Islamisches Erfolgsmodell

Von Luise Sammann · 03.02.2010
Anatolien – da denken Viele schnell an Kopftücher, an Ehrenmorde und Rückständigkeit. Kaum jemand verbindet den wenig entwickelten Südosten der Türkei mit wirtschaftlichem Erfolg, mit Aufstieg, mit EU-Ambitionen und Führungsanspruch. Doch genau dafür stehen die sogenannten "anatolischen Tiger", erfolgreiche Unternehmer, die derzeit in der Türkei beweisen, dass Islam und Moderne eben doch zusammenpassen.
Mustafa Karaduman: "Als ich 1969 nach Istanbul kam, da waren Miniröcke in Mode. So war es im ganzen Land, nur bei uns in Anatolien waren Kopftücher etwas mehr verbreitet. Mit unserer Hilfe und unserem Engagement sind die Miniröcke seit dem in der ganzen Welt fast verschwunden. Designer beeinflussen sich gegenseitig – und ich glaube, dass wir in diesem Fall andere Designer beeinflusst haben ..."

Mustafa Karaduman flaniert durch seine Textilfabrik. Der maßgeschneiderte hellgraue Anzug schimmert leicht im Licht der Neonleuchtstoffröhren über ihm. Eine dezent süßliche Parfümwolke begleitet ihn durch die langen Produktionshallen – vorbei an bügelnden, zuschneidenden, nähenden Arbeitern. Im Vorbeigehen nickt er ihnen zu – zurückhaltend, fast schüchtern. Mustafa Karaduman ist ein kleiner Mann, die breiten Hände und Schultern gleichen eher denen seiner 500 Fabrikarbeiter als denen anderer Manager.

"Mein Vater lebte mit uns in Malatya, in Südostanatolien. Er war der Imam in unserem Dorf und ich bin der erste aus unserer Familie, der nach Istanbul ging. Ich habe als Helfer angefangen, dann als Bügler, als Mechaniker und schließlich als Designer gearbeitet. 1982 haben wir selbst begonnen zu produzieren – islamische Mode."

Und so wurden aus dem Dorfjungen Mustafa und seinen sieben Brüdern die Inhaber von Tekbir, einem der weltweit führenden Hersteller von islamischer Mode. Karaduman blickt sich zufrieden in seiner modernen Fabrikhalle um, streicht sich mit der Hand über den sorgfältig gestutzten Vollbart. Seine Arbeiter dürfen zwischendurch in den fabrikeigenen Gebetsraum gehen, um fünf Mal am Tag zu beten – so wie er selbst es tut. Alles bei Tekbir verläuft im Einklang mit den Geboten des Islam.

"Der Islam ist der Bezugspunkt in allen Bereichen meines Lebens. Wenn ich TV-Produzent wäre, dann würde ich mit Sicherheit islamische Programme produzieren. Wenn ich Journalist wäre, würde ich islamische Artikel schreiben, und wenn ich ein Buch schreiben würde, dann wäre es ein islamisches Buch. Aber ich arbeite im Textilsektor und hier kann ich meinem Glauben dienen, indem ich islamische Mode produziere."

Karaduman bleibt vor einem Kleiderständer mit rubinroten, knöchellangen Mänteln stehen, lässt die rechte Hand zärtlich über die teuren Stoffe gleiten. Längst ist Tekbir die erste Adresse für die wohlhabende, islamische Frau in der Türkei. Die Gattin von Ministerpräsident Erdogan gehört ebenso zu Karadumans Stammkundinnen wie einige der muslimischen Sängerinnen und Schauspielerinnen des Landes. Mit Schleiern, Mänteln und Ganzkörperbadeanzügen – mit teuren Stoffen, ausgewählten Accessoires und modischen Schnitten werden bei Tekbir jährlich Millionen umgesetzt.

"Wir haben den traditionell osmanischen Stil mit den modernen Linien von heute verbunden und so etwas Neues kreiert. Wir haben unseren Glauben mit der modernsten Technologie der heutigen Zeit vermischt und dabei östliche und westliche Kultur zusammen gebracht. So haben wir einen neuen Stil entwickelt und gleichzeitig unsere Traditionen bewahrt."

