Jack Urwin: "Boys don't cry"

Plädoyer für ein neues Männerbild

Cover - Jack Urwin: "Boys don't cry"
"Wahre Männlichkeit": für Urwin eine reife Stärke, die aus bestandenen Konflikten hervorgeht © Edition Nautilus / picture-alliance/ dpa / Wolfram Steinberg
Von Christiane Enkeler · 04.03.2017
Stark, mutig, hart: Noch immer ist Männlichkeit mit solchen Attributen verbunden. Der junge Brite Jack Urwin hat ein großkotziges, aber auch heldenhaftes und grundsympathisches Buch geschrieben, das dem überkommenen Männlichkeitsideal etwas entgegensetzen will. Nicht nur für Männer!
Es ist ein sehr persönliches Buch geworden, das Jack Urwin geschrieben hat: Drei Wochen vor seinem zehnten Geburtstag hat er den Tod seines Vaters miterlebt. Richard Urwin hatte eine Grippe, sagte seinem Sohn, es gehe ihm besser – um dann im Bad zu sterben. Jack streichelte später die Katze, die sich auf die Brust des toten Vaters gesetzt hatte.
"Boys don't cry." Das hört der Brite, Jahrgang 1992, auch heute noch im öffentlichen Raum. Dabei müssten wir doch alle schon viel moderner sein und kein angeblich geschlechtsspezifisches Verhalten mehr erwarten. "Jungen weinen nicht." Nein, sie sterben lieber, sagt Urwin. Sein Vater muss im Vorfeld einen Herzinfarkt erlitten haben, von dem er niemandem erzählt hatte.

Wenn Unsicherheit zu "toxischer Männlichkeit" führt

Von solch einem normativen Männlichkeitsbild sieht Jack Urwin nicht nur seinen Vater und sich betroffen. Er schreibt über Männer, die in der modernen Welt ihr männliches Selbstverständnis nicht mehr aus einer gesellschaftlichen Rolle, sondern aus ihrem Verhalten gewinnen müssen, mit dem sie Mut, Stärke, Kraft demonstrieren. Und deren Unsicherheit manchmal zu etwas wird, das Urwin "toxische Männlichkeit" nennt: eine "Überkompensation".
Urwin schreibt über Risikobereitschaft und Gewalt, über Hooligans und das Militär in Großbritannien und den USA, über Metrosexualität und Anorexie, über Beziehungen, Homophobie und Männerrechtsaktivisten. Er schreibt auch über männliche Jungfräulichkeit und diskutiert, wann eine Vergewaltigung beginnt.

Nichts in Urwins Buch ist wirklich neu

Seine erklärte Absicht bei all dem ist: einen praktischen Ratgeber zu schreiben. Und dieser lässt sich auf zwei grundlegende Empfehlungen herunterbrechen. Erstens: Der Wert eines Menschen hängt nicht an seinem biologischen Geschlecht. Zweitens: Pass auf, wie du mit den Menschen um dir herum umgehst, denn alltäglich geäußerte Worte können tödlich sein, wenn sie Erwartungen formulieren oder Spott.
Deswegen richtet sich das Buch nicht nur an Männer, sondern an uns alle. Das Buch ist ein geschickter rhetorischer Drahtseilakt. Es flackert zwischen Prahlerei und Understatement; nichts ist wirklich neu, aber kraftvoll in den Raum geworfen und darin herumgekickt: "Es ist nicht schwer, unterschiedliche Theorien aufzudröseln und ihre Vor- und Nachteile zu diskutieren, aber in ihrer Widersprüchlichkeit nützen sie niemandem, der sich tatsächlich verändern möchte."
Jack Urwin steht als Autor vor einer Herausforderung: Wenn er Menschen ansprechen möchte, die sich nun mal von Stereotypen angesprochen fühlen, und dafür nutzt er dann genau diese Stereotype, die er eigentlich aushebeln möchte – stärkt er sie damit nicht auch? Urwins Lösung: Er stellt "wahre Männlichkeit" als wünschenswertes Ziel dar, das man sich aber "verdienen" muss. Eine reife Stärke, hervorgegangen aus bestandenen Konflikten. Und das ist dann etwas, was eigentlich nicht nur für Männer ein Ziel ist.
Jack Urwin hat ein großkotziges, aber auch heldenhaftes und grundsympathisches Buch geschrieben. Wir könnten wirklich mehr darauf achten, wie wir miteinander umgehen. Und es wäre schön, wenn er auch die erreicht, die bislang eher schweigen.

Jack Urwin: Boys don't cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit
Edition Nautilus, Hamburg 2017
232 Seiten, 16,90 Euro

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