Jubiläum mit Schattenseiten

Von Thomas Bormann, Istanbul · 23.10.2013
Mit einem gigantischen Tunnel-Projekt am Bosporus feiert der türkische Premier Erdogan die Staatsgründung vor 90 Jahren. Der Bau ist ein Symbol für die boomende Wirtschaft und das neue Selbstbewusstsein des Landes. Doch nicht alle wollen in die Jubel-Arie einstimmen.
Ministerpräsident Reccep Tayyip Erdogan hat bereits einen U-Bahn-Zug durch den neuen Bosporus-Tunnel gesteuert - von der asiatischen zur europäischen Seite Istanbuls. "Jetzt fahren wir unterm Meer durch", kommentiert er seine Testfahrt. Die Gleise führen immer tiefer; am Schnittpunkt zwischen Asien und Europa rollen die U-Bahnen 56 Meter tief unter dem Meeresspiegel von Kontinent zu Kontinent.

Ein 150 Jahre alter Traum wird wahr, sagt Erdogan stolz. Denn schon der osmanische Sultan Abdülmecid plante im 19. Jahrhundert einen Schienentunnel unter dem Bosporus. Doch erst jetzt wird dieses Jahrhundertprojekt Realität - Erdogan wird den Tunnel am kommenden Dienstag, dem 29. Oktober, feierlich eröffnen, genau am 90. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei. Der neue Tunnel, ein Symbol für die wirtschaftlich erstarkende Türkei, die immer weiter wachsen will. Erdogan sieht sich selbst als Motor dieses türkischen Wirtschaftswunders und gibt sogleich das nächste Ziel vor:

"Als wir die Regierung übernommen haben, befand sich die Türkei an 26. Stelle unter den Weltwirtschaften. Heute befindet sie sich auf Rang 17. Unser neues Ziel lautet jetzt: die Türkei bis zu ihrem 100. Geburtstag im Jahre 2023 zu einer der zehn stärksten Wirtschaften der Welt zu machen."

Aber nicht alle 75 Millionen Bürger der Türkei wollen in Erdogans Jubel-Arie einstimmen. Der Politikwissenschaftler Suat Özcelebi aus Istanbul meint:

"Der Tunnel mag für manche Politiker als Symbol für Fortschritt und Moderne gelten, für mich aber nicht. Ich verstehe unter Fortschritt und Moderne eher eine Regierung, die voll und ganz hinter den Bürgerrechten steht; hinter den Rechten jener jungen Menschen, die während der Proteste im Gezi-Park im vergangenen Sommer durch Polizeigewalt erblindeten oder getötet wurden. Bosporustunnel- und -brücken kann man immer bauen - von mir aus noch 50 oder 80 weitere. Aber sie sind kein Maßstab für Zivilisation."

Maßstab sei vielmehr, wie die Regierung mit Kritik umgeht. Die Proteste im Gezi-Park, die sich im Sommer aufs ganze Land ausgedehnt hatten, waren so etwas wie ein Demokratie-Test für die Regierung Erdogan. Und diesen Test habe Erdogan nicht bestanden:

""Es hat sich deutlich gezeigt, dass auch im neunzigsten Jahr der Republik Grundrechte und -freiheiten immer noch nicht vollständig gewährleistet werden.”"

So das Urteil des Politikwissenschaftlers Suat Özcelebi.

8000 Verletzte und sechs Tote bei Protesten
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die Polizeiübergriffe vom Frühsommer dieses Jahres genau untersucht. Mehr als 8000 Menschen wurden verletzt; sechs kamen ums Leben, mindestens elf Personen sind seither auf einem Auge blind. Polizisten hatten immer wieder Tränengasgranten in Menschenmengen hineingeschossen und dabei etliche Demonstranten am Kopf getroffen. Ein 14-jähriger Junge liegt wegen einer solchen Schussverletzung nun schon seit vier Monaten im Koma. John Dalhuisen von der Londoner Zentrale von Amnesty International:

"”Was hier besonders hervorsticht, ist diese enorme Entschlossenheit der Regierung, eine Protestbewegung zum Schweigen zu bringen und zu zerschlagen, sie definitiv zu zerschlagen. Das zeigt sich nicht nur darin, dass Polizisten ermutigt wurden, mit Gewalt gegen Demonstranten vorzugehen, sondern auch in den Verfolgungen und den Schikanen gegen alle, die die Proteste organisierten, daran teilnahmen oder sie unterstützten, darunter auch Journalisten, Ärzte, Anwälte.”"

Für den Istanbuler Politikwissenschaftler Suat Özcelebi haben die Proteste im Sommer aber noch etwas gezeigt zum Zustand der Republik Türkei in ihrem 90. Jahr:

"”Die türkische Zivilgesellschaft hat im Gezi-Park ihre demokratische Reife bewiesen.”"

