Integrationsdebatte

Neue Achse der politischen Unterschiede

Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), äußert sich am 05.01.2015 bei einer Pressekonferenz in Berlin zu Möglichkeiten des Umgangs mit der "Pegida"-Bewegung. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa | Verwendung weltweit
Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung © dpa / Foto: Bernd von Jutrczenka
Marcus Pindur im Gespräch mit Naika Foroutan  · 19.05.2018
Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Migrationsforschung. Sie fordert ein Einwanderungsgesetz und zeigt sich frustriert, dass die deutsche Debatte schon einmal weiter gewesen sei als heute.
Migrationsforschung ist der Themenschwerpunkt der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan. Seit April 2014 ist sie stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung und leitet den Arbeitsbereich "Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik". Im Juni 2015 wurde sie zur Professorin für "Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik" durch die Humboldt-Universität zu Berlin berufen.
Unser Redakteur Marcus Pindur sprach mit Foroutan in Deutschlandfunk Kultur darüber, ob es jenseits der nackten rassistischen Gewalt der Rechtsradikalen auch einen "Alltagsrassismus" gebe und wie sich die Integration in Deutschlandland entwickelt.
Marcus Pindur: Die Ausgangsfrage noch einmal gestellt: Gibt es so etwas wie Alltagsrassismus? Und wenn ja, wie schaut das aus? Was können wir uns darunter vorstellen?
Naika Foroutan: Unter Alltagsrassismus können wir eher die subtileren Arten der Ausgrenzung vielleicht zusammenfassen, die oft überhaupt nicht rassistisch gemeint sind, die aber beim Gegenüber trotzdem das Gefühl der Irritation auslösen und dieses permanente Bewusstsein, eigentlich nicht dazu zu gehören, in irgendeiner Form grundieren.
Das kann in Gesten stecken, in wohlmeinenden Fragen, Bestätigung, dass man besonders gut Deutsch spreche, oder auch Fragen danach, wann man eigentlich wieder zurück gehe in seine Heimat, oder auch einfach Blicke, die vielleicht gar nicht so wohlmeinend sind, die man aber in der U-Bahn und im Alltag spürt.
Man kann sehr engagiert sein, sehr offen und sehr wohlmeinend und trotzdem alltagsrassistisch. Und das ist auch wiederum keine Frage der Herkunft. Also, es ist auch nicht so, dass man jetzt sagt, Alltagsrassismus ist reserviert für weiße Deutsche und geht von ihnen aus, sondern es kann genauso rassistische abwertende stereotypisierende Handlungen in einem Menschen geben, der von sich selbst eben ansonsten sehr überzeugt ist und es wahrscheinlich vielleicht auch ist in seinen Handlungsformen, aber durchaus überzeugt ist, progressiv zu sein, menschenfreundlich zu sein und antirassistisch. Und trotzdem kann man jemand anderen stereotyp und abwertend behandeln.
Das liegt einfach da dran, dass unser Bewusstsein darüber, was rassistisch ist, noch nicht so stark geschult worden ist. Ich glaube, das ist etwas, was man durchaus als Gesellschaft noch lernen kann.

