein menschliches Aussehen zu verleihen. Sie waren durch die Schule des Heuchlers Michoels gegangen, für den nichts heilig war und der für dreißig Silbermünzen seine Seele an das Land des Dollars verkaufte. Die Verhafteten werden für immer die Verkörperung alles Niedrigen und Infamen bleiben, wahre Ausgeburten des immer gleichen Judas."
Das schrieb damals eine sowjetische Zeitschrift über "Zionisten". Der Antisemitismus der Stalin-Ära war kein eigenständiges Politikziel, er wurde "taktisch" eingesetzt – was an seiner moralischen Qualität nichts ändert. Die Unterdrückung traf nur Teile der jüdischen Bevölkerung, den brutalen Lerneffekt erzielte man auch so.
Auch in anderen osteuropäischen Ländern begannen Repressalien gegen tausende "zionistische Verschwörer". In der DDR wurde Paul Merker 1950 als "Sympathisant" des Zionismus aus dem Politbüro der SED "entfernt". Mario Keßler arbeitet an einem Buch über den Rivalen Walter Ulbrichts:
"Merker war populär in der Partei, Ulbricht wollte ihn loswerden. Ein Nichtjude, der sich aber vehement für Israel eingesetzt hatte."
Er bezahlte mit jahrelanger Haft. In der Tschechoslowakei verurteilte man den Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Rudolf Slánský, in einem gespenstischen Schauprozess als "Agenten" zum Tode. Weiterhin gehörten aber Politiker mit jüdischem Hintergrund den Parteiführungen an, so der ungarische KP-Vorsitzende Mátyás Rákosi.
Seine gefährlichste Zuspitzung erlebte der sowjetische Antisemitismus 1952/53. Die Geheimpolizei verhaftete Dutzende Ärzte und Ärztinnen, die führende Politiker behandelt hatten. Die meisten waren jüdischer Herkunft. Angeblich sollten sie im Auftrag der USA Stalin und mehrere Politbüromitglieder ermorden. Möglicherweise – die Vorgänge sind kaum dokumentiert – stand einem Teil der jüdischen Minderheit die Deportation nach Sibirien bevor.
Mario Keßler: "Ich kenne keine Beweise, dass Deportationen geplant wurden. Aber die Gerüchte, die eine Atmosphäre der Angst schaffen sollten, die wurden systematisch lanciert. Dann starb Stalin am 5. März 1953. Einen Monat später erschien eine kurze Mitteilung, dass die verhafteten jüdischen Ärzte freigelassen werden, dass die Geständnisse auf verbotenen Mitteln basierten."
In der Sowjetunion und im übrigen Osteuropa begann die Entstalinisierung. Man rehabilitierte auch die meisten Opfer der Kampagne gegen das Jüdische Antifaschistische Komitee. Bis zum Untergang der Sowjetunion vier Jahrzehnte später blieben aber Jüdinnen und Juden, die Sympathien für Israel äußerten oder die sich der Assimilation an die russische Sprache und Kultur verweigerten, eine verdächtige Gruppe - ohne dass es eine greifbare "formale" Diskriminierung gab.
1968 flackerte die Idee einer "zionistischen Verschwörung" noch einmal in Polen auf. Unter dem Eindruck der westeuropäischen Studentenbewegung und des "Prager Frühlings" – des Reformkurses in der Tschechoslowakei – wurden an den Universitäten Forderungen nach einer Demokratisierung laut. Einige der Wortführer hatten einen jüdischen Hintergrund. Die Medien machten Stimmung gegen "Zionisten" – gemeint waren alle Oppositionellen. Der Parteichef Władysław Gomułka am 19. März 1968:
Historischer O-Ton Władysław Gomułka: Rede vom 19.3.1968 (polnisch)

Antisemitische Motive auch im "realsozialistischen" Polen

Auch in dieser Kampagne verwischten sich die Grenzen zur traditionellen Judenfeindschaft. Gomułka war vermutlich kein Antisemit – viele seiner "Kampfgefährten" früherer Jahre und seine Ehefrau waren jüdischer Herkunft. Aber antisemitische Motive wurden auch im "realsozialistischen" Polen bei Bedarf bedenkenlos genutzt. Es gelang der Partei, den demokratischen Protest zu unterdrücken. Tausende Wissenschaftler, Journalisten oder Offiziere – die meisten von ihnen keineswegs oppositionell eingestellt – verloren als "Zionisten" ihre Arbeit und wurden in die Emigration gedrängt.
Am Anfang gab es gute Gründe, warum neben vielen anderen auch Juden an den Umwälzungen in Russland 1917 aktiv mitgewirkt hatten. Am Ende waren sie im Herrschaftsbereich der vermeintlich revolutionären Regime wieder eine diskriminierte Minderheit. Teil einer großen Verschwörung waren sie nicht – aber das war und ist für überzeugte Verschwörungstheoretiker ohnehin unerheblich.
Der Mythos heute? Wolfgang Wippermann hebt hervor ...
"... dass 'bolschewistisch' gestrichen ist. Aber die Ideologie von der jüdischen Weltverschwörung, diese Geschichte ist keineswegs vorbei, sondern sie wird immer wieder geglaubt und zwar weltweit, bis nach Asien – Indonesien, Malaysia, Japan, China – und zentral in den islamischen Ländern. Es ist nur noch die 'jüdische Weltverschwörung'."
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