Jörn Ahrens: "Die unfassbare Tat. Gesellschaft und Amok"

Der Journalist als Tatortreiniger

Journalisten warten nach dem Amoklauf von München auf den Beginn der Presskonferenz.
Journalisten warten nach dem Amoklauf von München auf den Beginn der Presskonferenz. © picture alliance / dpa / Daniel Karmann / Cover: Campus-Verlag
Von Bodo Morshäuser · 03.06.2017
Nach extremen Gewalttaten wie Amokläufen jagt oft eine Sondersendung die andere. Wie Journalisten über solche Ereignisse berichten und diese einordnen, beschreibt das Buch "Die unfassbare Tat": detailreich, aber nicht durchweg flüssig zu lesen.
Jeder kennt diese Fernseh-Sondersendungen: Alle Reporter und Experten sagen, man wisse noch nichts Genaues und müsse abwarten. Trotzdem fragen Moderatoren pausenlos dieselben Fragen. Nach 15 oder 30 Minuten ist man erschlagen von so viel Nullfernsehen. Man war Zeuge erster Aufräumarbeiten nach einer schockierenden Tat.
Extreme Gewalttaten wie Amokläufe sprengen den Normalitätsrahmen des sozialen Alltags und sind unerklärlich, zumal die Täter sich nicht erklären. Sie stellen die Annahme infrage, dass man normalerweise keine Angst haben muss, auf die Straße zu gehen. Dann geschieht die unfassbare Tat, das Leben muss aber weitergehen. Medien sehen sich in der Pflicht, diese Tat in die Vorstellung der Gesellschaft von sich selbst einzugliedern. Mit Niklas Luhmann geht auch Jörn Ahrens von dieser Prämisse aus:
"Was wir über die Gesellschaft, ja, über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur."

Chronologisierung und Biografisierung

Aus Massenmedien erfahren wir von Akten extremer Gewalt, und in Massenmedien beobachten wir die Einordnungen solcher Taten. Medien tun das mit zwei Techniken: Erstens wird das Geschehen chronologisiert. Der Tattag wird minutengenau rekonstruiert mit der Unterscheidung "vor der Tat" und "nach der Tat".
Zweitens wird der Täter biografisiert und pathologisiert. Es geht um die Frage, was für ein Mensch das war. Chronologisierung und Biografisierung werden mit literarischen Mitteln vollzogen. Es werden Erzählungen verfasst. Medien schreiben, wie es hier über die Bild-Zeitung heißt, regelrechte "Amoknovellen". Täter, die vor ihren Taten meistens blassen Gestalten waren, bekommen Farbe.
"Paradoxerweise besteht Gesellschaft gerade auch bei Taten, die als 'unfassbar', 'singulär' oder 'sinnlos' bezeichnet werden, auf einem ordentlichen und nachvollziehbaren Motiv. Als würde ein solches Motiv nicht die Unfassbarkeit der Tat aufheben. Aber genau darum geht es schließlich: Das Unfassbare fassbar zu machen."

Opfer verlangen nicht nach einer individuellen Erklärung

Wohnte im Täter vielleicht doch eine Bestie? Lässt sich nichts finden, heißt es zur Not schon mal, der Täter sei "auffällig unauffällig" gewesen. Wenn sich kein Täterprofil bei den Tätern erkennen lässt, müssen sie dann nicht verführt worden sein?
Es ist wichtig, sich mit dem Täter zu beschäftigen, weil er es ist, der den sozialen Rahmen vorübergehend gesprengt hat. Das muss erklärt werden. Opfer verlangen nicht nach Erklärung, sie hat es einfach zufällig getroffen. Oft werden Amoktäter beschrieben als Personen mit zwei Identitäten, einer realen und einer virtuellen. Die virtuelle Internetperson übernimmt in der Erzählung vom Amoklauf dann die Regie über die reale Person.
"Die Identifikation eines Amokschützen als Doppelpersönlichkeit (...) wirkt produktiv in zwei Richtungen: Erstens erlaubt sie es, ein biografisch gedecktes Persönlichkeitsprofil des Täters zu entwerfen, das dessen massive Konturbrüche zu einer passgenauen Figur zusammenfasst, nämlich der Doppelexistenz, die den anderen ihren wesentlichen Teil verdeckt und verschweigt. Zweitens aber erlaubt sie auch der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, ihre Wahrnehmungsweisen und Diskurspraktiken (...) nicht infrage stellen zu müssen, wenn sie wesentliche Bedrohungselemente im sozialen Nahbereich offensichtlich nicht wahrnimmt."
Medien sind im Fall von Amokäufen so etwas wie Tatortreiniger. Sie machen den Ort Gesellschaft wieder begehbar. Sie stiften Sinn. Zum Beispiel, wenn Schuldige benannt werden. Die Kandidaten dafür sind immer dieselben, an erster Stelle die Medien - lustigerweise von Medien selbst vorgetragen.

Computer werden immer mitverantwortlich gemacht

Schuld sind außerdem Computer- oder sogenannte Killerspiele. Aber auch Erziehung, Familie und Schule geraten ins Fadenkreuz der Schuldfahnder. Und nicht zuletzt die geltenden Waffengesetze. Erstaunlich selten wird die Gesellschaft selbst zum Thema, verbunden mit dem Hinweis, Gewalt sei ein Teil von ihr.
"Gesellschaft ist immer mit dem Paradox konfrontiert, unter anderem aus Gewaltverhältnissen hervorgegangen, auf diese auch immer wieder zurückgeworfen zu sein und trotzdem eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin zu finden, die Gewalt in der Gesellschaft selbst zu neutralisieren. (...) In der Gesellschaft ist Gewalt permanent mindestens virtuell präsent, als Möglichkeit und als imaginierte Handlung. (...) Im Amoklauf tritt Gesellschaft eine massive Störung dieses imaginären Verhältnisses der Gewalt gegenüber."
Solche Beobachtungen bleiben im Nachgang den Sozialwissenschaften vorbehalten. Die Medienarbeit gleich nach der Tat gilt der Eingliederung der Tat in den kurzzeitig gesprengten sozialen Rahmen. So erklären sich in Sondersendungen zu extremen Gewalttaten wiederholte Fragen zur Kategorisierung: Unfall oder Terror? Aus Versehen oder mit Absicht? Einzeltäter oder Gruppe?
Jörn Ahrens legt im Detail dar, wie so etwas abläuft. Sein Buch ist die Erzählung darüber, wie die Gesellschaft sich einen Amoklauf nacherzählt, um mit dieser Tatsache weiterleben zu können. Dieses Buch ist eine Metabeobachtung. Es ist zitat- und detailbeladen und dabei keinesfalls nur flüssig zu lesen, obwohl - oder weil - der Autor Wiederholungen mag. Es ist ein kultursoziologisches Fachbuch. Und genau als solches wird es hier empfohlen.

Jörn Ahrens: "Die unfassbare Tat. Gesellschaft und Amok"
Campus Verlag, 2017
334 Seiten, 29,95 Euro

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