Die Vielfalt der Migranten

Pindur: Frau Foroutan, Sie sind empirische Sozialforscherin. Wie hat sich denn die Migration in Deutschland entwickelt nach dem Zweiten Weltkrieg. War das Jahr 2005 das entscheidende Einschnittsjahr? Oder gab es in nennenswertem Ausmaß auch schon Migration zuvor?
Foroutan: Selbstverständlich gab es schon Migration zuvor. Und wir könnten, wenn wir Migration so definieren, wie es in der Theorie definiert wird, nämlich als dauerhafte Verlagerung des Wohnungsmittelpunktes, müssten wir rein theoretisch auch die elf Millionen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg als Migranten und Migrantinnen bezeichnen. Aber ich denke, Sie möchten erstmal hinaus auf die Migrationszahlen, die mit den Anwerbeabkommen sich auch sehr stark auf Länder Südeuropas und auch außerhalb Europas konzentriert haben.
Wenn wir sagen, 55 hatten wir das erste Anwerbeabkommen mit Italien und es folgten dann Spanien und Griechenland, Marokko und die Türkei, dann können wir auch sagen, dass wir bis zum Anwerbestopp 1976 bereits um die 14, 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land hatten. Gleichzeitig haben wir vehement abgewehrt, dass wir ein Einwanderungsland sind.
Zuwanderer aus verschiedenen Ländern nehmen am 18.09.2014 in Berlin an einem "Integrationskurs Deutsch" im Sprach- und Integrationszentrum in der Braunschweiger Straße in Neukölln teil. 
Sprachkurs für Migranten© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Dann können wir erkennen, dass die Debatte sich irgendwann verändert hat gegen Ende der 90er Jahre. Die Süßmuth-Kommission, die eingesetzt wurde, um auch die Fragen von Einwanderung mit zu behandeln in Deutschland, kam dann 2001 zu dem Schluss, dass Deutschland sehr wohl ein Einwanderungsland sei. In Wahrheit hatten sich aber die Zahlen bis dahin nicht besonders verändert. Es war also keine empirische Kausalität, wenn man so möchte, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt oder einer bestimmten Ziffer dieses Land sich als Einwanderungsland bezeichnet hat, sondern sie hat sich auf Basis einer politischen Debatte ab einem bestimmten Zeitpunkt als Einwanderungsland bezeichnet, nämlich ab 2001.
Und mit dieser neuen Bezeichnung, wenn Sie so wollen, mit diesem neuen Narrativ, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, ist auch eine Kette von Gesetzgebungsprozessen einhergegangen, so zum Beispiel im Zuge dieser Debatten die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes oder aber auch später die Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder die doppelte Staatsangehörigkeit etc. etc.
Man kann also sehen, ein Narrativ kann auch sehr stark gekoppelt werden mit einer politischen Umsetzbarkeit. Und das ist auch der Moment, in dem Erzählungen in der Tat sich in politische Logik umsetzen.

Kämpfe um Positionen

Pindur: Und die Erzählung wurde ab dem Punkt eine andere, als wir politisch gesagt haben, ja, wir sind ein Einwanderungsland. – Die Zahlen hatten sich ja 2001 nicht dramatisch verändert, wie Sie eben gesagt haben. Es ist also weniger eine Frage der nüchternen Zahlen, wie Menschen überhaupt zu Migration stehen und mit ihr umgehen. Den Blick auf Migration verändert man also nicht, indem man beruhigende Zahlen, sage ich mal, in die Welt setzt.
Wie verändert man denn den Blick eines Landes auf Migration? Geht das überhaupt durch politische Beschlüsse?
Foroutan: Na ja, in der Tat ist es so, dass es immer auch Kämpfe um Anerkennung gibt, um Positionen in Gesellschaften. Wir können sagen, die erste Generation, die nach Deutschland migriert ist, hat schon ab einem gewissen Zeitpunkt erkannt, dass sie bestimmte politische Positionen mit der Mehrheitsgesellschaft aushandeln muss, wenn sie hier bleiben möchte und wenn sie für ihre Kinder verbesserte Ausgangssituationen erreichen möchte.
Die ersten Migrantenorganisationen haben sich formiert. Es gab einen sehr großen spanischen Elternverband, der vor allen Dingen auf Sprache und Bildung gesetzt hat. Es hat die türkische Gemeinde in Deutschland gegeben. Das heißt, es hat schon organisationale Strukturen gegeben. Es ist aber auch eine Generationenfrage.
Die zweite Generation hat schon sehr viel stärker für sich auch in Anspruch genommen, nicht mehr nur als Teil einer ausländischen Kohorte zu gelten, sondern auch Anschluss zu finden in und an das sogenannte kollektive Narrativ, an die deutsche Identität. Das ist etwas, das auch einhergegangen ist mit der Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes.
Als im Jahr 2001 der Entschluss fiel, dass dieses Gesetz der deutschen Staatsangehörigkeit reformiert werden sollte, übrigens nach einer langen, langen Phase der Kontinuität seit 1913, war das die große Reform, die besagte, dass Deutscher nicht nur sein kann, wer deutsche Vorfahren besitzt, sondern dass man auch unter bestimmten Prämissen eben Deutscher werden kann, dass das ein aspirativer Moment ist, sozusagen eine Möglichkeit, diesen Moment der nationalen Identität zu erlangen und nicht nur qua Geburt oder qua Blut, im Grunde genommen begnadet zu sein, diese Identität zu erhalten.
Und ab diesem Zeitpunkt sind auch sehr viele Aushandlungsprozesse einhergegangen mit der Idee: Was bedeutet es eigentlich für mich und meine Kinder, wenn sie diese Staatsangehörigkeit haben? Ist es dann noch legitim, als Bürger und Bürgerin zweiter Klasse gesehen und behandelt zu werden oder in so vielen Strukturen nicht repräsentiert zu sein, wenn ich doch als Bürger dieses Landes auf Basis dieses Grundgesetzes eigentlich die gleichen Rechte haben sollte?

