Irina Scherbakowa: "Die Hände meines Vaters"

Memoiren einer russischen Familie

Buchcover "Die Hände meines Vaters" von Irina Scherbakowa, im Hintergrund der Rote Platz in Moskau
Buchcover "Die Hände meines Vaters" von Irina Scherbakowa, im Hintergrund der Rote Platz in Moskau © Droemer Knaur Verlag / AFP / Vasily Maximov
Von Sabine Adler · 04.11.2017
Porträt eines bewegten Jahrhunderts: Mit "Die Hände meines Vaters" erzählt die Historikerin und Publizistin Irina Scherbakowa die Geschichte ihrer jüdisch-russischen Familie – von Pogromen über die Oktoberrevolution bis in die Jahre nach der Sowjetunion.
Was für eine Ähnlichkeit! Wer das Buch der russischen Menschenrechtlerin aufschlägt, dem schaut die Autorin in die Augen. Meint man. Der ernste Blick, die schmalen Lippen, das dominante Kinn, dunkles glattes Haar. Doch statt Irina Scherbakowa blickt uns ihre Ururgroßmutter Etlja Jakubson an und gibt damit auch schon das Thema vor.
Es geht um Erinnerungen einer jüdisch-russischen Familie, beginnend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Flucht der Familie vor einem Pogrom in Starodub. Die Stadt, deren Bevölkerung zur Hälfte aus Juden bestand, liegt heute im Dreiländereck Russland, Weißrussland und der Ukraine.

Streben nach Bildung hat Vorrang

Nach dem Pogrom traf die Familie eine Entscheidung, die eine Weichenstellung war: Sie beschloss, sich zu assimilieren, der russischen Kultur und Sprache zuzuwenden, jeder Religion zu entsagen. Das Streben nach Bildung wurde oberstes Ziel und sollte sich auszahlen. Denn nach der Oktoberrevolution fielen die Beschränkungen für die jüdische Bevölkerung. Juden, auch Frauen, konnten studieren und Irina Scherbakowas Familie fühlte sich wegen der unerwarteten Möglichkeiten eng verbunden mit den neuen, kommunistischen Machthabern.
Undatierte Aufnahme des sowjetischen Diktators Josef Stalin.
Der sowjetische Diktator Josef Stalin. © picture-alliance / dpa
Der Großvater gelangte als erster 1924 nach Moskau, wurde Referent des bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitrow, der 1933 wegen des Reichstagsbrandes angeklagt, aber freigesprochen und nach Moskau abgeschoben wurde. Zusammen mit Kommunisten aus Deutschland und ganz Europa wohnten die Großeltern jahrelang im berühmten Moskauer Hotel "Lux". Sie waren Teil der sowjetischen Nomenklatura, was wegen Stalins vielen sogenannten Parteisäuberungen nicht nur ein Privileg war.
"Wie weit glaubte mein Großvater an das, was er schrieb? Hat er sich ständig selbst überzeugt von der politischen Zielrichtung der stalinschen Außenpolitik? Hat er den im August 1939 zwischen Stalin und Hitler geschlossenen Nichtangriffspakt befürwortet, der den wichtigen Grundgedanken der Komintern, die antifaschistische Idee, zunichtemachte?
Ich habe viele solcher Fragen an meinen Großvater. Und es fällt mir nicht leicht, sie zu beantworten. Er war zweifellos ein kluger und verstehender Mensch. Nicht umsonst fragten ihn ständig Verwandte und Bekannte um Rat ... aber er war eben auch ein Idealist. Dass ihm sein Glaube an die Sowjetmacht und den Kommunismus trotz allem bis Ende der 1940er-Jahre erhalten blieb, geht sehr deutlich aus seinen Briefen hervor."

Kritische Sicht auf das "geteilte Bewusstsein"

Dieses "geteilte Bewusstsein", Zeuge des Terrors gegen die Bevölkerung zu sein und sich dennoch loyal zu verhalten, war typisch für Millionen von Sowjetbürgern. Irina Scherbakowas Familie ist nur deswegen eine Ausnahme, weil sie sich mit dieser – eben auch eigenen – Geschichte kritisch auseinandersetzt. Als Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag seinem Vorgänger Josef Stalin die Schuld für den Personenkult und die Verbrechen zuwies, war er der erste, der zumindest parteiöffentlich die blutige Herrschaft der Kommunisten thematisierte.
Der frühere sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow
Der frühere sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow© dpa / picture-alliance / Votava
Der Großvater zerbrach, als er das Ausmaß der Schuld erkannte. Dass sich das heutige Russland weder mit der Oktoberrevolution noch der Stalin-Diktatur auseinandersetzt, führte Irina Scherbakowa unlängst in Berlin auf den fehlenden Pluralismus im heutigen Russland zurück:
"Die Diktatur lebt ja nicht vom Dialog. Ohne Pluralität existiert keine Erinnerung. Wir wissen natürlich, dass das in der Diktatur einfach nicht geh, denn eine Diktatur braucht ja ganz andere Mittel."

