Jean Ziegler: Börsenspekulation auf Nahrungsmittel tötet Menschen

Jean Ziegler im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 10.10.2011
Der Preis für eine Tonne Weizen hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Verantwortlich dafür seien Großbanken und Hedgefonds, die mit Nahrungsmitteln spekulieren - und den Tod von Hungernden in Kauf nehmen, sagt Jean Ziegler, Mitglied des UNO-Menschenrechtsrats.
Jan-Christoph Kitzler: Es ist ein Skandal, den sogar unser marktliberaler FDP-Außenminister Guido Westerwelle öffentlich verdammt hat: die zunehmende Spekulation mit Lebensmitteln auf den internationalen Finanzmärkten. Denn Investoren haben die Lebensmittel entdeckt, Handeln mit Agrarrohstoffzertifikaten, die Folge: dramatisch steigende Preise. Am Telefon ist jetzt Jean Ziegler, er war acht Jahre lang Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung für die Vereinten Nationen, ist jetzt Mitglied des UNO-Menschenrechtsrats, guten Morgen, Herr Ziegler!

Jean Ziegler: Guten Tag!

Kitzler: Lassen Sie uns zunächst diesen Zusammenhang verdeutlichen: Warum treibt die Spekulation auf Soja, Weizen, Fleisch die Marktpreise nach oben, wie funktioniert das überhaupt?

Ziegler: Zuerst muss man sagen, dass 2007, 2008, nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte sind die großen Spekulanten, die Hedgefonds, die Großbanken und so weiter abgewandert von den Finanzmärkten und sind auf die Rohstoffmärkte und vor allem auf die Agrarrohstoffmärkte, Chicago Commodity, Stock Exchange und so weiter, emigriert und betreiben dort ihr Spekulationsgeschäft wie früher auf den Finanzmärkten – übrigens durchaus legal, mit Futures, das haben Sie richtig gesagt, mit Terminkontrakten und so weiter –, ihr Spekulationsgeschäft und machen riesige Profite.

Ich gebe Ihnen einige Beispiele: Die Tonne Weizen ist heute 271 Euro, sie war genau die Hälfte vor einem Jahr, Mais ist in 18 Monaten um 93 Prozent gestiegen und Reis um 110 Prozent. Dazu kommt, dass eigentlich nur sieben Prozent der Weltagrarproduktion im Weltmarkt gehandelt werden, aber dort werden die Preise gemacht, die dann weltweit innerhalb aller Staaten angewendet werden. Und deshalb ist diese Nahrungsmittelspekulation eine totale Katastrophe, sie tötet. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Heute, im Horn von Afrika, das sind fünf Staaten – Dschibuti, Eritrea, Äthiopien, Somalia und Kenia, die Savannen im Norden von Kenia –, dort sind jetzt heute, wo wir reden, 12,4 Millionen Menschen stehen am Abgrund der Zerstörung durch den Hunger wegen der fünfjährigen Dürre.

Kitzler: Herr Ziegler, aber lassen Sie uns noch mal zurückkommen auf diese Spekulationen: Warum ziehen die Preise durch diese Finanzspekulationen so stark an? Normalerweise ist es doch so, dass sozusagen Angebot und Nachfrage die Preise machen, und es gab früher an den Warenterminbörsen schon immer diesen Handel mit Getreide, Schweinefleisch, Gemüse. Was ist jetzt so anders dadurch, dass die Finanzindustrie eingestiegen ist?

Ziegler: Sie haben absolut recht, das ist etwas ganz Neues, die Finanzialisierung, wie man sagt, der Nahrungsmittelmärkte. Termingeschäfte an sich sind nicht an sich schlecht. Wenn ich eine Bäckereikette habe in Amerika, mich eindecken muss, sicher sein muss, dass ich im September zum Beispiel bei der Weizenernte genügend Rohstoffe habe, genügend Weizen habe, und mit einem argentinischen Großbauern einen Terminvertrag abschließe im März auf September, dann ist das normal.

Die Finanzialisierung der Lebensmittelmärkte geht so, dass dort jetzt Tausende von Spekulanten auftreten, die nie ein Gut abliefern, die keinen Kontakt haben zur Realwirtschaft. Die machen ein Future, die machen Termingeschäfte, die machen Terminkontrakte, dieser Terminkontrakt ist ein Papier wie eine Aktie, eben ein Wertpapier, und das wird dann hundert-, fünfhunderttausendmal verkauft, bis das Termindatum kommt. Und deshalb ist, dieses Wertpapier verteuert sich dann unglaublich, und mit dem verteuerten Wertpapier verteuert sich eben der Preis des endlich zu liefernden Gutes.

Kitzler: Die Investmentbank Goldman Sachs hat schon 2009 mehr als fünf Milliarden Dollar allein durch Rohstoffspekulation verdient. Welche Folgen hat das nun gerade für die armen Länder etwa in Afrika?