Glaube, Fleiß und Fortschritt – so lässt sich Karadumans Erfolgsrezept zusammenfassen. Ein Rezept, mit dem sich die als hinterwäldlerisch und unterentwickelt abgestempelten anatolischen Geschäftsleute in den letzten 20 Jahren in die höchsten Kreise der türkischen Wirtschaft vorgearbeitet haben. Dorthin, wo seit Republikgründer Kemal Atatürk die sogenannten Kemalisten, die säkularen Nationalisten, das Sagen haben.

Die alten Eliten der Türkei kommen aus Istanbul und Ankara – nicht aber aus Anatolien. Ihre Gattinnen tragen Dekolettée statt Kopftuch! Die, die sie nun herausfordern, haben aus ihrer Herkunft eine Marke gemacht: Sie nennen sich die "anatolischen Tiger" – ganz nach dem Vorbild der asiatischen Tigerstaaten, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts durch ihre starken Wirtschaftssysteme von sich reden machten.

Gaziantep, im tiefen Anatolien gelegen und keine zwei Stunden von der syrischen Grenze entfernt, steht wie ein Symbol für den Aufstieg der anatolischen Tiger. In den letzten vier Jahren hat sich das Exportvolumen der knapp Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt mehr als verdreifacht. Wo früher einfache Hütten standen, säumen heute Villen und großzügige Mehrfamilienhäuser breite Boulevards. In einem palastartigen Bau, ganz mit verspiegeltem Glas verkleidet, ist die Handelskammer untergebracht.

Mehmet Arslan, selbst einer der erfolgreichen Söhne von Gaziantep, ist ihr Präsident. Die Erfolgsgeschichte seiner Stadt presst er zwischen zwei Zigarettenzüge.

"In Gaziantep haben wir das größte Industriegebiet der Türkei – mit 700 Firmen und 100.000 Arbeitern. Außerdem gibt es eine Freihandelszone und wir sind über Autobahnen mit der Westtürkei verbunden. Im Moment bauen wir auch Autobahnen in den Iran, Irak und Syrien. Wir haben einen internationalen Flughafen und sind über Züge und Straßen direkt mit den Häfen verbunden. Mit jährlichen Exporten im Wert von 3,5 Milliarden USD und Handelsbeziehung mit 154 Ländern stehen wir besser da als alle anderen Städte in der Region und besser als die meisten Städte der Türkei."

Arslan lehnt sich selbstzufrieden in seinem braunen Ledersessel zurück, lässt den Blick durch das riesige, lichtdurchflutete Büro schweifen. Seine Zigaretten pafft der Chef durch ein gläsernes Mundstück, Antworten beginnt er mit einer extra langen Kunstpause, unterbricht sie, um auf sein Handy zu schauen. Es soll nicht so aussehen, als ob er – dessen Nachname "Löwe" bedeutet – es nötig hätte, Interviews zu geben. Die Zeiten, in denen sich anatolische Städte und Geschäftsleute minderwertig fühlen mussten, sollen ein für alle Mal vorbei sein.

"Wenn man die Türkei von außen betrachtet, dann sieht es so aus, als ob sie nur aus Istanbul, Ankara, Izmir und Antalya besteht. Aber in den letzten Jahren entwickeln sich vor allem Gaziantep, Kayseri, Denizli und andere Städte zu dem, was anatolische Tiger genannt wird. Das ist sehr wichtig für die Türkei, denn mit dem Wachstum dieser Städte schreiten auch die Modernisierung, die Arbeitsmarktentwicklung und sogar die Demokratisierung des Landes voran."

Der neue Motor der Demokratisierung sitzt nicht in Istanbul oder Ankara, sondern hier: in der Nähe der syrischen, irakischen und iranischen Grenze. Mehmet Arslan, Mustafa Karaduman und die anderen Aufsteiger aus Anatolien zeichnen ein neues Bild vom Klischee behafteten, vom Staat seit Jahrzehnten vernachlässigten Südosten.

