Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen"

Ein Pionier der Willkommenskultur

Auf der Wand einer Hütte des Flüchtlingscamps am Oranienplatz in Berlin steht am 27.02.2014 "Refugee are welcom here" geschrieben.
Erpenbecks Protagonist Richard nimmt Kontakt zu den Flüchtlingen im Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz auf. © picture alliance / dpa / Inga Kjer
Von Wolfgang Schneider · 10.10.2015
Ein Debattenbuch in Romanform zum Thema Flüchtlinge hat Jenny Erpenbeck mit "Gehen, ging, gegangen" geschrieben. Ihre Hauptfigur Richard lebt die Willkommenskultur früh vor, doch der Roman wirkt überholt. Denn was Erpenbeck erzählt, haben die meisten längst begriffen.
Der Altphilologe Richard ist ein wenig aus der Zeit gefallen. Er ist emeritiert und verwitwet und in der Bundesrepublik auch ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall noch nicht ganz angekommen. Am Rand von Ostberlin bewohnt er allein ein Haus am See, aber dort ist ein Mann ertrunken, dessen Leiche immer noch nicht gefunden wurde – das Schwimmen ist Richard vergällt.
Das Motiv des Ertrinkens verweist auf die Flüchtlingskrise, zu der Erpenbeck mit "Gehen, ging, gegangen" ein Debattenbuch in Romanform geschrieben hat. Richard hat viel Zeit, und zunehmend interessiert er sich für die Flüchtlinge und ihr Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Immer entschlossener nimmt er Kontakt auf, lässt sich auf die Afrikaner und ihre Schicksale ein, lädt einige zu sich nach Hause ein, kümmert sich, gibt Deutschunterricht – ein Pionier der "Willkommenskultur". Die Flüchtlinge erscheinen dem Altphilologen wie Wiedergänger der Helden aus der mittelalterlicher Epik: "Awad wurde in Ghana geboren. Seine Mutter starb bei der Geburt. So wie Blanscheflur, denkt Richard, so wie die Mutter von Tristan." Solche Überhöhung irritiert zunächst, und fast erleichtert ist man im Folgenden, dass Erpenbeck die Flüchtlingskrise zwar vereinfacht und etwas weichzeichnet, aber doch nicht gänzlich verkitscht.
Spott über deutsche Bürokratie
Der Roman kritisiert den "menschenfeindlichen" deutschen und europäischen (Dublin II) Bürokratismus. Statt Gastfreundschaft: ein Verhau von Paragrafen und Verordnungen. Voller Pathos klagt Erpenbeck an, dass all diese Menschen "nachdem sie die Überfahrt über ein wirkliches Meer überlebt haben, nun in Flüssen und Meeren aus Akten ertrinken". Sie vergisst dabei, dass die Schicksale der Flüchtlinge auch davon bestimmt werden, dass sie aus scheiternden Staaten und Bürgerkriegsregionen kommen, die eben keine funktionierende Verwaltung haben. Der Spott über die "ehernen deutschen Gesetze" überzeugt nicht.
Schwach ist das Buch im Räsonieren, stärker in den dialogischen Passagen, wenn Richards Begegnungen und Unterhaltungen mit den Flüchtlingen dargestellt werden, das Aufeinanderprallen der Kulturen, dieses Crossover von Freundlichkeit und Befremden. Richards Versuche, ein paar Grundlagenkenntnisse der abendländischen Kultur zu vermitteln (von den Weihnachtsgebräuchen bis zu Hitler), nehmen sich ebenso skurril wie anrührend aus.
Empathische Geschichten über Flüchtlinge
Die emotionale Antriebskraft des Romans, Empathie mit den Flüchtlingen, bestimmt die Medien seit Monaten. Eine traurige, tragische, traumatische, tapfere Flüchtlingsgeschichte nach der anderen wurde im Zeichen eines bisweilen kampagnenhaften "Willkommensjournalismus" präsentiert, und die Wirkung war außerordentlich. Viele Menschen haben sich plötzlich wie Richard verhalten, haben sich eingesetzt und geholfen. Aber braucht man jetzt noch dieses Buch von Jenny Erpenbeck? Was es uns sagt, haben wir doch längst begriffen. Was es verschweigt, begreifen viele erst langsam: die überaus problematischen Aspekte einer jahrelangen Millionenzuwanderung, in einem Land, das bei der Integration seiner Migranten bisher schon so vieles unerledigt ließ.

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen
Knaus Verlag, München 2015
352 Seiten, 19,99 Euro

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