Ist Calvinismus, was von Calvin übrig blieb?

Sabine Witt im Gespräch mit Herbert A. Gornik · 04.04.2009
Muße und Müßiggang sind vom Teufel. Nur wer erfolgreich lebt, der lebt Gott wohlgefällig. - Johannes Calvin hat mit seinen Lehren die protestantische Arbeitsmoral und -ethik maßgeblich beeinflusst. Zum 500. Todestag widmet das Deutsche Historische Museum dem Reformator die Ausstellung "Calviniusmus. Die Reformierten in Deutschland und Europa".
Herbert A. Gornik: Sabine Witt und Ansgar Reiß sind die Kuratoren der Ausstellung "Calviniusmus. Die Reformierten in Deutschland und Europa". Das ist eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, zusammen mit der Johannes-a-Lasco-Bibliothek Emden im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Dr. Sabine Witt ist jetzt zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Warum heißt die Ausstellung "Calvinismus" und nicht zum Beispiel "Johannes Calvin, das unbekannte Wesen"?

Sabine Witt: Wir haben uns eigentlich ganz bewusst dafür entschieden, diesen weiter gefassten Begriff zu wählen, der sicherlich auch polarisieren wird. Man muss vielleicht auch dazu sagen, Calvinismus, Calvinist ist ein Schimpfbegriff, wie er im 16. Jahrhundert von den Lutheranern verwendet worden. Insofern gab es im Vorfeld längere Diskussionen, ob man diesen Begriff wirklich nehmen kann. Wir haben diesen Begriff gewählt und nicht den Namen desjenigen, dessen 500. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, Johannes Calvin, weil es uns eben nicht nur um die Person geht, sondern es geht um die reformierte Bewegung, um den reformierten Protestantismus, den wir insgesamt als Bewegung vorstellen wollen.

Gornik: Nehmen wir mal drei Beispiele und gehen wir über Europa hinaus: Niederlande, Schweiz und USA. Das sind drei Länder mit drei calvinistischen Erben. Was ist in diesen drei Ländern auffällig Calvinismus?

Witt: Es ist sicherlich eine gewisse Selbstbeschränkung, wenn man das so möchte. Es ist ein gewisser Drang, sich selbst auszudrücken, Erfolg zu haben, diesen Erfolg auch zu präsentieren, gleichzeitig aber eben nicht ihn zu benutzen zu einer Selbstdarstellung, sondern es geht immer darum, Erfolg zu haben und diesen Erfolg auch zurückzugeben der Gesellschaft. Das zeigt sich in der Schweiz, das zeigt sich vor allen Dingen auch in den Niederlanden. Die USA haben wir in diesem Falle aus der Ausstellung ausgeklammert.

Gornik: Es heißt im Calvinismus ja, wer erfolgreich lebt, der lebt Gott wohlgefällig und ehrt Gott damit. Muße und Müßiggang sind vom Teufel. Ist Calvin und ist der Calvinismus auch der Vorläufer sozusagen der effektiven Zeiteinteilung?

Witt: Das wird gerne mit ihm in Verbindung gebracht, gerade aufgrund seiner Hauptwirkungsstätte Genf. Genf ist ja noch heute das Zentrum der Uhrenmanufaktur. Wir zeigen auch einige sehr schöne Beispiele aus diesem Genfer Manufakturwesen in Genf, verbinden das ebenfalls mit dem Gedanken des Protestantismus, des reformierten Protestantismus, um eben auszudrücken, Uhren waren damals Güter der Repräsentation, die nicht unter das Luxusgütergesetz fielen, wie es Calvin aufgestellt hatte. Das heißt, es war für viele Reformierte in der Schweiz das einzige Mittel, Repräsentation nach außen zu zeigen, Pracht zu entfalten, ohne sozusagen gegen die strengen Gesetze des Genfer Rates und der Genfer Kirche zu verstoßen.

