Interreligiöser Brückenbauer

Von Udo Tworuschka · 24.08.2005
Wie kein anderer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat sich Hermann Hesse mit fernöstlicher Weisheit und Religion auseinander gesetzt. Damit wurde er zu einem interreligiösen Brückenbauer zwischen West und Ost. Seine Romane "Siddharta" und "Der Steppenwolf" wurden Kultbücher der jugendlichen nordamerikanischen und europäischen Protestkultur der 60er Jahre. Hermann Hesse hat den Westen für den Buddha, die hinduistische All-Einheitsphilosophie und die Götterwelt Hindu-Indiens, die Religionswelt Chinas und den japanischen Zen-Buddhismus aufgeschlossen.
Der interkulturell sensible katholische Theologe Christoph Gellner (Jahrgang 1959) analysiert in seinem material- und reflexionsreichen Buch die Entwicklung von Hesses Denken und schriftstellerischem Schaffen. Damit fügt er dem noch jungen Forschungsfeld Weltreligionen und Literatur einen weiteren bemerkenswerten Baustein zu. Gellner zeichnet die Auflehnung des künstlerisch ambitionierten Hesse gegen die Welt seiner gläubigen schwäbisch-pietistischen Eltern nach. Er beschreibt die Wurzeln der westlichen Fernostfaszination, der sich der junge, als Schriftsteller bereits erfolgreiche Hesse nicht entziehen kann. Ein vielschichtiges Bild von den zivilisationskritischen und kulturreformerischen Aufbrüchen, Experimenten und Visionen des frühen 20. Jahrhunderts wird vor dem Leser ausgerollt.

Hesses Hinwendung zu Indien vollzieht sich auf dem Umweg über seine Beschäftigung mit theosophischen Texten. Hesse erschließt sich dann aber schnell buddhistische und hinduphilosophische Texte, kann von sich sagen: "Im Alter von 30 Jahren war ich Buddhist". Auf der Suche nach innerer Vervollkommnung macht sich Hesse 1911 auf den Weg nach Indien. Es gelingt ihm aber nur mühsam, sein aus der klassischen Religionsliteratur stammendes Weisheitsideal Asiens aufrecht zu erhalten. Abgelöst wird seine anfängliche Indienbegeisterung bereits schon auf der Reise durch seine Faszination für die Chinesen und China. Schon früh hatte Hesse die chinesischen Klassiker studiert. Bewegte sich damit durchaus in zeittypischen Bahnen, wenn man an Alfred Döblin und das intellektuelle Klima der Vorkriegsjahre denkt. Bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges hatte sich Hesses religiös-poetische Vision herauskristallisiert: Seiner klaren Absage an den kirchlich-dogmatischen Absolutheits- und Überlegenheitsanspruch entsprach ein ebenso deutliches Plädoyer für die Gleichrangigkeit von östlicher und westlicher Religiosität, sein Engagement für eine wechselseitige Durchdringung und Bereicherung der religiösen Erfahrungen östlicher und westlicher Geistestraditionen.

Der Epochenumbruch des 1. Weltkrieges markiert eine einschneidende Zäsur in Hesses Leben und Werk. Der Schriftsteller ruft seine Schriftstellerkollegen zu Neutralität, transnationale Humanität, zu Frieden und Völkerverständigung auf – in deutlichem Unterschied zu vielen Intellektuellen und Professoren seiner Zeit. Hesse gerät in eine schwere Nervenkrise. Die psychotherapeutische Behandlung bei einem Schüler von C.G. Jung, schließlich bei dem Meister selbst, lässt Hesse endgültig Abschied nehmen vom Sünde strafenden zornigen Gott seiner pietistisch-schwäbischen Kindheit. Hesse erfährt Religion als angstfreies Vertrauen und Quelle für die Selbst-, Ganz- und Menschwerdung des Menschen.

Hesses berühmter Roman "Siddharta" ist die Geschichte einer Individuation, die Suche nach eigener Identität. Es ist ein Weg des Brahmanensohnes Siddharta – ohne Lehrer, mithin ohne den Buddha. Ein Weg, auf dem buddhistische, hinduistische, taoistische, schließlich psychoanalytische Elemente miteinander verschmelzen.

Nach dem Aufenthalt in der Hölle des "Steppenwolf(es)" – Porträt einer "Lebens-, Künstler- und Gesellschaftskrise" (Hans Mayer) – reiht sich Hesse unter die "Morgenlandfahrer" ein. Dieses Werk ist die thematisch und strukturell wichtigste Vorstufe zu seinem epischen Alterswerk "Das Glasperlenspiel", bei dem es um die Synthese von Wissenschaft und Kunst, Religion, Musik und Spiritualität geht. Hesse entdeckt jetzt das Werk des zweiten großen Chinesen: die Ethik des Konfuzius.

In den späten 50er Jahren kommt es zu einer letzten Begegnung Hesses mit asiatischer Spiritualität: mit dem japanischen Zen-Buddhismus.

Hesses Bedeutung liegt für Gellner in seinem religions- und kulturübergreifenden Denken in globalen Dimensionen und Synthesen. Auf der Grundlage seiner Überzeugung von der Einheit aller Menschen trat Hesse dafür ein, die Werte christlich-abendländischer Tradition zu bewahren, sie jedoch durch die spirituellen Erfahrungstraditionen asiatischer Religionen zu bereichern. Hesses aktuelle Botschaft: Religiös zu sein angesichts des Pluralismus der Religionen, heißt interreligiös zu sein.

Christoph Gellner:
Hermann Hesse und die Spiritualität des Ostens
Düsseldorf: Patmos Verlag 2005, 270 Seiten
Preis: 24,90 €