Islamdebatte des 19. Jahrhunderts

Ein Ringen um Tradition und Reform

Auf der Suche nach dem Wesen des Islam - eine Zeitreise.
Auf der Suche nach dem Wesen des Islam - eine Zeitreise. © Zentralbild
Von Anne-Françoise Weber · 18.04.2018
Dass der Islam wissenschafts- und bildungsfeindlich sei, ist kein neues Denkmuster. Schon im Frühjahr 1883 führten in Paris ein französischer und ein persischer Gelehrter eine scharfe Kontroverse um das Wesen des Islam. Die Argumentationsmuster damals? Ähnlich den heutigen.
Ernest Renan: Jede Person, die nur einigermassen an dem Geistesleben unserer Zeit theilnimmt, erkennt deutlich die gegenwärtige Inferiorität der mahomedanischen Länder, den Niedergang der vom Islam beherrschten Staaten, die geistige Nichtigkeit der Rassen, die einzig und allein ihre Kultur und ihre Erziehung jener Religion verdanken.
Jamal al-Din al-Afghani: Wenn es wahr ist, dass die mahomedanische Religion ein Hinderniss für die Entwicklung der Wissenschaften ist, kann man deshalb auch behaupten, dass dieses Hinderniss nicht eines Tages verschwinden wird? Worin unterscheidet sich die mahomedanische Religion in diesem Punkte von andern Religionen? Alle Religionen sind intolerant, jede auf ihre Weise.
Frühjahr 1883. Zwei große Gelehrte ihrer Zeit streiten über eine Frage, die damals die Gemüter erregte – und die heute immer noch hitzige Debatten produziert. Passen Islam und Moderne, die westliche Moderne, zusammen? Wie verhalten sich Islam und Wissenschaft – oder mehr noch: Religion und Wissenschaft? Die Protagonisten damals: Der französische Sprachwissenschaftler Ernest Renan und der persische Islamgelehrte Jamal al-Din al-Afghani.
Am 29. März 1883 hält Ernest Renan an der Universität Sorbonne in Paris einen Aufsehen erregenden Vortrag. Der bekannte Schriftsteller und Professor für Hebräisch am Collège de France ist eingeladen von der Association scientifique de France. Der Titel: Der Islam und die Wissenschaft. Die Grundfrage:
Ernest Renan: Hat es in Wirklichkeit eine muselmännische Wissenschaft, oder mindestens eine vom Islam anerkannte, vom Islam geduldete Wissenschaft gegeben?
Ernest Renan, französischer Philosoph und Historiker (1823-1892)
Ernest Renan, französischer Philosoph und Historiker (1823-1892)© imago stock&people
Alexander Flores: Ernest Renan war ein französischer, sagen wir mal, Religionshistoriker im 19. Jahrhundert, der ursprünglich mal Priester werden wollte, aber dann seine Schwierigkeiten mit dem Dogma, mit der Institution der Kirche bekam und das aufgegeben hat, diese Karriere. Er hat dann sich sehr stark mit dem Orient beschäftigt, hat die semitischen Sprachen gelernt, hat ein größeres Werk über Averroes und seine Nachwirkungen in Europa geschrieben und hat dann 1862 eine Professur am Collège de France bekommen, die er aber ein Jahr danach schon wieder auf Druck der Kirche wieder verlassen musste. Später hat er sie dann wieder bekommen. (Alexander Flores, Autor des Buches "Zivilisation oder Barbarei? Der Islam im historischen Kontext".)
Birgit Schäbler: Eigentlich ist er ein Feuilletonist, ein Literat fast, der Dinge aufgreift, Ideen aufgreift, die auch en vogue sind, und diese Ideen dann begnadet sprachlich wiedergibt. Und zwar so elegant formuliert, dass der Leser geneigt war, diese Gedanken als originär und äußerst neu zu verstehen. (Birgit Schäbler, Professorin für Geschichte Westasiens an der Universität Erfurt, zur Zeit Direktorin des Orient-Instituts in Beirut).