Gründerin der Organisation Memorial

Die Autorin gehört zu den Gründern der Menschenrechtsorganisation Memorial, die Stalin-Opfer und deren Angehörige ermutigt, Zeugnis abzulegen. Sie erzählt ihre Familiengeschichte präzise, stellt die Angepasstheit der Großeltern und Eltern in den historischen Zusammenhang, ohne sie zu verteufeln, aber auch, ohne schönzureden.
Die Chronologie ist nicht stringent, Irina Scherbakowa erzählt mit zahlreichen Vor- und Rückgriffen. Aber sie schildert stets plastisch den sowjetischen Alltag, seine Tristesse und die allgegenwärtige Angst vor der Willkür des kommunistischen Regimes. Deswegen kann der Leser so manche Wiederholungen in diesem höchst informativen Familienporträt verzeihen.
Immer wieder streicht die 68-jährige Historikerin heraus, wie häufig glückliche Fügungen die Familie vor Schlimmerem bewahrten, während der weitere Familien- und Freundeskreis harte Schicksalsschläge in der Diktatur und im Zweiten Weltkrieg erlitt. Irina Scherbakowas Vater kämpfte ebenfalls an der Front, wurde so schwer verletzt, dass an der rechten Hand nur zwei Finger übrig blieben, was den Vater nicht hinderte, sich weiter als Literaturjournalist bis weit in die Perestroika hinein zu betätigen.

Teil der sowjetischen Intelligenzija

Die Familie von Irina Schindel, wie sie mit Mädchennamen hieß, war Teil der sowjetischen Intelligenzija. Ihr Freundeskreis liest sich wie das Who is Who der sowjetischen Literatur und Kunst: Literatur und Journalismus waren zu Breshnews Zeiten zu den wichtigsten Schlachtfeldern zwischen Stalinisten und Antistalinisten geworden. Irina und ihre Schwester lauschten zu Hause in der Wohnung den oft hitzigen Debatten.
Sie, die als Kind Gruselgeschichten liebte, kam über die Eltern an die im Untergrund kursierenden Bücher aus dem Samisdat, dem Selbstverlag. Las Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag". Mit der deutschen Übersetzerin des Archipels war die Mutter befreundet, sie half ihr, die Manuskripte Solschenizyns ins Ausland zu schmuggeln. Die Straflager waren offiziell noch immer tabu, für Irina Scherbakowa wurden sie zum Lebensthema.
Doch zunächst studierte sie Germanistik, ihre jüdische Nationalität begrenzte die Möglichkeiten. Wie verbreitet Antisemitismus in der Sowjetunion war, zeigte der sogenannte fünfte Punkt im Personalfragebogen.

Mit einem Makel behaftet

Wer unter Nationalität, nicht Religion wohlgemerkt, "Jüdisch" eintragen musste, war mit einem Makel behaftet. Als junge Übersetzerin bekam sie zunächst nur DDR-Literatur.
"Sämtliche Erwähnungen von Repressionen unter Stalin wurden gestrichen und – Gott behüte – wehe, irgendwo wurde ein Vergleich gezogen zwischen den Regimen Hitler und Stalin. Aber auch das Thema Judenverfolgung, über das in der DDR geschrieben werden durfte, unterlag bei uns der Zensur. (...) Den beklemmendsten Eindruck machten auf mich zwei kurze Erzählungen einer Schriftstellerin, von der ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Sie hieß Herta Müller und beschrieb ein so tristes und freudloses Leben der Deutschen in Rumänien, dass es sogar psychisch schwierig war, sie zu übersetzen."
Die älteren, erfahreneren Kollegen arbeiten sich durch die bundesdeutsche Literatur hoch zu klassischen Werken, die als Krönung galten. 1989 übersetzte sie zum letzten Mal DDR-Literatur, es war Volker Brauns "Hintze-und-Kunze-Roman", dann fiel die Mauer. Die Jahre danach handelt Irina Scherbakowa in den Memoiren im Eiltempo ab, weswegen ihre Familiengeschichte vor allem eine sowjetische ist.
Das ruft nach einer Fortsetzung. Seit 1999 organisiert sie den Jugend-Geschichtswettbewerb, hat tausende von russischen Familienschicksalen gelesen. Wie dieses Wissen ihre Sicht auf das Russland von heute prägt, wäre vermutlich genauso spannend.

Irina Scherbakowa: Die Hände meines Vater
Eine russische Familiengeschichte
Droemer, München 2017
416 Seiten, 22,99 Euro

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