Irrationaler Westen

Shopping als Anti-Terror-Kampf

Shoppen in Hamburg
Shoppen als heroischer Akt? © picture alliance / dpa / Foto: Daniel Bockwoldt
Von Nicol Ljubic · 07.01.2016
Seit den Pariser Anschlägen fühlen wir uns wie Heroen des Alltags, sobald wir ein Konzert oder den Wochenmarkt besuchen. Zugleich steigen wir täglich ins Auto, obwohl jedes Jahr auf deutschen Straßen Tausende Menschen sterben. Der Schriftsteller Nicol Ljubic über absurde Ängste und einen Mut, der uns noch nicht zu Helden macht.
Auch Deutschland stehe im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus, die Gefahr sei nicht gebannt, Anschläge nur eine Frage der Zeit. Diese und ähnliche Sätze hören wir immer wieder, vom Innenminister wie von den Sicherheitsbeamten und von Geheimdienstchefs. Und auch ohne dass in Deutschland etwas passiert wäre, hat sich unsere Gesellschaft verändert, weil wir uns verändert haben. Wir haben unsere Selbstverständlichkeit verloren.
Wir "gehen" nicht mehr, wir "trauen" uns in Stadien und Bahnhöfe
Einige von uns trauen sich nicht mehr auf Wochenmärkte und in Konzerte. Andere gehen hin und sehen das als Akt des Trotzes, sogar als Akt des Mutes. Wir gehen nicht mehr einfach in Stadien oder in Bahnhöfe, sondern: Wir trauen uns in Stadien und in Bahnhöfe. Was vorher selbstverständlich war, ist mittlerweile zu einem Statement geworden. Ich habe manchmal den Eindruck, die Anschläge vor einem Jahr und erst recht die im November haben uns zu Heroen des Alltags gemacht.
Es ist die Logik der Anschläge, dass sie nicht nur Menschen töten, sondern auch Angst verbreiten. Und leider funktioniert sie: Ein Dutzend religiöser Fanatiker haben uns in Angst versetzt und mit uns einen ganzen Kontinent. Diese Angst hat etwas Hysterisches bekommen. Da sticht ein Mann in der Londoner U-Bahn auf Fahrgäste ein und schafft es in sämtliche Nachrichtensendungen, weil er "Das ist für Syrien" gerufen haben soll. Ohne diesen Ruf wäre es eine schwere Körperverletzung gewesen, eine von leider vielen und hätte keine besondere Aufmerksamkeit erfahren.
Das Leben birgt Risiken: Es gibt 3500 Verkehrstote jedes Jahr
Natürlich wirken die Bilder von Paris nach und lösen Ängste aus. Ich zumindest kann mich davon nicht frei machen. Der einzige Weg ist deshalb, uns einzugestehen, dass der Terror zu unserem Leben dazugehört.
Das Leben birgt viele Risiken. An die meisten haben wir uns gewöhnt und akzeptieren sie. Jedes Jahr sterben 3500 Menschen bei Verkehrsunfällen. Trotzdem kämen wir nicht auf die Idee, Autofahrer besser zu überwachen oder gar Autos zu verbieten. Wir verweigern uns sogar dem Tempolimit im Namen einer freien Gesellschaft, getreu dem Motto: Freie Fahrt für freie Bürger.
Jedes Jahr werden in Deutschland 600 Menschen erschlagen oder ermordet. Wir erfahren von einigen aus den Medien und nehmen diese Toten hin, weil wir wissen, es gibt kein Zusammenleben von 80 Millionen Menschen ohne Gewalt.
Gerade wurden in Berlin vier Männer von Unbekannten auf offener Straße mit Messern und einer Schusswaffe attackiert. Einer starb, drei wurden verletzt. Trotzdem kenne ich niemanden in meinem Umfeld, dem diese Meldung Angst gemacht hätte und der mit einem flauen Gefühl im Magen auf die Straße geht. Was anders wäre, hätten die Unbekannten "Allahu akbar" gerufen, denn das hätte eine Nachrichtenlawine ausgelöst, Politiker würden mehr Überwachung und einen Ausbau des Geheimdienstes fordern und viele von uns wären bereit, in der Hoffnung auf Sicherheit auf Freiheit zu verzichten.
Der Alltag ist kein heroischer Akt
Es geht mir nicht darum, die Terrorgefahr zu leugnen. Wie ernst sie ist, darüber werden wir uns nie ein eigenes Bild machen können, weil Erkenntnisse der Geheimdienste immer geheim bleiben werden. Wir müssen uns aber eingestehen, dass es kein sicheres Leben gibt. Und dass es irrational ist, jedes Jahr Tausende von Verkehrstoten und Opfer von Gewaltverbrechen zu akzeptieren, aber unsere Selbstverständlichkeit aufzugeben aus Angst vor dem islamistischen Terror, der in Deutschland noch kein Todesopfer gefordert hat.
Und wir sollten auch damit aufhören, jeden Konzertbesuch und jedes Shoppengehen als Beweis unseres Mutes zu stilisieren. Die Teilnahme am öffentlichen Leben macht uns noch nicht zu Helden.

Nicol Ljubic wurde 1971 in Zagreb als Sohn eines Flugzeugtechnikers geboren und wuchs in Schweden, Griechenland und Russland auf. Er studierte Politikwissenschaften und besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Seit 1999 lebt er als freier Journalist und Autor in Berlin und war dort Mitinitiator der Europäischen Schriftsteller-Konferenz im Mai 2014. Sein jüngster Roman "Als wäre es Liebe" (2012) ist bei Hoffmann und Campe erschienen.

Der Journalist und Schriftsteller Nicol Ljubic. Der 1971 in Zagreb geborene Ljubic wurde für seine journalistische Arbeit unter anderem mit dem renommierten Theodor-Wolf-Preis ausgezeichnet. Über seine Erfahrungen nach dem Eintritt in die SPD schrieb er das Buch "Genosse Nachwuchs. Wie ich die Welt verändern wollte". 
© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
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