J. Wertheimer, I. Holz, F. Rogge: "Maidan, Tahrir, Taksim"

Über die Sprache der Plätze

Jürgen Wertheimer, Isabelle Holz, Florian Rogge: "Maidan,Tahrir,Taksim"
Jürgen Wertheimer, Isabelle Holz, Florian Rogge: "Maidan,Tahrir,Taksim" © Verlagshaus Römerweg / Stringer / Sputnik / dpa
Von Carsten Hueck · 04.12.2017
Schon im antiken Rom und Athen waren Forum und Agora Versammlungsort für die Bürger der Stadt. Nun haben Plätze als Versammlungsorte wieder an Bedeutung gewonnen. Ein Autorenteam untersucht anhand des Maidan, Tahrir und Taksim Platzes das Szenarium des Aufstands.
Seit einigen Jahren feiert die Stadt als politischer Raum ein Comeback. Im Januar 2011 versammelten sich Zehntausende auf dem Tahrir Platz in Kairo, um gegen die Herrschaft des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak zu demonstrieren. In den folgenden Tagen wuchs die Zahl der Protestierer auf mehrere Hunderttausend. Zwei Jahre später rückten erneut öffentliche Plätze in den Focus der Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und Volk: in Istanbul der Taksim-Platz, in Kiew der Maidan – auf dem sich im Dezember 2013 bis zu einer Million Menschen zusammenfanden.
Ein Autorenteam, bestehend aus den Komparatisten Isabelle Holz und Jürgen Wertheimer, sowie dem Germanisten und Politikwissenschaftler Florian Rogge, untersucht anhand dieser Plätze das Szenarium des Aufstands. Die gut lesbare und zur Reflexion einladende Arbeit der drei Autoren will weder Detailstudie noch Gesamtdarstellung der jeweiligen Ereignisse sein, sondern ein Essay, der Fragen stellt – nach Geschichte, Symbolik und Vergleichbarkeit der drei Plätze.

Markt- und Kampfplatz

Historisch gesehen gehören im europäischen Kulturraum Platz und Stadt zusammen. Schon im antiken Rom und Athen waren Forum und Agora Versammlungsort für die Bürger der Stadt. Später richteten kommunale Regierungen in vielen Städten ihren Sitz an einem Platz ein. Der offene, von Architektur umgebene Raum wurde Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins, dann auch nationaler Repräsentanz, im 19. Jahrhundert gerne genutzt für Aufmärsche, Paraden und nationale Gedenkfeiern.
Im 20. Jahrhundert trat stärker das opponierende Volk hervor. Auf dem Prager Wenzelsplatz begann die "Samtene Revolution", auf dem Berliner Alexanderplatz wurde der Mauerfall vorangetrieben. Die Autoren erkennen hier das Verschmelzen zweier Strukturen, der von Markt- und Kampfplatz. Das Volk, das in der altrömischen Arena ein Geschehen umlagerte, wird nun selbst zum Akteur und bildet eine "Erregungsgemeinschaft". Augenfällig wurde das, als in der ersten Phase der Proteste in Kairo wie in Istanbul und Kiew radikale Fußballfans eine zentrale Rolle als "Beschützer der Plätze" einnahmen.

Arena für ganz unterschiedliche Gesellschaftsmodelle

Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, das in den drei Städten der Durchgangsort Platz zur Bühne einer Gegenöffentlichkeit wurde, zu einem dauerhaften Ereignis, gar zur Festung. Und jeder der drei Plätze war zum Zeitpunkt der jüngsten Proteste bereits historisch und emotional aufgeladen, ein Spiegel vergangener politischer Ereignisse und Erfahrungen. Die Präsenz von Nationalflaggen auf den drei Plätzen versinnbildlicht, dass über den Protest hinaus eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität stattfand: Auf dem Tahrir trafen Militär, Muslimbrüder, Säkulare, Künstler, Männer und Frauen zusammen, die in der Arena auch für ganz unterschiedliche Gesellschaftsmodelle kämpften.
Ähnlich verhielt es sich auf dem Maidan, wo linke und europafreundliche Demonstranten gemeinsam mit Rechtsnationalisten und Kosaken Barrikaden bauten. Die Autoren halten fest: Der "Teilchenbeschleuniger" Platz produziert nicht nur Unbedenkliches. Dennoch haben die Revolten, die von den Plätzen ausgingen und sich in ihnen manifestiert haben, ihrer Ansicht nach eine kulturelle Revolution bewirkt, das kollektive wie das individuelle Bewusstsein verändert.

Plätze als gesellschaftliche Gegenräume

Wertheimer, Holz und Rogge definieren die Plätze einerseits als Heterotopien, gesellschaftliche Gegenräume, Instrumente politischer Willensbildung. Andererseits aber weisen sie – am Beispiel des Taksim Platzes – darauf hin, dass das Konzept des Platzes, wenn man es im rechten Moment zu nutzen versteht, auch reaktionären Kräften dient: Die Bilder des von Erdogan-Anhängern nach dem Putsch besetzten Taksim Platzes sind kaum von denen aus der Zeit der Gezi-Proteste zu unterscheiden.

Jürgen Wertheimer, Isabelle Holz, Florian Rogge: "Maidan, Tahrir, Taksim. Die Sprache der Plätze. Protest, Aufbruch, Repression", Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2017, 114 Seiten, 15,00 Euro

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