Gornik: Nun ist unser Bild ja von Calvinismus und besonders von Calvin buchstäblich von seinem Bild, von den bildlichen Darstellungen her bestimmt. Der Mann sieht auf Bildern leidend aus, blutleer, streng, mit eingefallenen Wangen, lustfeindlich, müde und weltentrückt. Also dem würde man ungern im Wald begegnen und wahrscheinlich auch, um es mal salopp zu sagen, nicht gerade einen Gebrauchtwagen von ihm kaufen. Ist das eigentlich ein Bild des Mitleids oder eher eins zum Fürchten? Wie kommt das Bild zustande?

Witt: Man weiß ja nie, wie diese Bilder wirklich entstanden sind. Also man hat von keinem Gemälde wirklich eine Geschichte, eine Auftragsgeschichte. Insofern müssen wir uns auch wirklich fragen, ob es ein reelles Bild dieses Reformators ist. Tatsache ist aber wohl, dass er einen Menschen zeigt, der dem von Calvin sehr nahe steht. Wir wissen von Calvin, dass es ihm gesundheitlich sehr, sehr schlecht geht, dass er von morgens bis abends gearbeitet, dass er sich selbst in seiner Person überhaupt nicht zurückgenommen hat und sich quasi um Kopf und Kragen gearbeitet hat. Das kommt in diesen Bildern durchaus zum Ausdruck. Das kann man durchaus sagen, dass hier eine Person getroffen ist, die Calvin sehr deutlich oder sehr nahe steht.

Gornik: Er soll im Studium sogar Hunger gelitten haben und vor Hunger manchmal schon gar nicht mehr essen können. Ist das auch ein Ausdruck vielleicht dieses Gesichtes oder vielleicht auch der Disziplin, dass er gelernt hat, mit ganz wenig auszukommen?

Witt: Das mag sein, ich denke, da begibt man sich aber immer bei diesen Deutungen natürlich ein wenig in den Bereich der Spekulation. Wir haben leider nicht sehr viele persönliche Zeugnisse von Calvin selber. Was eine große Fundgrube ist, das sind die Briefe, die von ihm erhalten sind in großer Zahl, in denen er auch sehr persönlich wird. Das ist etwas, was man sonst von Calvin ja eher nicht hat. Also es gibt keine persönlichen Gegenstände von ihm, sondern es sind tatsächlich die Briefe, in denen er in Korrespondenz mit Freunden, mit Kollegen – europaweit übrigens – auch über seine persönliche Situation berichtet, also beispielsweise in großer Trauer über den Tod seiner Frau 1549 berichtet oder aber eben auch seine gesamte Krankengeschichte erzählt.

Gornik: Über den Erfolg und das Arbeitsethos haben wir gerade schon gesprochen, Disziplin ist für ihn und für den Calvinismus ein ganz besonders wichtiger Begriff. Hängt der auch mit seiner Herkunftsgeschichte zusammen?

Witt: Das lässt sich vermuten, er hat ja eine bewegte Geschichte. Er ist ein Flüchtling, das muss man dazu sagen, er ist in Frankreich geboren, wurde aufgrund der Verfolgungen dort gezwungen, sein Heimatland zu verlassen, ist auch nie wieder für längere Zeit nach Frankreich zurückgekehrt, fand dann in Genf seine Hauptwirkungsstätte und entwickelte dort wirklich auch ein Kirchensystem von Exil- und von Flüchtlingsgemeinden. Und bei diesen Flüchtlingsgemeinden, das können wir an einzelnen oder einigen Beispielen in der Ausstellung eigentlich sehr schön zeigen, entwickelte sich ein besonderes System, eine besondere Organisation der Gemeinden. Denn all diese Exil- oder Flüchtlingsgemeinden befanden sich auf fremdem Boden, sie waren gezwungen, in der Fremde zu existieren, sich selber zu organisieren, sich auch selber zu finanzieren, weil sie eben auf die finanzielle Unterstützung seitens der Landesherren nicht zählen konnten. Daraus entwickelte sich ein sehr enges Netzwerk auch unter den Gemeinden. Wir haben ein Beispiel in der Ausstellung, das ist aus der Gemeinde in Neu-Isenburg, das sind Kirchenbücher aus dieser Gemeinde, eine ungeheure Fundgrube für uns. Das sind Aufzeichnungen aus der Gemeinde, die erstmals in Berlin oder außerhalb der Gemeinde präsentiert werden, die sehr schön in ihren Berichten zeigen, wie Kirchenzucht in den Gemeinden tatsächlich funktionierte. Das heißt, wer verstieß gegen die kirchlichen Gesetze, wie wurden sie geahndet, welche Kirchenmitglieder wurden sozusagen vor die Gemeinde zitiert, mussten Abbitte …