Mahmoud Azab: Ernest Renan war nicht nur anti-islamisch eingestellt, sondern im Allgemeinen antisemitisch, wenn Sie die Verwendung dieses Begriffs in einem bestimmten kulturellen und historischen Rahmen gestatten.
Mahmoud Azab war bis zu seinem Tod im Jahr 2014 Berater des Scheickhs der ägyptischen Al-Azhar-Universität für interreligiöse Fragen, ebenso wie Renan war er Professor für Hebräisch, und fast 14 Jahre lang in Frankreich tätig.

Die zweite Orientalismus-Generation

Renan zählt zur zweiten Generation des Orientalismus. Es war seine Aufgabe, den offiziellen Diskurs des Orientalismus zu festigen, seine Einsichten zu systematisieren und seine geistigen und weltlichen Institutionen einzurichten, schreibt Edward Said, Professor für Literaturwissenschaft an der Columbia University 1978 in seinem viel diskutierten Buch "Orientalism". Ein umstrittener Geist also, dieser Ernest Renan, damals wie heute. In Deutschland sind vor allem sein Werk "Das Leben Jesu" und seine republikanische Konzeption der Nation als "tägliches Plebiszit" bekannt.
An jenem Donnerstag im März 1883 steigt Renan in der Sorbonne tief in die arabisch-islamische Geschichte ein. Er legt dar, dass es zwar zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert – also zur Zeit des Kalifats der Abbassiden in Bagdad - eine große Blütezeit der arabischen Zivilisation gab. Die wichtigsten Denker dieser Zeit– wie Al-Farabi, Avicenna, Averroes – waren aber Renans Ansicht nach nicht wirklich arabischer Herkunft, vielmehr seien es Perser, Spanier, Männer aus Samarkand oder Sevilla gewesen. Und:
Ernest Renan: Nicht nur sind es keine Araber der Herkunft nach, sondern auch ihr Geist hat durchaus nichts Arabisches.
Das Arabische, so Renans Behauptung, tauge zwar für die Dichtung, nicht jedoch für die Metaphysik. Damit wendet er sich der Religion zu, dem Mahomedanismus, wie die zeitgenössische Übersetzung seines Vortrags den Islam stellenweise nennt.
Ernest Renan: Jene Wissenschaft ist nicht arabisch. Ist sie wenigstens mahomedanisch? Ist der Mahomedanismus für jene rationellen Untersuchungen irgendeine Stütze gewesen? In keiner Weise. Jene schöne wissenschaftliche Bewegung war ganz und gar das Werk von Parsen, Christen, Juden, Harraniern, von Ismaeliten und Mahomedanern, die innerlich gegen ihre eigene Religion empört waren.

Renan sieht den Islam dem wissenschaftlichen Denken entgegengesetzt

Denn, so Renans Überzeugung, der Islam sei eben dem wissenschaftlichen Denken grundsätzlich entgegengesetzt. Muslime seien vom Hass auf die Wissenschaft geprägt und davon überzeugt, dass "Forschung unnütz, frivol, ja fast gottlos sei".
Hatem al-Hajj: Ich denke, Renan irrte, weil er den Islam danach beurteilte, was er zu seiner Zeit sah – aber er hatte insofern recht, als diese Beschreibung auf Muslime seiner Zeit zutraf.
Hatem al-Hajj ist Dekan einer islamischen Fernuniversität in den USA – also keiner, der den Islam grundsätzlich in Frage stellen würde. Das tun andere.
Pervez Hoodbthoy: Es gibt rund 1,5 Milliarden Muslime in der ganzen Welt - aber sie können in keinem Bereich eine substantielle Errungenschaft vorweisen. Nicht im politischen Bereich, nicht in gesellschaftlicher Hinsicht, weder in den Naturwissenschaften noch in der Kunst oder in der Literatur. Alles, was sie mit großer Hingabe tun, ist beten und fasten.
