Intime Blicke auf den "Bad Boy" der Haute Couture

15.10.2012
Von 1997 bis zu seinem Selbstmord im Jahr 2010 hat die französische Fotografin Anne Deniau den berüchtigten Mode-Designer Alexander McQueen mit der Kamera begleitet. Vierhundert Aufnahmen veröffentlicht sie nun in diesem Band. Das Ergebnis ist eine fotografische Liebeserklärung.
Mit weit aufgerissenem Mund lacht der britische Star-Designer Alexander McQueen über etwas, das ihm Kate Moss außerhalb des Bildrandes zeigt. Ein Schnappschuss fokussiert ihn von hinten, als McQueen vom Backstage-Bereich auf den Pariser Laufsteg tritt, an seiner Hand ein Model mit fünffach drapiertem, überdimensionalem Brautkleid und kopfhohem Kragen. Der Modemacher kniet vor einer feenhaften Erscheinung in schwarzem Etuikleid und prüft den Sitz eines skelettförmigen Metallkorsetts, das dem Outfit eine albtraumhafte Dimension verleiht.

Dreizehn Jahre lang hat die französische Filmemacherin und Fotografin Anne Deniau den britischen Designer Alexander McQueen mit der Kamera begleitet. Von 1997, als McQueen sein Debüt bei der französischen Haute-Couture von Givenchy gab, über die Kollektionen seines eigenen Labels bis zur letzten Schau vor seinem Selbstmord im Jahr 2010. Vierhundert Fotografien, teils in Farbe, teils in Schwarz-weiß, hat Deniau jetzt veröffentlicht - um gegen eine Verklärung Alexander McQueens anzukämpfen, wie sie im Vorwort schreibt: "Entsetzt sehe ich mit an, wie die fürchterliche 'Legende' seine eigentliche Lebensgeschichte in den Hintergrund drängt."

Die Legende – das ist die Geschichte vom "bad boy" der Haute Couture, vom Arbeiterkind Alexander McQueen, Sohn eines schottischen Taxifahrers, der sich mit handwerklichem Können und künstlerischer Provokation ganz nach oben in die französische Haute Couture hochgearbeitet hat. Der Skandal-Designer, der seinem Publikum nach einer Modenschau 1995 anstatt einer Verbeugung den nackten Hintern präsentierte. McQueen, der in düster-morbiden Schauen blutverschmierte Models über den Laufsteg schickte, Frauen für seine Kollektion "Highland Rape" in zerfetzte Schottenkleider steckte oder (als krönenden Abschluss der Kollektion #13) eine "Tänzerin" in weißem Ballkleid zwei farbsprühenden Robotern aussetzte. Alexander McQueen als exzentrischer Künstler, der auf der Laufsteg-Bühne seine Obsessionen auslebte.

Dagegen fokussieren viele bis dato unveröffentlichte Fotografien von Anne Deniau, was bei diesen spektakulären Modenschauen hinter der Bühne passierte: Models in märchenhaft-grotesken Roben bei der Anprobe, Alexander McQueen backstage bei der Arbeit. Einige Bilder wirken nahezu intim. Sie zeigen nachdenkliche Blicke, kurze Berührungen, manchmal ein Lächeln, das McQueen mit Freunden und Mitarbeitern teilt. In seinen ausgebeulten Jeans, den Turnschuhen und einem karierten Holzfällerhemd sieht Alexander McQueen mitunter aus wie ein Bühnenarbeiter, der sich irrtümlich in seine Fashion Show verirrt hat. Mit sehr persönlichen Fotografien gelingt es Anne Deniau, dem Betrachter einen der wichtigsten Mode-Designer der Gegenwart nahe zu bringen.

Doch was auf der Bild-Ebene funktioniert, geht beim ebenso subjektiv gehaltenen Text nicht auf. Es fehlt eine Einführung in das komplexe Werk Alexander McQueens, ohne die sich die chronologisch nach Modenschauen gruppierten Fotografien kaum erschließen. "Love looks not with the eyes" ist eine fotografische Liebeserklärung an den britischen Ausnahme-Designer Alexander McQueen - doch für ein Verständnis seines Werks sollte auf dem Kaffeetisch noch etwas Platz sein, zum Beispiel für den Katalog des New Yorker Metropolitan Museum of Art, das Alexander McQueen 2011 posthum mit einer Ausstellung ehrte.

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Anne Deniau: Love Looks Not With the Eyes: Die Welt des Lee Alexander McQueen
Übersetzt von Claudia Theis-Passaro und Annegret Hunke-Wormser
Knesebeck-Verlag, München 2012
400 Seiten, 78 Euro