Gornik: Zum Beispiel, was passierte da?

Witt: Sie wurden durchaus erst mal, wenn jemand gegen dieses kirchliche Recht verstieß – das können unterschiedliche Anlässe sein, die uns vielleicht heute banal erscheinen, beispielsweise Weinlese am Sonntag oder aber natürlich, weniger banal, Ehebruch oder uneheliche Kinder oder auch ein unzüchtiges Verhalten, Streit in der Familie –, dann wurden diese Gemeindemitglieder vom Pfarrer besucht. Sie wurden aufgefordert, Eintracht zu wahren, Frieden zu schaffen innerhalb der Familie, sie wurden dann auch durchaus vor den Kirchenrat zitiert, mussten Abbitte leisten, mussten ihre Sünden gestehen, mussten um Vergebung bitten und konnten dann wieder in den Schoß der Gemeinde aufgenommen werden.

Gornik: Sie haben gerade gesagt, Calvin war ja selber ein Flüchtling. Er kam aus Frankreich nach Genf. Ihm ist es zu verdanken, dass viele vertriebene Hugenotten in Genf Heimat fanden, eine große Migrationsproblematik würde man das heute nennen. Es gab furchtbare Verwerfungen, wie es nicht anders ausbleibt, die städtische Bevölkerung verdoppelte sich fast durch die Flüchtlinge. Wie hat diese Gemeinde das Problem eigentlich in den Griff bekommen? Was hat sie für eine Struktur sich gegeben, dass es nachher, nach ein paar Jahren tatsächlich aufwärts ging, auch im wirtschaftlichen Sinne?

Witt: Das ist das Interessante. Die Flüchtlinge, die waren ja sozial sehr gemischt. Natürlich gab es auch ärmere, es gab aber auch wirklich Hugenotten, die enorm viel Wissen – ökonomisches Wissen, handwerkliches Wissen – mitbrachten und damit auch der Wirtschaft der Stadt Genf zugute kamen. Natürlich, Sie hatten es angesprochen, traf das nicht unbedingt auf die Begeisterung der alteingesessenen Genfer Bevölkerung, die um ihre Machtposition fürchteten, die auch Calvin selber als einen Fremdling immer betrachtet haben, der versuchte, die Macht in Genf zu übernehmen. Man schaffte das über die Jahre – das war ein längerfristiger Prozess natürlich, in dem es natürlich um städtebauliche Erneuerung geht, wo natürlich auch die Wohnbauten sich innerhalb weniger Jahrzehnte verdoppeln musste –, aber diese reformierte Gemeinde schaffte es durch eine große Anstrengung von Selbstdisziplin. Das heißt, die Flüchtlinge, die kamen, versuchten, ihre eigenen Streitigkeiten möglichst nicht nach außen zu tragen, also möglichst nicht den Obrigkeiten offenzulegen, sondern sie versuchten, ihre Streitigkeiten untereinander zu klären und sozusagen nach außen hin eine Friedens- und eine Eintrachtsgemeinschaft darzustellen. Das ging sehr gut durch das System, das Calvin in Genf entwickelt hat, aufbauend auf von Martin Butzer in Straßburg, das heißt eine Hierarchieteilung innerhalb der Gemeinde, eine klare Aufteilung von Ämtern und Funktionen und Aufgaben innerhalb der Gemeinde.