Gesetz und Realität

Pindur: Brauchen wir eine Art politisches Bekenntnis oder haben wir das schon längst geleistet, Deutschland zur Migration und zur Integration von Migranten?
Foroutan: In der Tat ist das deutsche Grundgesetz schon sehr umfassend. Es hat auch sehr starke normative Prämissen. Unter anderem: Innerhalb der zwanzig Grundrechtsartikel, zum Beispiel Artikel 4 der Religionsfreiheit, oder Artikel 3 die Gleichheitsfrage, die allesamt im Grunde genommen den Grundsatz für eine plurale Demokratie legen.
Wenn nämlich innerhalb dieser Grundsatzartikel ausgegangen wird davon, dass Menschen auf Basis unterschiedlicher Religionen, Herkünften und Zugehörigkeiten unterschiedliche Forderungen stellen dürfen, geht also dieser republikanische Gedanke schon davon aus, dass diese Gesellschaft plural ist – und das schon 1949.
Das Plenum des Bundestags. Am Pult spricht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn über den Etat für sein Ressort.
Im Bundestag sind weniger Frauen vertreten als in der letzten Legislaturperiode © dpa-Bildfunk / Michael Kappeler
Die Frage ist immer, wie eine solche Norm dann auch in Wahrheit in empirische Realität übersetzt wird. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, um dann nochmal zur Migrationsfrage zurückzukommen:
Es stand schon seit 1949 in Artikel 3: Die Rechte der Frauen sind den Rechten der Männer gleichgesetzt. Trotzdem mussten bis zur Mitte der 70er Jahre Frauen ihre Männer fragen, wenn sie arbeiten gehen wollten. Das heißt, es gab auf der einen Seite eine Norm auf Basis dieses Grundrechtsartikels, auf der anderen Seite musste das, was in dieser Norm steht, erst über eine lange Kette von Kämpfen, und zwar in diesem Falle von emanzipatorischen, feministischen Kämpfen ausgehandelt werden. Erst dann konnte diese Norm zu einem Teil in Realität umgesetzt werden.
Auch jetzt fehlt es noch an Normumsetzung, um zum Beispiel die Gleichheitsfrage zwischen Mann und Frau wirklich absolut zu denken. Denken Sie mal an unser Parlament. Wir haben derzeit nur dreißig Prozent Frauen zum Beispiel im Bundestag. Die Frage, ob wir Migration und Integration auch bekennend ins Grundgesetz heben, ist eine, die in der Tat in den letzten Jahren von unterschiedlichen Organisationen in Deutschland gefordert wurde, unter anderem von einer Organisation, die nennt sich "Deutsch Plus". Das ist eine eben ein sozusagen NGO, die auch für solche Fragen der Gleichheit eintritt und Vielfalt.