Mehmet Arslan: "Wir, die Menschen aus Gaziantep, erwarten nicht viel vom Staat. Wir erwarten lediglich, dass er die Steine aus unserem Weg räumt."

Steine, auf ihrem wirtschaftlichen Weg von Anatolien hinaus in die Welt. Steine aber auch in religiöser Hinsicht. Denn unter den radikalsäkularen, westlich orientierten Eliten in Ankara gerät schnell jeder unter Verdacht, der regelmäßig in die Moschee geht. Dabei sind es gerade die gläubigen, konservativen Unternehmer aus Anatolien, die nun nach mehr Demokratie rufen. Nach Meinungs- und Religionsfreiheit, nach einer Entwirrung des mächtigen Knäuels aus Militär und Politik in Ankara.

Die anatolischen Tiger wollen in die EU. Sie wollen beweisen, dass Islam und Moderne eben doch zusammenpassen. Mit diesem Ansatz haben sie vor sieben Jahren die AKP an die Macht gebracht – die "Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt". Auch deren Vorsitzender, Ministerpräsident Erdogan, hat seine Wurzeln in Anatolien, ist einer von ihnen.

Die wirtschaftliche und politische Schlagkraft aus Anatolien aber macht den Alteingesessenen im Westen der Türkei Angst. Die anatolischen Tiger brechen aus ihrem Käfig aus, in dem die kemalistische Elite sie seit Jahrzehnten gehalten hat.

Der Istanbuler Politikjournalist und Autor Rusen Cakir beschäftigt sich seit 25 Jahren mit der islamischen Bewegung in seinem Land, in mehreren Büchern hat er das Machtgefüge in der Türkei untersucht.

Rusen Cakir: "Wir leben in einem Clash, einem Zusammenstoß zwischen den alten politischen Drahtziehern und den neuen. Besonders, was wir in den letzten drei Jahren erleben, all diese Verschwörungstheorien und -prozesse um Ergenekon oder die Diskussionen um den Kurdenkonflikt. All das sind Repräsentanten und Offenbarungen dieses Kampfes. Und das ist eben nicht nur ein Machtkampf zwischen den Parteien, sondern auch zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftsleuten in der Türkei – den anatolischen und den Istanbul-Unternehmern."

Und dieser Machtkampf wird mit allen Mitteln geführt. Dabei scheint es, als ob die Forderung der neuen Aufsteiger nach mehr Demokratie nur so weit reicht, wie sie selbst davon profitieren. Die Steuerstrafe von 2,5 Milliarden US-Dollar gegen den einflussreichen Medienunternehmer Aydin Dogan im vergangenen Jahr war nur ein Versuch der Regierung Erdogan, einen Kritiker auszuschalten. Der säkulare Aydin Dogan steht auf der anderen Seite – Erdogan und seine anatolischen Tiger sind ihm fremd und verdächtig, so wie den meisten Anhängern des alten Establishments. Jahrzehntelang standen Verwaltung, Militär und Wirtschaft unter dem Einfluss der Säkularen, nun fürchten sie um ihre Macht. Zu Recht, meint Rusen Cakir.

"Das Problem ist, dass der Staat in der Türkei immer noch sehr große Teile der Wirtschaft bestimmt. Wer also der Regierung näher steht, hat auch größere Einflussmöglichkeiten in der Wirtschaft. Wer einen Minister kennt, kann ein größeres Stück vom Kuchen abhaben ..."

... und liefert im Gegenzug wichtige Wählerstimmen! Die Arslans und die Karadumans wollen sich nicht weiter an den südöstlichen Rand der Türkei abdrängen lassen. Ihre Söhne und Töchter studieren inzwischen an ausländischen Eliteuniversitäten, um die Unternehmen der Eltern zu übernehmen und die anatolische Wirtschaft weiter anzukurbeln.

