Japanisches Universalgenie Kumagusu Minakata

Denk wild!

Ein Weg führt zur Galerie "21_21 Design Sight" in Tokio.
Die Galerie "21_21 Design Sight" in Tokio zeigt eine Ausstellung über das wilde Denken des japanischen Wissenschaftlers Kumagusu Minakata. © imago
Von Jennifer Rieger · 21.12.2017
Der exzentrische Japaner Kumagusu Minakata gilt manchen Anthropologen als Begründer einer alternativen Form der Wissenschaft. Eine Ausstellung über ihn in Tokio will zu wildem Denken ermutigen, das Raum für Chaos lässt - und dafür, die Welt als Ganzes zu erfassen.
"Beim nächsten Waldspaziergang, schau nach unten. Unter deinen Füßen erstreckt sich eine Stadt. Ein Netzwerk, gesponnen von Pilzen. Sie strecken ihre haarfeinen Myzelien in alle Richtungen aus, winden sich um Baumwurzeln, verdauen totes Laub, totes Holz, tote Tiere. Die geheimnisvolle Welt der Pilze bleibt uns meist verborgen – doch ohne sie gäbe es kein Leben. Sie sind es, die totes, organisches Material in seine Bestandteile zerlegen und Nährstoffe freigeben. Damit neues Leben entstehen kann."
Wir verlassen die unsichtbare Architektur aus Pilzhyphen im Untergrund und betreten eine Stadt im Makroformat. Ein Netzwerk aus Straßen, gesponnen von Menschen, die produzieren, wegwerfen und neu produzieren. Neues Leben entstehen lassen – und altes wiederentdecken. Wie die Galerie 21_21 Design Sight in Roppongi, einem schicken Viertel Tokios: Sie widmet eine Ausstellung dem "Untamed Mind", dem ungezähmten Verstand.
"Wild zu sein, wird heutzutage immer schwieriger. Aber evolutionsbiologisch betrachtet, hat sich die Spezies Homo sapiens in den letzten 10.000 Jahren kaum verändert."
Kurator Shinichi Nakazawa. Der Anthropologe und Philosoph lehrt an der Meiji Universität in Tokio und leitet dort das Institut pour la Science Sauvage.

"Wir können immer noch wild sein"

"Diese Ausstellung, im Herzen der belebtesten Stadt, soll die Menschen daran erinnern, dass wir heute immer noch wild sein können – trotz allen technologischen Fortschritts."
Der erste Teil der Ausstellung ist deshalb einem japanischen Universalgenie gewidmet, das in Europa kaum bekannt ist: Kumagusu Minakata.
"In Deutschland gab es berühmte Naturforscher wie Leibniz und Humboldt aber in Japan waren solche Persönlichkeiten selten. Das liegt auch an der Einzigartigkeit der japanischen Sprache. Sie macht es schwierig, andere Sprachen zu lernen. Europäische Sprachen, aber auch Persisch, Hebräisch, Hindi – und sich damit Wissen dieser Kulturen anzueignen. Kumagusu aber beherrschte alle diese Sprachen."
Kumagusu Minakata wird 1867 in der Präfektur Wakayama geboren, eine dicht bewaldete, bergige Region Japans. Schon früh liest er ganze Enzyklopädien und kopiert sie aus dem Gedächtnis. Ein guter Schüler ist Kumagusu trotzdem nicht. Statt im Unterricht zu sitzen, treibt er sich in den Bergen herum, sammelt Pflanzen, Tiere und Steine.