Der pakistanische Physiker Pervez Hoodbthoy, Sohn einer muslimischen Familie, im Interview mit SPIEGEL Online, im Januar 2013.
Thilo Sarrazin: Wir sehen andererseits, dass bei der Gruppe der muslimischen Migranten - das geht über alle Migranten muslimischer Herkunft - die Integration wesentlich länger dauert und auch in der zweiten und der dritten Generation wir noch deutlich unterdurchschnittliche Erwerbsbeteiligung, unterdurchschnittliche Bildungsbeteiligung und überdurchschnittliche Transferabhängigkeit haben. Es muss am gemeinsamen kulturellen islamischen Hintergrund liegen.

Renan und Sarrazin und die gleichen Argumente

Thilo Sarrazin, damals noch Vorstandsmitglied in der Deutschen Bundesbank und Autor des Buches "Deutschland schafft sich ab" in einem Interview mit dem Deutschlandfunk im August 2010.
Nicht nur Renans Behauptung, Islam und Bildung oder Wissenschaft würden nicht zusammenpassen, wird heute von prominenten Islamkritikern westlicher wie muslimischer Herkunft weitergetragen. Auch eines von Renans Hauptargumenten, dass es im Islam keine Trennung von weltlicher und religiöser Sphäre gebe, ist heute weit verbreitet.
Ernest Renan: Darauf kommt die absolute Herrschaft des Dogmas, ohne irgendwelche Trennung des geistigen und des weltlichen Theils, eine Herrschaft mit Zwangsgewalt und körperlichen Züchtigungen denen gegenüber, welche die Gebote des Islam nicht erfüllen.
Alexander Flores: Er hat seine Ideen ja erheblich vor 1883 entwickelt, so um 1850, würde ich sagen. Es sind ja mehr als 150 Jahre vergangen, sehr viel ist passiert in der Zeit, aber diese Argumentation findet sich sehr ähnlich auch heute noch. Also ein ganz grundsätzlicher, ein ganz fundamental islamkritischer Ansatz, der, wenn man sagen würde: na bitte schön, ihr seid ja Rassisten – selbstverständlich sagen würde: nein, nein, wir sind doch keine Rassisten, das hat mit biologischer Vorprägung oder mit den Genen nichts zu tun, es handelt sich hier um kulturelle Prägungen. Aber übrigens auf allen Ebenen des intellektuellen Raffinements finden sich sehr ähnliche Vorstellungen von einer kulturellen Vorprägung, die so unausweichlich ist oder beinahe unausweichlich ist, dass sie einer genetischen Vorprägung sehr nahe kommt. Im Grunde also eine rassistische Vorstellung, würde ich auch heute sagen – und es ist erstaunlich, wie sich die Argumente hier gleichen.
Im Internetportal Politically Incorrect, das für seine Islamophobie bekannt ist, hat ein Besucher Auszüge aus Renans Vortrag eingestellt– er bekam dafür viele lobende Kommentare.
Ernest Renan gibt sich gegen Ende seines Vortrags am 29. März 1883 allerdings versöhnlich – nicht ohne noch einmal seine Kernthese zusammenzufassen.
Ernest Renan: Der Islam als Religion hat schöne Theile. Niemals bin ich, ohne lebhaft ergriffen zu werden, ich möchte sogar sagen, ohne ein gewisses Bedauern, kein Moslim zu sein, in eine Moschee getreten. Für die menschliche Vernunft aber ist der Islam schädlich gewesen.
Renans Vortrag ist ein Erfolg, am folgenden Tag schon wird er veröffentlicht - im Pariser Journal des débats politiques et littéraires, einer während der Französischen Revolution gegründeten Zeitung, die vom Bürgertum gelesen wird. Einige Wochen später druckt die Redaktion einen Brief des muslimischen Gelehrten Jamal Al-Din al-Afghani ab, der zu sich zu dieser Zeit in Paris aufhält.