Gornik: Das waren vier Ämter besonders, nämlich die Doktoren, die Pastoren und Presbyter und die Diakone. Welche Aufgaben verbergen sich dahinter?

Witt: Die Doktoren waren für die Ausbildung der Theologen zuständig, die an die Genfer Akademie, die zu Calvins Zeiten gegründet wurde, die waren dafür zuständig. Die Pastoren natürlich für die Predigttätigkeit und die Seelsorge innerhalb der Gemeinde. Die Ältesten, die Presbyter, übernahmen sozusagen die Funktion der Gemeindeleitung. Ihnen oblag vor allem die Kirchenzucht, die Durchsetzung der Kirchenzucht. Das Interessanteste dieser vier Ämter sind sicherlich die Diakone. Das ist ein Laienamt, was hier in die kirchliche Hierarchie mit aufgenommen wird, das ist wirklich eine Novität. Und es ist ein Amt, das muss man auch dazu sagen, dass Frauen offenstand. Also es war keine allein männliche Domäne, sondern auch Frauen, Witwen normalerweise oder üblicherweise, konnten dieses Amt ausüben und für die Fürsorge bedürftiger Gemeindemitglieder wirken, also Gelder eintreiben, Gelder verteilen, Kleidung bereitstellen und sich um Hilfsbedürftige kümmern.

Gornik: Sabine Witt ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen". Sie ist die Kuratorin der Ausstellung "Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa". Diese Ausstellung läuft im Deutschen Historischen Museum Berlin. Sabine Witt, bei so viel Arbeitsethos, so viel Disziplin, auch so viel Kirchenzucht, so viel Aufsicht, da mutet es doch verwunderlich an, wenn gesagt wird, ja, der Calvinismus ist auch der Vorbereiter der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Viele Elemente dieser Republik Genf, die finden sich nachher in der demokratischen Verfassung wieder. Können Sie das nachvollziehen?

Witt: Es sind verschiedene Elemente, in denen unsere heutige Demokratie eventuell auf den Calvinismus zurückgehen kann. Das heißt, er bietet Ansatzpunkte, er bietet Lösungen sozusagen auf dem Weg zur Demokratie, wobei man das natürlich immer mit Vorsicht genießen muss, das ist klar. Es sind aber beispielsweise die Ideen des Widerstandsrechtes, die maßgeblich von calvinistischen Theologen mit entwickelt und formuliert worden sind, beispielsweise von Calvins Nachfolger Theodor Beza. Ein Exemplar dieser Schrift zeigen wir auch in der Ausstellung. Es sind Ideen der Gerechtigkeit, wie wir sie beispielsweise in einer großen Justitia-Figur, also einer Darstellung der Gerechtigkeit, mit dem Richtschwert in der Linken, der Rechtswaage in der Rechten, in der Ausstellung zeigen. Es ist interessant zu beobachten, dass die Staaten, in denen der reformierte Protestantismus, der Calvinismus, die beherrschende Konfession wurde, die Niederlande und die Schweiz, beides frühneuzeitliche Staaten sind, die sich sehr früh der Idee der Republik verschrieben und diese Herrschaftsform wählen.