Streng nach den Regeln der Basisdemokratie diskutieren junge Menschen in öffentlichen Parks über ihre Vorstellungen von der Zukunft, von der Demokratie in der Türkei. Sie setzen sich für Umweltschutz ein und gegen riesige Bauprojekte. Ein solches gemeinsames Engagement hat es vorher in der Türkei nicht gegeben - und die Regierung weiß überhaupt nicht, wie sie mit diesem Protest umgehen soll. Das hat Joseph Burton bei seinen Studien beobachtet:

""Interessant war, was Erdogan bei seiner Kundgebung im Sommer gesagt hatte, nämlich: Er wolle nicht eine Jugend mit Plakaten, sondern eine Jugend mit Laptops.”"

Das ist, so meint Joseph Burton, alte türkische Schule: Die Erwachsenen diktieren der Jugend, wo es langgeht:

"”So war das auch schon bei Atatürk. Eine autoritäre Sicht darauf, was die Jugend zu tun habe. Bei Atatürk musste die Jugend als Speerspitze der modernen Türkei dienen und das Land zivilisieren, wie es hieß. Jetzt, unter der AKP-Regierung, soll die Jugend beten und Geld verdienen, wobei das zweite wohl etwas wichtiger ist.”"

Doch die islamisch-konservative AKP-Regierung wird sich mit diesem autoritären Führungsstil letztlich nicht durchsetzen können. Zu diesem Schluss kommen gut zwei Dutzend junge Wissenschaftler, die bei einer Tagung der Zeit-Stiftung in diesem Sommer in Istanbul ihre Forschungsergebnisse ausgetauscht haben. Zu diesen Wissenschaftlern zählt Joseph Burton aus Washington und auch Özlan Ünsal aus Istanbul; sie hat die Bewohner der Istanbuler Armenviertel besucht, deren Quartiere nach und nach abgerissen und durch Luxus-Appartements ersetzt werden sollen, weil Regierung und Wirtschaft eine neue, reiche Türkei erschaffen wollen. In dieser neuen Glitzerwelt ist für die Armen kein Platz. Doch die Armen wehren sich, mit wachsendem Erfolg und wachsender Unterstützung:

"”Im Vergleich der vergangenen zwanzig Jahre gibt es heute deutlich mehr kritische Stimmen, zum Beispiel die Architektenkammer oder Bürgerinitiativen, Nicht-Regierungs-Organisationen und Graswurzelbewegungen. Die sind sehr kritisch, die stellen diese Sanierungspläne in Frage. Sie fordern die Menschenrechte zu achten bei diesen groß angelegten Umgestaltungen von Wohngebieten.”"

Die Kurden durften ihre eigene Sprache nicht sprechen
Nicht nur in Istanbul wächst das Selbstbewusstsein der Benachteiligten, sondern auch mehr als tausend Kilometer entfernt in Diyarbakir, der größten Stadt im kurdisch geprägten Südosten der Türkei.

Im Basar dreht der CD-Verkäufer kurdische Musik laut auf; der Textilhändler verkauft T-Shirts mit der Aufschrift "Kurdistan”; Gastwirte lassen ihre Speisekarten auf Türkisch und Kurdisch drucken. Noch vor ein paar Jahren hätte die Polizei sie dafür ins Gefängnis stecken können - wegen separatistischer Propaganda. Denn zum Gründungsmythos der Republik Türkei gehörte, dass in der Türkei nur Türken leben. Die anatolischen Armenier waren schon vor der Republikgründung zu Hunderttausenden vertrieben und getötet worden; mehr als eine Million Griechen mussten die Türkei verlassen, im Gegenzug kamen aus Griechenland vertriebene Türken nach Anatolien. Die Kurden im Südosten des Landes durften in der jungen Türkei ihre eigene Sprache nicht sprechen, sie sollten zu Türken umerzogen werden:

"Seit es die Republik Türkei gibt, war die kurdische Sprache meist verboten,” sagt ein junger Lehrer in Diyarbakir in seiner Muttersprache Kurdisch.

"”Besonders schlimm war es in den 80er- und 90er-Jahren, da konnte man ins Gefängnis kommen, nur weil man Kurdisch gesprochen hat oder einen kurdischsprachigen Gedichtband zu Hause hatte. Aber in den letzten Jahren hat sich vieles verändert. Diyarbakir ist zum Zentrum für kurdische Literatur geworden. Es gibt kurdische Verlage, kurdische Zeitungen und kurdische Fernsehsender. Kurdisch ist jetzt wieder richtig lebendig in Diyarbakir.”"

Wird denn am kommenden Dienstag, am 29. Oktober, der 90. Geburtstag der Republik Türkei in Diyarbakir ebenso gefeiert wie in Istanbul oder in Ankara? Der junge Lehrer schüttelt den Kopf:

"”Nein, absolut nicht. In Diyarbakir wird keine Feierstimmung aufkommen. Für die Menschen hier ist das kein Feiertag. Überall in der Türkei werden an diesem Tag Flaggen in den Straßen und Läden aufgehängt, nicht aber hier in Diyarbakir. Höchstens einige Lehrer und Studenten werden sich freuen, weil an diesem Tag frei ist, aber die Republik wird hier nicht gefeiert.”"