Alexander Flores: Jamal al-Din al-Afghani war ein Reisender in Sachen Panislamismus sozusagen. Er war nicht Afghane, wie sein Name das andeuten sollte, sondern er stammte aus dem Iran. Dieser Mann hat sehr stark den Islam instrumentell gesehen, er hat ihn als Ideologie der Befreiung der muslimischen Völker vom kolonialistischen Joch einsetzen wollen. Er hat da sehr viel intellektuell, aber auch praktisch gemacht in dieser Richtung. Er war eine Zeitlang in Ägypten, er war dann in Indien, er war später im Osmanischen Reich und hat an verschiedenen Fronten versucht, eben diesen islamisch geprägten Antiimperialismus zu predigen. Er war auch eine Zeitlang in Paris und hier spielt sich die Kontroverse ab.
Der Arabist Alexander Flores. In al-Afghanis Antwort kommen ebenso wie in Renans Vortrag Denkmuster zur Sprache, die bis heute wirkmächtig sind. Nicht nur darin gleichen sich die beiden Gelehrten.
Birgit Schäbler: Die beiden sind sich in gewisser Weise ähnlich, also beide kommen aus bescheidenen ländlichen Verhältnissen, beide schaffen es, zu berühmten und auch schillernden Persönlichkeiten ihrer Zeit zu werden, beide sind eigentlich keine Wissenschaftler im heutigen Sinne, nicht einmal Renan. Beide haben sich auch als Reformer betätigen wollen, als Berater von Fürsten und haben durchaus politische Agenden verfolgt. Und diese politischen Agenden haben sich in beiden Fällen radikalisiert.

Der Begründer des modernistischen Islam

Ein politischer Agitator also, dieser Jamal al-Din al-Afghani, und ein hervorragender Redner, von dem uns aber nur wenige Schriften vorliegen. Dennoch ein einflussreicher Denker, dem es um die Befreiung der muslimischen Länder von der Kolonialherrschaft ebenso ging wie um eine grundsätzliche Reform des Islam. Er gilt als einer der Begründer eines modernistischen Islam, der eine Politisierung mit sich brachte, die bis heute anhält. Die heutigen Salafisten sind, wenn man so will, entfernte Nachkommen. Denn Al-Afghani, erklärt der Arabist Alexander Flores, war einer der ersten, der zwischen Praktiken und Überzeugungen der Muslime einerseits und dem ursprünglichen Verständnis des Islam als Religion andererseits unterschied.
Alexander Flores: Seiner Meinung nach musste man zu diesem Verständnis zurück, und das hieß zum Geist des Islam der Urzeit, also der prophetischen Zeit und der ersten vielleicht zwei Generationen danach. Und die Leute, die in dieser Zeit gewirkt haben, nennt man auf Arabisch "as-salaf as-saleh", also sozusagen die "wackeren Altvorderen". Und von diesem Begriff "salaf" leitet sich der Begriff Salafismus her, den allerdings soweit ich sehen kann, al-Afghani nie benutzt hat. Das ist, ich denke, eine Erfindung von westlichen Orientalisten. Aber die Idee ist bei al-Afghani da: also man muss den Kern unterscheiden von dem, was später dann die Leute draus gemacht haben. Man muss zu diesem Kern zurück: In Wirklichkeit hieß das natürlich, Öffnung des Tors für die Reform des Islam in einem durchaus modernen Sinn. Das ist ja oft der Fall bei Reformatoren, dass sie sagen, wir müssen zurück zu den Ursprüngen – aber das, was sie dann tun, ist etwas Neues.
Birgit Schäbler: Ich würde sagen, dass die Muslimbrüder, und dann auch die Neo-Salafiyya bis hin zu Jihadisten heute, dass das sozusagen eine Verschärfung ist, eine radikale Abzweigung dieses ursprünglichen Gedankenguts.