Gornik: Sie haben vom Widerstandsrecht gesprochen, das ist nun genau etwas, wo immer gesagt wird, das ist der Grund, warum man die Reformierten eigentlich als Konfession bezeichnen kann. Also nicht evangelisch und katholisch die beiden Konfessionen, sondern es gibt noch eine dritte, nämlich die reformierte. Luther hatte ja die Lehre von den zwei Reichen geprägt – Gehorsam gegen Volk, Vaterland – den Protestanten in die Wiege gelegt, und es hat eben bis zum Nationalsozialismus gedauert bis zur Barmer Theologischen Erklärung, und das war eben der von Ihnen angesprochene Karl Barth, der sagte, nein, es gibt ein Widerstandsrecht. Und dieses moderne Widerstandsrecht geht auf Johannes Calvin zurück. Schillernd, aber daneben wieder das Bild Calvins verdunkelt – oder es ist nicht verdunkelt, er hat die Bilder aus den Kirchen entfernen lassen. Also der Bildersturm geht eigentlich durch das 16. Jahrhundert, zumindest im reformierten Bereich. Wieso das? Wie kann das zusammengehen mit einer anderen Beobachtung, dass in den Niederlanden, die Sie gerade als hoch calvinistisches Land bezeichnet haben, die Genremalerei, die Landschaftsmalerei, die Stillebenmalerei, genau in dieser Zeit eine Blütezeit erlebt?

Witt: Das ist vielleicht nur scheinbar ein Widerspruch. Der Calvinismus richtete sich ja – das muss man ganz deutlich mal sagen – nicht gegen alle Bilder. Er richtete sich gegen Heiligenbilder, das heißt, er richtete sich gegen Darstellungen von Gott, von Christus, von Maria, von den Heiligen selber, aber er verdammte …

Gornik: Mit welcher Begründung?

Witt: Mit der Begründung, sie würden zu einem Kultbild werden, sie würden selber verehrt werden und man möge eben keine Bilder verehren, sondern man möge Gottvater oder Christus selber verehren. Das stand dahinter sozusagen, also um keine Bilder verehren zu lassen. Calvin selbst aber hat sich weiß Gott nicht gegen die Abkehr sämtlicher bildenden Künste gewendet. Selbst in seiner "Institutio" schreibt er, er würde Bilder durchaus begrüßen, Bilder historischen Inhalts, also Historiengemälde oder Darstellungen mit alttestamentarischen Szenen, weil sie der Belehrung und – man höre und staune – sogar auch der Belustigung und der Unterhaltung dienen könnten.

Gornik: Er selber soll sogar Psalmenmusik komponiert haben, denn in den Kirchen wurde ja gesungen, aber nur Psalmen wurden gesungen?

Witt: Ja, es wurden nur die Psalmen König Davids aus dem Alten Testament gesungen. Calvin selbst hat sich tatsächlich versucht, er hat acht Psalmen bereimt, also sozusagen aus der Textform in eine singbare Form gebracht, hat dann aber wohl sehr schnell gemerkt, dass er das lieber Spezialisten überlässt. Und Theodor Beza und der Poet Clément Marot haben den Großteil des sogenannten Genfer Psalters dann erschaffen.

Gornik: Und das Berliner Vocalconsort hat diese Psalter eingesungen, bei Chrismon ist die CD erschienen, sehr empfehlenswert, einmal aus dieser Zeit die Melodien zu hören und auch die Texte zu hören und dann nachzulesen. Noch ein Vorurteil oder Urteil: Calvin gilt als außerordentlich milde. Mild war bei aller Kirchendisziplin der Umgang im brüderlichen und schwesterlichen Gespräch, so wird es berichtet. Andererseits gilt dieser milde Mann geradezu als Mörder, sagen manche. Er hat nämlich seinen theologischen und politischen Widersacher, Michael Servet, ans Messer oder besser an den Galgen geliefert. Aber nicht nur das, er hat auch dafür gesorgt, dass er vorher gequält wurde, nämlich durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. Ist das Vorurteil oder Urteil?

Witt: Das ist das gängige Bild, das von Calvin bis heute in der Öffentlichkeit existiert, das ist sicher. Diese Verbrennung von Servet kann man jetzt gar nicht rechtfertigen. Natürlich war das ein wirklich grauenhaftes Urteil, jemanden lebendigen Leibes am Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Ich denke, man muss es aber auch einmal in der Zeitgeschichte sehen – es ist ein Urteil, das jetzt nicht Calvin alleine gefällt hat. Er hat sich durchaus Rat, er hat sich Hilfe oder Beratung geholt von anderen Theologen in der Schweiz, die diesem Urteil auch zugestimmt haben. Es war damals – man muss es leider sagen – eine der üblichen Folter- bzw. Todesurteile, die gefällt worden sind.

