Jean Echenoz: "Die Caprice der Königin"

Die Kunst der Komprimierung

Ein Porträt des Autors Jean Echenoz
Der Autor Jean Echenoz © AFP / Pierre Verdy
Von Martin Becker · 04.04.2016
Wie ein roter Faden ziehe sich das Nachdenken über die Vergänglichkeit durch den neuen Erzählband von Jean Echenoz, sagt unser Kritiker Martin Becker. "Die Caprice der Königin" sei zart, verspielt und schier grenzenlos elegant geschrieben.
Der berühmte englische Admiral Nelson gewinnt im 18. Jahrhundert Seeschlacht um Seeschlacht. Jetzt sitzt der Held da und diniert, umringt von seinen Bewunderern. Bis er mitten im Essen plötzlich aufsteht und in den Wald tritt – um ihn allein und mit nur einer Hand aufzuforsten. Damit etwas von ihm bleibt. Am Ende erfahren wir sehr detailliert auch noch von der tödlichen Kugel, die Nelson während einer Seeschlacht trifft. Ein ganzes Leben wird uns erzählt, funkelnd und präzise. Das Erstaunliche daran: Jean Echenoz braucht dafür exakt sieben Seiten.

Sätze voller Kraft und Schönheit

Schon dieser Auftakt von "Die Caprice der Königin" ist furios und literarisch perfekt gearbeitet. Er macht gleich klar, dass es sich bei dem Buch um einen echten Echenoz handelt. Wie kaum einem anderen Schriftsteller der Gegenwart gelingt es ihm, in schmalen Romanen, beispielsweise "14" über den Ersten Weltkrieg, die Kunst der Komprimierung auf die Spitze zu treiben. Bei Jean Echenoz ist nie ein Wort zu viel. Und jeder einzelne Satz strotzt vor Kraft und Schönheit.
Die Erzählungen in "Die Caprice der Königin" haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun: So fährt der Erzähler in einer Geschichte an drei verschiedenen Sonntagen in die Pariser Banlieue, allein mit dem Ziel, ein Baguette zu verspeisen. Dann reist der antike Geschichtsschreiber Herodot nach Babylon, um bei der Ortsbegehung einige seiner schriftstellerischen Fehler zu korrigieren. Oder wir sehen einem Vater und seinem Sohn dabei zu, wie sie hilflos versuchen, die Leere nach dem Tod der Mutter zu verdrängen: "Da nun alles verbrannt war – die Mutter, die Möbel und die Fotos von der Mutter –, gab es für Fabre und seinen Sohn Paul gleich sehr viel zu tun: So viel Asche, so viel Trauer, umziehen, in Einkaufsmärkten einen Haushalt zusammenkaufen."

Eine der wichtigsten Stimmen französischer Literatur

Das Nachdenken über die Vergänglichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. So lesen sich die Geschichten wie Variationen auf ein nie ausgesprochenes Thema: Es geht um den Abriss von Gebäuden, das Verschwinden von Menschen, das Erlöschen von Hoffnungen. Dabei wird das Buch niemals allzu schwer oder melancholisch: Mit seiner Verspieltheit und leisen Komik, mit seiner Zartheit gegenüber den Figuren und einer schier grenzenlosen Eleganz löst Jean Echenoz beim Lesen immer wieder Glücksgefühle aus.
Es ist ein kleines Buch, für das man sich Zeit nehmen muss. Keine der Geschichten liest sich einfach so weg. Doch der Aufwand lohnt sich – ist man der betörenden Magie des Jean Echenoz verfallen, dann kann man nicht mehr aufhören, ihn zu lesen. Eine der wichtigsten Stimmen der französischen Literatur in Hochform.

Jean Echenoz: "Die Caprice der Königin"
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Verlag Hanser Berlin, Berlin 2016,
144 Seiten, 17,90 Euro

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