Al-Afghani wollte zurück zu den Wurzeln, um von dort aus den Islam als Ansporn zur Innovation zu interpretieren - ohne den Ballast jahrhundertealter Traditionen und Konflikte. Die heutigen Salafisten kehren auch zurück zu den Wurzeln, aber sie streben die wörtliche Umsetzung des Koran an. Vielen Thesen dieser Neo-Salafisten hätten al-Afghani und seine Schüler nicht zugestimmt, glaubt die Historikerin Birgit Schäbler. Umgekehrt argwöhnen heutige Salafisten, dass Al-Afghani zu sehr von westlichem Denken infiziert gewesen sei.
In seinem Brief an die Redaktion des Journal des débats 1883 jedenfalls antwortet Al-Afghani seinem Gegenspieler Renan sehr respektvoll und überaus höflich.
Jamal al-Din al-Afghani: Ich habe in Ihrem schätzenswerthen Blatte einen in der Sorbonne vor einer auserlesenen Zuhörerschaft gehaltenen Vortrag über den Islam und die Wissenschaft gelesen, einen Vortrag des großen Philosophen unserer Zeit, des berühmten Herrn Renan, dessen Ruf das ganze Abendland erfüllt und bis in die entlegensten Theile des Morgenlandes gedrungen ist.
Freundliche Worte an den gelehrten Franzosen, der den Islam so heftig angegriffen und aus seiner Abneigung gegenüber den Arabern kein Hehl gemacht hat. Der Ruhm der Araber sei unzerstörbar, erwidert Jamal al-Din al-Afghani - aber sicher habe auch Herr Renan nicht gesucht, diesen zu zerstören. Al-Afghanis Höflichkeit folgt die Kritik.
Jamal al-Din al-Afghani: Nachdem man den Vortrag zu Ende gelesen, drängt sich Einem indessen die Frage auf, ob das Uebel einzig und allein von der mahomedanischen Religion selber oder von der Art und Weise ihrer Verbreitung in der Welt, vom Charakter, den Sitten und natürlichen Anlagen der Völker herrühre, die jene Religion angenommen oder denen sie gewaltsam aufgedrängt worden.
Birgit Schäbler: Ich finde, dass al-Afghani vor allem historisch argumentiert hat. Er hat versucht, Renan historisch auseinander zu nehmen, und hat gesagt: Lieber Herr Renan, was Sie dort tun, ist ein unhistorisches Argument. Wir haben 600 Jahre weniger Zeit gehabt als Sie im christlichen Europa, geben Sie uns diese Zeit und dann schauen wir weiter. Und argumentieren Sie nicht so essentialistisch.
Jamal al-Din al-Afghani: Nein, ich kann nicht gestatten, dass diese Hoffnung dem Islam geraubt werde. Ich vertheidige hier vor Herrn Renan nicht die Sache der mahomedanischen Religion, sondern diejenige mehrerer hundert Millionen Menschen, die ihm zufolge verurtheilt wären, in der Barbarei und Unwissenheit fortzuleben.
Alexander Flores: Ich glaube, da hat er durchaus recht, in der Frage, ob es wirklich stimmt, dass im islamischen Bereich alles von der Herrschaft des Dogmas bestimmt war und ist, ob die Muslime durch die bloße Tatsache, dass sie Muslime sind, einen unabwerfbaren ideologischen Rucksack mit sich herumtragen, der sie am Fortschritt und am Zusammenleben mit ihren Mitmenschen hindert, oder ob es nicht stimmt. Und nach Meinung von al-Afghani stimmte es eben nicht. Und ich glaube, wenn man sich unvoreingenommen mit der islamischen Geschichte und auch mit der islamischen Gegenwart beschäftigt, findet man hunderte von Beispielen dafür, dass es nicht stimmt. Dass die islamische Praxis und die Überzeugungen der Muslime auf vielen Gebieten ausgesprochen vielfältig sind, dass es da also Wahlmöglichkeiten und keinen ganz eingeengten Determinismus gibt.

