Jährlicher Klangwechsel

Von Susanne Arlt · 05.07.2010
Im Jahr 2001 begonnen, mit einer Spieldauer von 639 Jahren: John Cages "organ2/ as slow as possible" ist das wohl längste Musikstück aller Zeiten. In der Halberstädter Burchardikirche verabschiedet sich jetzt das zweigestrichene e aus dem Orgelklang und macht Platz für einen Tonwechsel.
Seit 17 Monaten dröhnten Tag und Nacht exakt sieben Töne aus der St. Burchardikirche in Halberstadt: ein C, ein D, ein E, ein Fis, ein Gis, ein As und ein A. Nicht jeden beglückte dieser blecherne Klang. Nachbarn haben sich beschwert, sie könnten nachts nicht mehr ruhig schlafen. Darum ist normalerweise eine Plastikhaube über das noch unfertige Instrument gestülpt, aus dem einmal eine John-Cage-Orgel werden soll. Die Haube dient als Lärmschutz und wird nur zu ganz besonderen Anlässen entfernt.

Heute Nachmittag war wieder solch ein Anlass. Partiturgemäß stand nach fast anderthalb Jahren der nächste Klangwechsel an. Es ist inzwischen der neunte des wohl längsten Musikstücks der Welt.

Laura Kuhn, Direktorin des John Cage Trust New York, ist für diesen Klangwechsel extra aus den Staaten angereist. Die Musikerin war eine enge Mitarbeiterin des US-amerikanischen Komponisten und ist heute als Vermittlerin seiner Musik, Kunst und Philosophie weltweit unterwegs. Die Aufregung ist ihr anzusehen, als sie sehr vorsichtig und bedächtig eine der insgesamt sieben silbern glänzenden Orgelpfeifen aus der Buchse zieht. Nach ein paar Sekunden ist das zweigestrichene E verstummt.

Auch der neue Klang bleibt dissonant. In der Partitur der Komposition von John Cage kommt an keiner Stelle ein klassischer Dreierklang vor. Wie viele dieser Klangwechsel noch stattfinden werden, ist unklar. Der letzte Ton aber wird am 5. September im Jahr 2640 erklingen, ist sich Rainer Neugebauer sicher. Der Politikprofessor ist einer der Macher des Langzeitprojekts.

"Das, denke ich, ist, was die meisten Leute fasziniert. Dieser Gedanke Umgang mit der Zeit, wir sagen das immer gerne mit dem Shakespeare Zitat: Das geht über den Menschenwitz hinaus. Also über das, was wir uns vorstellen können. Für mich ist einfach der Gedanke der Hoffnung und der Zuversicht, ich glaube, das ist eines der wichtigsten Sachen, die die Leute auch fasziniert. Unabhängig vom musikalischen Gehalt oder anderen Dingen."

Auch die 400 Zuschauer in der St- Burchardikirche sind von dem Spektakel begeistert. Klaus Dietze, der aus Halberstadt stammt, hat bislang jeden Klangwechsel mit seiner Kamera dokumentiert. Doch diesmal ist er ein bisschen enttäuscht.

"Nein bei diesem Mal ist mir kein Klangwechsel aufgefallen, ich konnte ihn akustisch nicht wahrnehmen. Also bei den anderen Malen ist es sehr stark gewesen, aber das wurde ja im Vorfeld angesagt, dass es nur eine leichte Veränderung ist und so gut ist mein Gehör nicht mehr."

Sechs elektrisch betriebene riesige Blasebälge sorgen stetig für den Wind, um die Orgel in Gang zu halten. Sandsäckchen hängen an den klobigen Holztasten, ziehen die Pedale nach unten, sodass die jetzt verbliebenen Töne bis zum nächsten Klangwechsel in sieben Monaten auch permanent zu hören sind. So muss kein Organist jahrelang tagein, tagaus regungslos am Instrument verharren.

1985 komponierte John Cage das moderne Musikstück für Klavier. Zwei Jahre später überarbeitet er es für die Orgel mit dem Hinweis, es so langsam wie möglich zu spielen. Genau das praktiziert man nun seit neun Jahren in Halberstadt. Laura Kuhn, die ehemalige Mitarbeiterin von John Cage, ist von dieser Idee begeistert.

Im kommenden Jahr wird es für die Macher des wohl längsten Musikstücks der Welt ein bisschen hektischer. Denn dann sollen gleich zwei Klangwechsel in nur einem Jahr stattfinden. Zum ersten Mal werden dann auch zwei Basspfeifen zu hören sein. Und damit die Nachbarn auch künftig ruhig schlafen können, werden schallisolierte Fenster in das ehemalige Kloster eingebaut.