Gornik: Nun, man hätte es aber milder machen können. Also der Scheiterhaufen war nicht zwingend – so habe ich mir sagen lassen – damals sozusagen vorgeschrieben. Da soll Calvin drauf gedrungen haben.

Witt: Ja.

Gornik: Sodass Stefan Zweig in seiner berühmten Schrift "Castellio gegen Calvin – Ein Gewissen gegen Gewalt" Calvin in die Rolle Hitlers hineinphantasiert hat. Das Buch ist 1936 während des Nationalsozialismus geschrieben.

Witt: Es ist, genau, 1936 erschienen und hat auch ein weites Renommee, eine weite Verbreitung gefunden und ist sozusagen auch mit der Auslöser dafür, dass wir heute dieses Calvin-Bild weitertragen. Aber vielleicht das noch als Anmerkungen, weil Sie auf den Begriff der Milde zu sprechen gekommen sind: Interessanterweise ist die Milde genau das Thema, mit dem Calvin eigentlich seine schriftstellerische Karriere begonnen hat. Noch in den 1530er-Jahren gibt er sein erstes Buch heraus. Es ist ein Kommentar zu Senecas Schrift über die Milde. Also das heißt, dieses Thema war ihm weiß Gott nicht fremd, er hat es bloß bei Servet tatsächlich nicht angewendet.

Gornik: Und nun kommen wir zum Schluss zu einer verblüffenden Beobachtung, gerade auf dem Hintergrund dessen, was Sie gerade gesagt haben: Der große Reformator war von seinem Studium her, von Hause aus also, von seinem Bildungsgang her, überhaupt nicht Theologe, sondern er war Jurist – ganz anders als viele der anderen großen Reformatoren, namentlich Martin Luther. Wer hat, Sabine Witt, eigentlich durchschlagendere Wirkung gehabt – der Jurist oder der Theologe?

Witt: Ich denke, in seinen Schriften, in Calvins Schriften, verbindet sich beides sehr schön. Er ist ein ausgezeichneter Theologe, er ist einer, der seine theologische Auffassung sehr, sehr klar zum Ausdruck bringt. Die "Institutio" ist ein Dogmenwerk, muss man sagen …

Gornik: "Die Unterweisung der christlichen Religion", so heißt sie im Langtitel.

Witt: Genau, "Der Unterricht in der christlichen Religion". Gerade in diesem Werk aber zeigt sich eigentlich seine Ausbildung und der Weg, wo er herkommt. Es ist ein theologisches Werk, aber es ist zugleich ein sehr klar strukturiertes, ein sehr organisiertes Werk, wo ihm sicherlich seine juristische Ausbildung, klares, strukturiertes Denken mit dahinter steht.

Gornik: Wenn Johannes Calvin – machen wir ein Gedankenexperiment – heute in Ihre Ausstellung käme und er würde bei seiner Bilderablehnung des Heiligen, bei seiner Ablehnung des Prunks all diese wundervollen Bilder, die herrlichen Pokale, die Sie dort auch ausstellen, die Skulpturen sehen, würde er sich mit Grausen abwenden oder gar zum Bilderstürmer werden?

Witt: Letzteres hoffen wir natürlich nicht, das würde uns gegenüber den Leihgebern in die Bredouille bringen. Nein, ich denke schon, er würde es sich in Ruhe anschauen, er würde lange darüber nachdenken und würde dann sein Urteil darüber fällen.

Gornik: Dr. Sabine Witt, die Kuratorin des Deutschen Historischen Museums, war zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen". Über die Ausstellung "Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa" haben wir gesprochen. Herzlichen Dank!