Jeder Bürger unter Generalverdacht

Von Jörg Kantel · 19.06.2013
Es wird interessant sein, ob Barack Obama heute in seiner zweiten Rede in Berlin auf das PRISM-Programm der Sicherheitsbehörde NSA eingehen wird. Auch wenn der US-Präsident versichert, die Überwachung bewege sich in gesetzlichen Grenzen, sieht der Informatiker Jörg Kantel das Vertrauen in die Demokratie dadurch untergraben.
Da rauscht doch momentan eine große Aufregung durch den Blätterwald. Und verbreitet doch keine wirklich neue Erkenntnis. Der amerikanische Geheimdienst NSA sammelt und scannt systematisch die Daten der Benutzer von Internet und Telefon.

Seit Jahren ist bekannt, dass alle amerikanischen Provider per Gesetz verpflichtet sind, die Behörde dabei zu unterstützen. Weshalb viele der großen Internet-Dienstleister damit werben, zusätzliche Serverfarmen in Europa zu betreiben, die dem Zugriff der NSA entzogen sind.

Überraschen kann höchstens der riesige Umfang, die Erkenntnis, dass es tatsächlich nahezu alle Daten sind, die ausgewertet werden. Die deutsche Politik jedenfalls gibt sich empört und ahnungslos. Und in den Medien hagelt es Tipps, wie man sich als Nutzer vor digitalen Spähern schützen kann.

Man soll seine Emails verschlüsseln und den sozialen Netzen misstrauen. Im geschäftlichen Bereich halte auch ich dies grundsätzlich für eine gute Idee, aber im privaten? Wenn eine Firma Wirtschaftsspionage fürchtet, lasse ich das als Selbstschutz gelten. Aber wenn Otto Normalverbraucher seine Emails aus Angst vor seiner Regierung verschlüsselt, dann ist das Vertrauen in die Demokratie massiv erschüttert.

Dazu trägt auch bei, dass die neu eingeführte "De-mail" zwar von der Bundesregierung per Dekret als sicher erklärt wurde, es aber gar nicht ist. Sie wird nämlich an zwei Stellen unverschlüsselt zwischengespeichert. Nicht nur böse Zungen behaupten, dass dies geschieht, damit Polizei und Geheimdienste auf die Mails der Bürger zugreifen können.

Aber geht ja nicht nur um die Email. Besonders interessant für Geheimdienste sind die Daten der Telefongesellschaften, nicht nur die besonders geschützten Inhalte von Gesprächen, sondern vor allem die telefonischen Kontakte der Nutzer und ihre Bewegungen von Ort zu Ort. Die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung zeigte, dass auch deutsche Sicherheitsbehörden großen Appetit darauf haben.

Soll man wirklich nur noch zu billigen Einweghandys greifen, die man nach Gebrauch in Rhein oder Spree versenkt? Wer glaubt denn, dass Gangster und Terroristen so blöde sind, ihre Pläne unverschlüsselt in die Welt hinauszuposaunen? Was hier passiert, ist, dass der Staat seine Bürger unter Generalverdacht stellt, jeden wie einen potenziellen Terroristen behandelt und so den Rechtsstaat aushebelt.

Und die sozialen Netze wie Twitter, Facebook und Co.? Richtig ist, sie mit Vorsicht zu genießen. Doch verlogen ist es, die Facebook-Revolution rund ums Mittelmeer zu bejubeln, aber nicht zu fragen, was Geheimdienste mit diesem Material machen.

Der türkische Präsident Erdogan nannte Twitter ein Werkzeug des Teufels. Bestimmt hätte er gern die Verbindungsdaten der oppositionellen Demonstranten vom Istanbuler Takzim-Platz aus den USA - und vielleicht hat er sie als NATO-Partner ja auch schon.

Einen wirklichen Schutz gäbe es, würde Macht und Reichweite der Geheimdienste eingeschränkt. Datensammelwut muss geächtet werden - und zwar weltweit. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg.

Leichter wäre es, zentrale Strukturen im Netz aufzulösen. Ein dezentrales Facebook oder Twitter, bei dem die Daten nicht auf einer einzigen Serverfarm liegen, sondern auf den Rechnern der Nutzer bleiben, ist von den Geheimdiensten bedeutend schwieriger auszuhorchen.

Ja, das Internet insgesamt müsse dezentralisiert werden, oder es höre auf, ein Internet zu sein, fordert Dave Winer, ein Pionier, der mittlerweile jener Bewegung angehört, die sich gegen die Datensilos der Konzerne wendet. So weit sind wir also schon gekommen: Der Bürger muss seine verbrieften Rechte mit Guerilla-Methoden gegenüber Staat und Polizei verteidigen.


Jörg Kantel, geboren 1953 in Duisburg, studierte Mathematik, Philosophie und Informatik im zweiten Bildungsweg. Seine Berufe waren: Speditionskaufmann, Gitarrist, Programmierer, Kabarettist, Systembetreuer, Systemanalytiker, Unternehmensberater.
Seit Mai 1994 ist er EDV-Leiter am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und war von 2006 bis 2009 Lehrbeauftragter für Multimedia im Fachbereich "Angewandte Informatik" an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) Berlin. Er betreibt den Blog "Der Schockwellenreiter".
Jörg Kantel
Jörg Kantel© Kantel/Rosemarie Windorf