Und der Kampf um die Zukunft der Türkei wird längst nicht mehr nur auf wirtschaftlicher und politischer Ebene geführt: Universitäten, Zeitungen und Fernsehsender haben die anatolischen Tiger inzwischen unter ihrer Fahne gegründet. Sie sind der Motor hinter dem Aufschwung der islamischen Bewegung in der Türkei, meint Rusen Cakir.

"Ich würde sagen, dass die Wirtschaft einer der fundamentalen Faktoren der islamischen Bewegung in der Türkei ist. Ohne die Wirtschaft, ohne die ökonomische Unterstützung einiger Unternehmer oder ohne die wirtschaftliche Mobilisierung der Massen hätte die islamische Bewegung nicht ihre heutige politische Macht erlangt."

Zurück im anatolischen Gaziantep, zu Besuch bei einem Mann, der genau für diese Verwicklung aus Politik und Wirtschaft steht: Teppichfabrikant Ökkes Eruslu gehört zu den Tigern von Gaziantep. Seine Firma "Eruslu Textil" produziert Teppiche – vor allem für den deutschen Markt. Doch die letzten sieben Jahre seines Lebens hat der 65-jährige der Politik gewidmet, als Vorsitzender der AKP Gaziantep. Bei den Parlamentswahlen 2007 erreichte seine Partei hier 60 Prozent der Wählerstimmen. – Und zwar die der aufstrebenden Unternehmer genauso wie die der einfachen Arbeiter. Darauf legt Eruslu wert.

"Unser Staatspräsident Abdullah Gül ist der Sohn eines Mechanikers, Ministerpräsident Erdogans Vater war ein Seemann, der Parlamentsvorsitzende ist der Sohn eines Dorfbewohners. Wir sollten keine Klassenunterschiede mehr machen ..."

Eine Partei für alle! Dieses Konzept der AKP war neu in der so stark in oben und unten, in rechts und links geteilten Türkei. Unter dem Dach von Wirtschaftsreformen und gemäßigtem Islam schafft es die AKP, unterschiedliche Schichten zu vereinigen. Die neue Parole heißt: Demokratie und Modernisierung von unten. Nicht – wie unter Republikgründer Atatürk – als Staatsdoktrin.

Ökkes Eruslu betritt sein lang gezogenes Büro oberhalb der Fabrikhalle, lässt sich in einem lederbezogenen Bürostuhl nieder. Auch er war nicht immer reich. Vor vierzig Jahren eröffnete er ohne Ausbildung einen schmuddeligen Shop für Plastikschuhe in Gazianteps Altstadt. Heute hat er so viel Geld, dass er mit anderen Unternehmern eine eigene Moschee im Industriegebiet errichten ließ. Was der Politiker Eruslu vertritt, ist auch in seinem Unternehmen Programm.

"In meiner Firma arbeiten 300 Arbeiter. Sind die wohl eher produktiv, wenn sie einen guten Lebensstandard haben, oder wenn sie für ein Stück trockenes Brot arbeiten? Die anatolischen Menschen sollten sich von jetzt an endlich entwickeln können, wir arbeiten hart daran, das durchzusetzen. Erst wenn jeder sich eine Wohnung, ein Auto und etwas Ordentliches zu Essen leisten kann, dann sollten wir meiner Meinung nach zufrieden sein."

Eruslu sitzt jetzt aufrecht hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch. Fromm, fleißig und fortschrittlich seien sie, die Menschen in Gaziantep, sagt er und zählt die drei Eigenschaften an den Fingern der linken Hand ab. Dann plötzlich blitzen seine kleinen Augen hinter den Brillengläsern auf. Aber Anatolien könnte noch viel mehr, wenn man es nur ließe ...

"Die in Istanbul haben immer die Sahne bekommen, während die Anatolier immer nur gearbeitet haben. Ihre Wirtschaft war stark und ihre Region war als das Zentrum der Türkei akzeptiert. Aber die Türkei ist ein großes Land und die ganze Türkei sollte sich entwickeln können. Ich finde, von jetzt an sollte Istanbul begrenzt werden. Wir sollten die anatolische Wirtschaft ankurbeln, indem wir Istanbul und Umgebung beschränken!"