Ziegler: Die Folge ist katastrophal, die … Afrika hat 53 Staaten, muss in normalen Zeiten für 24 Milliarden Dollar Nahrungsmittel importieren, in normalen Zeiten, also nicht, wenn Kriegskatastrophen sind und Klimakatastrophen sind wie jetzt, für 24 Milliarden Dollar importieren, um ihre Bevölkerung am Leben zu erhalten. Jetzt ist die Situation noch schlimmer, weil in Ostafrika sind zwölf Millionen Menschen am Abgrund durch den Hunger, wegen der Dürrekatastrophe, die jetzt fünf Jahre lang dauert. Und wegen der exorbitant hohen Grundnahrungsmittelpreise – Grundnahrungsmittel sind Weizen, Mais und Reis, das deckt etwa 75 Prozent der Welt – können diese Staaten sich keine Importe mehr leisten und die Menschen sterben.

Dasselbe gilt übrigens auch für das World Food Programme, das Welternährungsprogramm, das die Soforthilfe leisten muss, das kann auch nur noch bedingt die nötigen Nahrungsmittel kaufen, um in den 17 Flüchtlingslagern der Region die Menschen am Leben zu erhalten.

Kitzler: Die Lebensmittel werden immer teurer durch Finanzspekulation. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Jean Ziegler, er ist Mitglied des UNO-Menschenrechtsrats und war früher Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung für die Vereinten Nationen. Allein 44 Millionen Menschen, Herr Ziegler, sind laut der Weltbank mittlerweile durch die gestiegenen Preise für Lebensmittel zusätzlich unter die Armutsgrenze gefallen. Die Politik scheint jedoch aufgewacht zu sein. Also, der deutsche Außenminister Guido Westerwelle hat von verantwortungsloser Spekulation gesprochen, der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat beim G20-Agrarministertreffen im Sommer das Problem in den Mittelpunkt der Tagung gestellt, er fordert schärfere Kontrollen der Märkte. Passiert denn da etwas in dieser Richtung?

Ziegler: Ich glaube, die Bewusstseinsbildung ist da, das Erwachen ist begrüßenswert, aber geschehen ist bis jetzt nichts. Es fehlt an Geld. Ich komme zurück zum Welternährungsprogramm, die UNO-Spezialorganisation, die die Soforthilfe leisten muss, und ich komme zurück zum Katastrophenfall Ostafrika: Dort fehlt das Geld, das Weltbudget des Welternährungsprogramms ist zusammengebrochen von sechs Milliarden Dollar auf 2,8 Milliarden Dollar. Am Eingang der Lager in Dabo, in [unverständlich], in Ogaden und so weiter, werden jeden Tag Hunderte von Familien mit halb verhungerten Kindern abgewiesen, weil das Welternährungsprogramm nicht mehr genug Geld hat, weil die Geberländer, die großen Demokratien, auch Deutschland, ihre Banken – das ist ja normal – am Leben erhalten müssen, finanzieren müssen. Und deshalb haben die meisten Industriestaaten ihre Beiträge an das Welternährungsprogramm sei es gestrichen oder ganz massiv reduziert.

Also, die Finanzspekulation, die Großbanken, die Hedgefonds, die sind jetzt direkt verantwortlich für den Tod von Tausenden von Menschen in Ostafrika.

Kitzler: Aber was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, Herr Ziegler, um diese Spekulation irgendwie einzudämmen oder zu kontrollieren? Was gibt es da für Möglichkeiten Ihrer Meinung nach?

Ziegler: Das ist ganz einfach: Deutschland ist ein Rechtsstaat, ist eine große, lebendige Demokratie. England und alle diese großen Industrieländer, die Geberländer auch des Welternährungsprogramms sind Demokratien. Keine Börse, weder die in Frankfurt, noch die in London, noch die in Chicago funktioniert im rechtsfreien Raum. Das ist kein Dschungel, da gibt es ein Börsengesetz und man könnte durch Parlamentsbeschluss, durch Revision dieses Börsengesetzes morgen früh die Spekulation auf Grundnahrungsmitteln verbieten.

Kitzler: Aber ist das nicht illusorisch, dass ein solch wichtiges Marktsegment vor der Börse sich schützen lässt gewissermaßen?

Ziegler: Ja, Sie haben recht, das ist nicht einfach, aber ich glaube, wenn es um das Leben der Menschen geht – und ich sage noch einmal deutsch, in der Demokratie gibt es keine Ohnmacht, es gibt ein Bewusstsein, und wenn die deutsche Bevölkerung sagt, so geht es nicht, wir wollen nicht Komplize sein im Massenmord in Afrika, in Zentralamerika, in Südasien wegen der Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmitteln, dann muss dieser Druck des öffentlichen Bewusstseins des Bürgers genügen, damit diese Gesetzesreform durchgesetzt wird.

Ich bin sehr, sehr hoffnungsvoll. Denn Deutschland zum Beispiel hat den größten Anteil an der Spendentätigkeit, die deutsche Welthungerhilfe ist die größte Nichtregierungsorganisation an der Hungerfront. Und das Spendenaufkommen in Deutschland ist groß, jeder Euro, der gespendet wird jetzt, wo wir reden, rettet ein Kind, das ist absolut sicher. Und deshalb glaube ich, dass dieses steigende Bewusstsein der fürchterlichen Tragödie und unsere Verantwortung dazu führen wird, dass politische Reformen durchgesetzt werden können.

Kitzler: Jean Ziegler, der frühere Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung, jetzt ist er Mitglied des UNO-Menschenrechtsrats, über die zunehmende Spekulation mit Lebensmitteln und die Folgen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Ziegler!


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