Nein, viele Kurden mögen sich nicht mit dem Staat "Republik Türkei” identifizieren, auch wenn sie einen türkischen Pass haben; auch wenn die türkische Regierung den Minderheiten immer mehr Rechte gewährt; auch wenn immer mehr Politiker der Regierungspartei AKP die ethnischen oder religiösen Minderheiten inzwischen mehr als Bereicherung denn als Gefahr sehen.

Kulturelle Vielfalt in Anatolien
Mardin, tief im Südosten der Türkei. Die Muezzine rufen zum Gebet. Von der hoch gelegenen Stadt blickt man kilometerweit in die Ebene, bis tief ins Nachbarland Syrien hinein. Hier leben vor allem Araber und Kurden; seit Generationen haben ihre Familien den Pass der Republik Türkei. Dirk Krausmüller lehrt Geschichte an der Universität Mardin und hat beobachtet:

"”Ich kann sagen, dass in der Universität die Studenten ganz offen über Kurdistan, über kurdische Identität sprechen, auch andere Themen frei ansprechen, zum Beispiel die Armenienfrage. Die Studenten haben da eigentlich gar keine Probleme, solche Sachen auch zu diskutieren.”"

Erzählt Dirk Krausmüller in einem Cafe in Mardin; einer Stadt mit vielen Moscheen und etlichen Kirchen.

"”Christen, Muslime, auch kein Problem. Überhaupt, ich habe keine Probleme hier. Meine Kollegen sind alle sehr religiös, genauso gut aber auch tolerant, muss man sagen. Dass da jemand irgend etwas Abfälliges übers Christentum sagen würde, ist mir noch nie vorgekommen.”"

Die Türkei, so scheint es, entdeckt 90 Jahre nach der Gründung der Republik die kulturelle Vielfalt Anatoliens wieder. Das sehen viele als einen Schritt in eine bessere Zukunft. Ein weiterer Schritt dorthin soll das sogenannte "Demokratisierungspaket” sein, das Ministerpräsident Erdogan vor drei Wochen vorstellte: Erdogan will den Kurden mehr Rechte einräumen und hofft damit, den blutigen Konflikt mit der kurdischen Untergrund-Organisation PKK zu beenden. Erdogan verspricht auch, die Zehn-Prozent-Hürde zu senken, die bislang verhindert, dass kleine Parteien oder Parteien von Minderheiten ins Parlament kommen. Ja, das ist ein Schritt in die richtige Richtung, sagt auch der Istanbuler Politikwissenschaftler Suat Özcelebi, aber:

""Die Türkei muss sich schnell demokratisieren - und zwar nicht in Form von Demokratisierungspaketen, also in Häppchen, sondern auf einen Schlag und die ganze Gesellschaft umfassend. Was zu tun ist, ist bekannt. Auch über die Lösung der Probleme gibt es einen weitgehenden Konsens in der Gesellschaft. Wir brauchen also keine kosmetischen Eingriffe, sondern eine echte, grundlegende Demokratisierung. Das erkenne ich momentan nicht.”"

Erdogan aber ist stolz auf sein Demokratisierungspaket, zu dem auch die Aufhebung des Kopftuch-Verbotes für Beamtinnen zählt. Doch auch wenn nun viele Lehrerinnen an staatlichen Schulen oder Sekretärinnen in Rathäusern in der Türkei Kopftuch tragen, das Land wird dennoch ein laizistischer Staat bleiben, in dem Staat und Religion streng voneinander getrennt sind, meint Suat Özcelebi:

"”Ich glaube nicht, dass sich der Laizismus zurückdrängen lässt, denn es sind schon genügend Generationen im Laizismus aufgewachsen. Sie werden den Laizismus zusammen mit der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit schützen.”"

Und was würde Staatsgründer Atatürk sagen, wenn er heute die Türkei sehen würde - kurz vor ihrem 90. Geburtstag?

""Er wäre enttäuscht über den Stand der Frauenrechte. Zu Atatürks Zeiten gab es im Parlament einen höheren Frauenanteil als heute. Aber Atatürk würde sich über die blühende Wirtschaft freuen, darüber, dass die Türkei die siebzehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist.”"

Sicher wäre Atatürk auch stolz auf den Bosporustunnel, durch den künftig die U-Bahnen im Vier-Minuten-Takt zwischen Europa und Asien hin- und herpendeln werden. Eines aber würde Atatürk an diesem 90. Geburtstag der Republik Türkei sehr stören, meint der junge Wissenschaftler Joseph Burton und denkt an die im Sommer verabschiedeten neuen Alkoholgesetze:

"”Atatürk wäre auf jeden Fall sauer, dass man nach 22 Uhr hier keinen Alkohol mehr kaufen kann.”"
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