Jean-Philippe Toussaint: "Fußball"

"Ich tue so, als schriebe ich über Fußball"

Fußball Testspiel: Deutschland - Chile am 05.03.2014 in der Mercedes-Benz Arena in Stuttgart. Der deutsche Torhüter Manuel Neuer hechtet nach einem Ball.
Manuel Neuer hechtet bei einem Testspiel nach einem Ball. © dpa / picture alliance / Bernd Weißbrod
Von Peter Peter Urban-Halle · 10.06.2016
Der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint legt zu Beginn der Europameisterschaft ein Buch über Fußball vor. Im Kern geht es in seiner nichtlinearen Sammlung assoziativer Gedanken allerdings um ein noch wichtigeres Thema.
Uninteressante Fußballbücher gibt es zuhauf, dürfte Toussaint sich gedacht haben, ich schreib jetzt mal ein interessantes. Dieses ist interessant, weil hier der Fußball zwar als eine Art Orientierungsmarke, manchmal auch Anhaltspunkt dient, aber nicht im Mittelpunkt steht: "Was bedeutet im Grunde schon der Fußball. Die Zeit verrinnt, und auf den Brücken entfernen sich in aller Stille flüchtige Silhouetten von Frauen auf Fahrrädern mit einem Sonnenschirm in der Hand."
Es gibt also massenhaft Dinge, die wichtiger sind als Fußball: "Brücken", "Stille", "Silhouette", "sich entfernen" und nicht zuletzt "Frauen". Vielleicht könnte man die Summe all dessen "Leben" nennen.

Die vergehende Zeit

Noch wichtiger aber ist für Toussaint die vergehende Zeit. Schon recht bald kommt der Schlüsselsatz: "Ich tue so, als schriebe ich über Fußball, aber ich schreibe, wie immer, über die Zeit, die verrinnt."
Der Satz steht in dem kurzen Kapitel mit der Überschrift "Apotropäisch" (das heißt: Unheil abwehrend). Auch hier kommt Toussaint wie selbstverständlich auf die Frauen zu sprechen, besonders ihre "nächste Nähe" (er wird noch genauer), in der die vergehende Zeit als wohltuende, eben Unheil abwehrende Zärtlichkeit wahrgenommen wird.
Es ist das letzte von 15 kurzen Kapiteln des ersten Teils, die wie in einem persönlichen Lexikon nach Stichwörtern geordnet sind, z.B. "Entzücken" oder "Offene Operation", "Künstler", "Verderbliche Nahrung".
Was heißt das alles? Der Zauber von Toussaints Prosa besteht aus einer nichtlinearen Sammlung (nichtlinear sind auch seine Romane, zuletzt die hinreißende Tetralogie über Marie) mal assoziativer, mal philosophischer Gedanken, denen er freien Lauf lässt und von denen er sich selbst ziehen lässt; manchmal erscheint er gar als Vollzugsbeamter seiner grenzenlosen Gedanken, seiner "pensées".

Am Ende landet er bei seiner Frau

"Pensées" heißt das berühmte Werk des französischen Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal, den Toussaint schon in seinem Debüt "Das Badezimmer" (1987) mehrmals erwähnt. Toussaint interessiert an Pascal sicher weniger dessen Apologie des Christentums, sondern eher die Vorstellung von der Einheit der Dinge, vor allem von dem Einklang von Herz und Verstand. Aus dem Zusammenspiel der Dinge, der banalsten wie der höchsten, folgt, dass bei Toussaint das Sujet nebensächlich ist. In einem frühen Gespräch hat er mal sinngemäß gesagt, es sei besser, über etwas Langweiliges interessant zu schreiben als umgekehrt.
Der zweite Teil des schmalen Buchs (es gibt von Toussaint keine dicken) ist nach den Fußball-Weltmeisterschaften ab 1998 geordnet, aber natürlich sind es keine Reportagen. "Brasilien 2014" mündet in kleinen, klugen Reflexionen über den schöpferischen Prozess beim Schreiben.
Er ist für ihn ein "Akt des Widerstands", aber auch gleichbedeutend mit "Feingefühl, Zartheit, Sanftheit und Würde" – so ziemlich das Letzte, was uns zum Thema Fußball eingefallen wäre. Ist es ein Wunder, dass er am Ende wieder bei den Frauen landet, seiner eigenen, die nach einem Spiel fragt: "Ist der Fußball vorbei?" Darauf folgen die abschließenden Worte: "Ja, er war vorbei. – Jetzt ist der Himmel."

Jean-Philippe Toussaint: "Fußball"
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 2016
126 Seiten, 17,90 Euro