Der hochnäsige Europäer und der muslimische Reformer

Erklärt der Arabist Alexander Flores. Der hochnäsige Europäer Renan gegen den muslimischen Reformer al-Afghani, der das fortschrittliche Potential des Islam verteidigt: So scheinen die Frontlinien in der großen Islamdebatte 1883. Doch al-Afghanis Streitschrift birgt eine Überraschung – er schließt sich Renans Kritik am Islam auf verblüffende Weise an.
Jamal al-Din al-Afghani: In Wahrheit hat die mahomedanische Religion die Wissenschaft zu ersticken und ihre Fortschritte zu hindern sich bemüht.
Der Islam wollte Wissenschaft und Fortschritt ersticken? Als ich Mahmoud Azab, Professor der al-Azhar-Universität in Kairo, mit diesem Satz al-Afghanis konfrontierte, wehrte er entschieden ab.
Mahmoud Azab: Das sagt doch Renan! Nicht? Vielleicht meint er dann eine Schule, irgendeine Strömung, aber nicht den Islam als Ganzes, oh nein, oh nein. Ich glaube nicht, dass al-Afghani klar und offen sagen kann, dass die muslimische Religion die Wissenschaft erstickt hat – im Sinne von erwürgen, töten? Ich bezweifle zuallererst die Herkunft dieses Satzes, bis Sie ihn mir in einem ganzen Text von al-Afghani zeigen. Denn das Gegenteil ist wahr: al-Afghani und sein Schüler Muhammad Abduh haben gesagt, dass der Islam alle Türen für die Wissenschaft geöffnet hat, Madame.
Doch das Zitat ist authentisch. Dass Mahmoud Azab den verstörenden Satz al-Afghanis nicht kannte, ist wohl kein Zufall - interessanterweise wurde al-Afghanis Text im Gegensatz zu Renans Vortrag nur in Auszügen in der islamischen Welt publiziert. War der Islamgelehrte zu islamfeindlich?
Birgit Schäbler: Ich würde nicht sagen, dass er islamfeindlich war, er hat kritisch argumentiert, islamkritisch, und es hat sich dann ja innerhalb der Wissenschaft eine Kontroverse darüber entsponnen, ob er denn nun ein Gläubiger war oder ein Agnostiker oder ein Atheist oder einfach nur ein Antiimperialist, der den Islam in Stellung gebracht hat gegen den Kolonialismus aus Europa.
Wie gläubig al-Afghani auch war, er stimmt seinem Kontrahenten Renan jedenfalls darin zu, dass der Islam "die Geister von der Erforschung wissenschaftlicher Wahrheit abgehalten habe" – aber seine Kritik bezieht sich nicht allein auf den Islam, sondern auch auf das Christentum, wo Wissenschaftsfeindlichkeit keineswegs unbekannt sei, wie er süffisant bemerkt.
Jamal al-Din al-Afghani: …die verehrten Häupter der katholischen Kirche haben meines Wissens die Waffen noch nicht niedergelegt.
Renans Religionskritik also mag al-Afghani bis zu einem bestimmten Punkt teilen – was ihn nicht überzeugt, ist die Behauptung Renans, es habe auch in der abbassidischen Blütezeit keinen genuin arabischen Beitrag zur Philosophie gegeben.
Jamal al-Din al-Afghani: Wahr ist, dass die Araber den Griechen ihre Philosophie entlehnten, wie sie den Persern abnahmen, was deren Ruhm im Alterthum ausmachte. Diese Wissenschaften aber, die sie durch das Recht der Eroberung sich angeeignet, sie haben sie entwickelt, ausgedehnt, aufgehellt, vervollkommnet, vervollständigt und mit auserlesenem Geschmack, mit seltener Bestimmtheit und Genauigkeit logisch geordnet.
Bis heute hält die Debatte über die wissenschaftlichen Errungenschaften der islamischen Welt an: Im schon erwähnten Spiegel-Online-Interview erklärte der pakistanische Physiker Hoodbhoy, Muslime hätten in den letzten tausend Jahren keine bedeutenden Erfindungen gemacht. Der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer antwortete darauf im Interview.