Nicht alle akzeptieren den Exzentriker

Zu dieser Zeit endet in Japan die Zeit der Shogune – und damit die Isolation des Inselstaats. Kumagusu Minakata geht zum Studieren in die USA – aber statt einen Abschluss zu machen, liest er und widmet sich seinen Sammlungen. Später zieht es ihn nach London, wo er bald seinen ersten Artikel in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Etliche Artikel folgen und bringen ihm den Respekt der akademischen Kreise Englands ein.
"Kumagusu arbeitete am British Museum und las alle möglichen Bücher. Er schrieb über viele Themen: Anthropologie, Mythologie, Archäologie und Biologie. Er war der erste Japaner, dessen akademische Leistungen weltweit anerkannt wurden."
Trotzdem: nicht alle der britischen Gelehrten akzeptieren den exzentrischen Japaner – viele sehen in ihm einen Wilden. Im Lesesaal des British Museum gerät er immer wieder in Streits. Vielleicht ist es Minakatas feuriger Charakter, vielleicht rassistische Bemerkungen, die er nicht auf sich sitzenlassen will – einmal verpasst er einem besonders impertinenten Zeitgenossen einen Faustschlag auf die Nase.
Nach dem Vorfall kehrt Kumagusu Minakata nach Japan zurück - und widmet sich in den Bergen der Region Kumano dem Studium der Natur. Besonders faszinieren ihn Pilze und Schleimpilze.
"Trotz ihres Namens sind Schleimpilze keine Pilze, sondern Einzeller. Sie kriechen als Amöben durch die Gegend und bilden schleimige Filme, die uns Menschen unscheinbar vorkommen mögen. Doch in dieser Form sind sie am lebendigsten."

Minakata entwickelt eigene Theorien

Minakata liebte die Zweideutigkeit dieser Lebewesen, weil sie die klassischen Kategorien der Naturwissenschaften infrage zu stellen schienen – weder Pflanze noch Tier, mit fließenden Übergängen zwischen Leben und Tod.
"Aus den Amöben entstehen Fruchtkörper – doch diese anmutigen Gebilde sind in Wirklichkeit halbtot, nicht viel mehr als ein Behältnis für Sporen, aus denen neue Amöben entstehen werden."
Der Naturforscher entdeckt rund 100 neue Arten. Im frühen 20. Jahrhunderts bemühen sich die japanischen Universitäten, sich die intellektuellen Errungenschaften des Westens anzueignen – der Graben zwischen der traditionellen, ganzheitlichen Weltanschauung und den modernen Prinzipien der Naturwissenschaften wird immer größer.
Aber Minakata macht diese Entwicklung nicht mit. Stattdessen führt er ein Eremitendasein in den wilden Wäldern Kumanos und entwickelt eigene Theorien, beeinflusst von seinen Naturbeobachtungen – und dem Buddhismus. In einem besonders inspirierten Brief an seinen Freund, den buddhistischen Shingon-Priester Dogi Horyu kritzelte er wilde Zeichnungen und Notizen, die manche Historiker heute als das Herzstück seiner Arbeit betrachten: das Minakata-Mandala.
Im 21_21 Design Sight hängt eine Kopie des Briefs. Auf den ersten Blick ist das Mandala nur ein Knäuel sich kreuzender Linien, umgeben von Notizen. Doch für Kurator Shinichi Nakazawa ist es der Versuch, eine komplett neue Wissenschaft zu entwerfen.

Was können wir von einem Schimpansen lernen?

"Wir leben in einem holistischen Universum. Wir Menschen versuchen heute immer, rationale Erklärungen zu finden – Ursache und Wirkung. Aber Kumagusu wollte ein holistisches Gesetz finden, für unser holistisches Universum. Er fand einen Ansatz in den Lehren des Buddhismus."
Mit dem Ursache-Wirkungs-Prinzip, der Grundlage der modernen Naturwissenschaften, sagt der Anthropologe, stoßen wir irgendwann an die Grenzen unseres Verständnisses.
Im Buddhismus dagegen gibt es das Konzept...
"Engi, interdependence. The interdependence logic."
"Nichts besteht für sich, sondern nur im Verhältnis zu allem anderen."
An seinem Institut pour la Science Sauvage will Shinichi Nakazawa die Ideen des Universalgenies Kumagusu Minakata in die Sprache des 21. Jahrhunderts übersetzen. Wie lässt sich das fragmentierte Expertenwissen der Welt wieder zu einem Ganzen zusammenfügen? Was können wir lernen, wenn wir uns in einen Schimpansen hineinversetzen, statt uns von ihm abzugrenzen? Nakazawa will zu wildem Denken ermutigen, das Raum für Chaos lässt, für scheinbar abwegige Verbindungen und dafür, die Welt als Ganzes zu erfassen.
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