Thomas Bauer: In der Zeit, von der er spricht, haben islamische Geographen die besten Landkarten, die es jemals gab von der Welt, gezeichnet, ohne die Kolumbus Amerika nicht entdeckt hätte, haben Astronomen den Himmel beobachtet, Sternkarten gemacht, astronomische Apparate konstruiert, Philosophen gedacht, Mystiker Weltmodelle entworfen, Sprachwissenschaftler die wahrscheinlich beste sprachwissenschaftliche Theorie, die es vor dem 20. Jahrhundert überhaupt gab, entwickelt. Also, die Leistungen, die Muslime - nicht unbedingt als Muslime, aber überhaupt - gemacht haben in den Gebieten der Wissenschaften und der Kultur, ist immens gewesen.
In der gelehrten Kontroverse 1883 vor 130 Jahren hielt sich Al-Afghani nicht damit auf, größere Errungenschaften von Muslimen im Einzelnen aufzuzählen. Im Grunde teilte er ja Renans Gegenüberstellung von Glaube und Vernunft.
Jamal al-Din al-Afghani: Die Religionen, mit welchem Namen man sie auch bezeichnen möge, gleichen sich alle. Keine Verständigung, keine Aussöhnung ist zwischen den Religionen und der Philosophie möglich. Die Religion auferlegt dem Menschen ihren Glauben, während die Philosophie ihn ganz oder zum Theil davon befreit.
Der persische Gelehrte prophezeit, dass der Kampf zwischen Dogma und freier Forschung andauern und eher die Religion den Sieg davon tragen dürfte. Der Grund: Die Vernunft sage der Menge nicht zu, sie begreife sie gar nicht. Außerdem schwebe die Menschheit gern "in dunkeln und fernen Regionen", welche die Philosophen nicht erforschen könnten. Religion erscheint bei al-Afghani als Vernunftersatz für die Massen, eine Art "Opium des Volks", wie Karl Marx 40 Jahre früher geschrieben hatte. Doch im Gegensatz zu diesem wollte al-Afghani die Religion durchaus für seine Anliegen nutzen und im Kampf gegen den Kolonialismus einsetzen. Das aber schrieb er in anderen Texten, die sich an ein muslimisches Publikum wandten.
Ernest Renan lässt al-Afghanis Antwort nicht auf sich sitzen. Er greift selbst zur Feder und verfasst eine Replik, die schon am nächsten Tag im Journal des débats erscheint. Zu Beginn erwidert er Al-Afghanis Höflichkeiten.
Ernest Renan: Man hat mit dem ihnen gebührenden Interesse die sehr verständigen Reflexionen gelesen, zu denen mein letzter in der Sorbonne gehaltener Vortrag dem Scheik Djemmal Eddin die Veranlassung gegeben. Es ist ausserordentlich lehrreich, die Denkweise des aufgeklärten Asiaten in ihren aufrichtigen und ureigenen Darlegungen also kennen zu lernen.
Wie sich herausstellt, ist dieser angebliche Afghane kein Unbekannter für Ernest Renan. Er berichtet, ihn ungefähr zwei Monate zuvor getroffen zu haben und sehr beeindruckt gewesen zu sein. Gerade die Unterhaltung mit Al-Afghani habe ihn bewogen, in der Sorbonne über Islam und Wissenschaft zu sprechen. Und es folgt eine überraschende Charakterisierung des "aufgeklärten Asiaten".
Ernest Renan: Scheik Djemmal Eddin ist ein Afghane, der von den Vorurtheilen des Islam völlig frei geworden; er gehört jenen kräftigen Rassen des oberen, an Indien grenzenden Iran an, in denen der arische Geist noch so energisch unter der dünnen Hülle des officiellen Islam fortlebt. Er ist selber der beste Beweis jenes grossen Axioms, das wir so oft proklamirt haben, dass die Religionen das werth sind, was die Rassen werth sind, die sich zu ihnen bekennen.
Alexander Flores: Er hat sehr stark darauf abgehoben, dass eigentlich nur die indoeuropäische Rasse in der Lage ist, wirklich zum Fortschritt der Menschheit beizutragen. Und als al-Afghani ihm entgegnet hat, hat er zur Verteidigung sich nichts besser einfallen lassen als die Tatsache, dass al-Afghani eben kein Araber und damit kein Semit war, sondern, wie er glaubte, Afghane. In Wirklichkeit war er Perser, aber beides wären ja sozusagen Angehörige der indoeuropäischen Rasse.

Islam, die Wissenschaft und der Blick auf die Islamdebatte heute

Da passt etwas nicht zusammen: Ernest Renan war doch der französische Philosoph, der von der Nation als "täglichem Plebiszit" gesprochen und erklärt hatte, die Rasse werde geschaffen und wieder aufgelöst.
Birgit Schäbler: Es passt insofern zu seinem Denken, als er diese fortschrittliche Meinung über den Nationalismus auf Europa beschränkt, für die islamische Welt dann aber doch davon ausgeht, dass für eine solch moderne Haltung sozusagen der semitische Geist einfach nicht geeignet sei. Was für das arische Europa gilt, gilt nicht für den semitischen Osten.
Ganz einig ist Renan mit der Ansicht al-Afghanis, dass die Philosophie weiter bringe als der Glaube. Die Vernunft vereine die Menschen, während die Religionen sie trennen würden. Doch auch der Professor am Collège de France glaubt, dass die Vernunft nur wenigen zugänglich sei –elitäres Denken eint die beiden Intellektuellen.
Ernest Renan: Die Liga der verständigen Geister des ganzen Erdballs gegen den Fanatismus und Aberglauben wird scheinbar nur von einer unbedeutenden Minorität gebildet.
Nur in einem Punkt widerspricht Renan dem "verständigen Geist" Jamal al-Din al-Afghani entschieden:
Ernest Renan: Alles was lateinisch geschrieben worden ist, gehört nicht in die Ruhmeskrone Roms; Alles was griechisch geschrieben worden, ist nicht hellenisches Werk; Alles was arabisch geschrieben worden, nicht arabisches Erzeugniss; Alles was in christlichem Lande entstanden, ist nicht die Wirkung des Christenthums; Alles was in islamitischen Ländern erzeugt wurde, nicht die Frucht des Islam.
Mit dieser Antwort, knapp zwei Monate nach seinem Vortrag an der Sorbonne veröffentlicht, endet die Debatte zwischen dem Franzosen Ernest Renan und dem Perser Jamal al Din al-Afghani. Aber das war nicht das Ende der Debatten über Islam und Wissenschaft – auch damals nicht. Denn Ernest Renans Text wurde in vielen muslimischen Ländern verbreitet. Von Istanbul bis St. Petersburg verfassten muslimische Intellektuelle Antworten darauf. Birgit Schäbler hat diese Reaktionen zusammengetragen und hält diese Debatte für sehr lehrreich, da sie gerade die Modernität der auf Renan antwortenden Intellektuellen zeige.
Schäbler: Wenn man spricht von einem transregionalen Ereignis in einer verflochtenen, in einer verwobenen Geschichte, dann ist es sehr schön anschaulich zu machen an diesem Beispiel, wie sich Europa und der Orient aufeinander beziehen und aufeinander reagieren. Und das ist es ja genau, was man mit einer verflochtenen Geschichte und eben auch einer verflochtene Moderne meint. Also hier steht nicht das moderne Europa einem unmodernen Orient gegenüber, sondern hier stehen sich Intellektuelle gegenüber, die eigentlich alle an denselben Problemen zu kämpfen hatten.
Und die Debatte geht weiter, wenn auch vielleicht nicht immer auf so hohem intellektuellem Niveau…
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