Integration ist ein Ziel aller

Pindur: An deren Gründung waren Sie ja auch beteiligt.
Foroutan: An deren Gründung war ich auch beteiligt. Und der Vorsitzende von "Deutsch Plus" Farhad Dilmaghani hat sehr stark versucht, das in den politischen Prozess hineinzubringen, nämlich die Frage, ob man ins Grundgesetz einen Zusatzartikel unter Artikel 20 mit aufnimmt, der besagt: Die deutsche Gesellschaft ist vielfältig. Integration ist ein Ziel aller. – Das wäre auch durchaus möglich gewesen, weil unter diesem Zusatzartikel ist zum Beispiel auch ein Tierrecht verankert oder Umweltziele. Das heißt, die Verfassung gibt Raum, um ein klares Bekenntnis zu Integration für alle in der Gesellschaft abzubilden.
Pindur: Sie haben mal gesagt, unsere Gesellschaft sei politisch bipolar, aber so nicht mehr wie früher, wo es mal rechts und links war. Es würde sich jetzt anders sortieren. – Was meinen Sie damit genau?
Foroutan: Das, was wir derzeit beobachten können, ist, dass die politische Lagerbildung, mit der wir über Jahrzehnte vertraut waren, nicht mehr alleine trägt. Wir sind ganz lange gewohnt gewesen, in Koordinaten von links, rechts und Mitte zu denken. Wir erkennen aber, dass sich derzeit eine neue Achse in dieses Koordinatensystem verschoben hat. Das ist der Umgang und die Haltung zu Pluralität.
Eine Helferin gibt am 06.09.2015 in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) in einem Gebäude in der Nähe von Hauptbahnhof einer Mutter Kindermilch.
Ehrenamtliches Engagement prägt die Hilfe für Flüchtlinge in Deutschland © picture alliance / dpa / Maja Hitij
Wir erkennen, dass für manche Menschen in diesem Land und auch in anderen Ländern, das ist jetzt kein deutsches Spezifikum, der Umgang mit Pluralität, mit Ambiguität, mit Vielfältigkeit und Vieldeutigkeiten sehr viel leichter gelingt, dass die sich dadurch weniger herausgefordert fühlen, dass sie das vielleicht sogar als notwendig für ihre eigene Weiterentwicklung lesen, dass sie selber adaptiv darauf reagieren können oder auch sagen können, das ist es, was mein Leben weniger langweilig macht zum Beispiel.
Andere Menschen, das können wir auch erkennen, haben eine sehr starke Sehnsucht nach Eindeutigkeiten. Für sie ist jede Form der Vieldeutigkeit eine Herausforderung und Infragestellung ihres eigenen Bekenntnisses oder ihres Glaubensgrundsatzes oder ihrer eigenen Vorstellung von Weltdeutung. Das können wir erkennen, dass wir es hier quasi mit zwei neuen Camps zu tun haben, die in sich sehr vielschichtig sind.
Nehmen wir mal den Umgang zum Beispiel mit der Frage der Fluchtmigration. Diejenigen, die in der Geflüchtetenhilfe aktiv waren, waren ein sehr, sehr heterogenes Lager. Wir haben sehr religiöse, katholische, evangelische, sehr viele ältere Menschen in dieser Geflüchtetenhilfe gehabt, zeitgleich und zusammen kämpfend mit linken AktivistInnen oder Antifa-AkteurInnen oder Migrantenorganisationen oder Studierenden. Also, insofern kann man plötzlich von einer ganz neuen Allianz sprechen, die sich dort gefunden hat.
Umgekehrt finden wir in diesem Lager, das so pluralitätsabwehrend ist, auch Konstellationen, die wir so gar nicht miteinander zusammenbringen würden, zum Beispiel Pegida und Salafisten. Insofern kann man erkennen, dass diese Abwehr von Pluralität in der Tat eine quasi neue Achse in unser politisches Koordinatensystem einspeist.

Integration vor Ort

Pindur: Was kann denn Politik konkret machen, um Pluralität, Diversität für Menschen handhabbar zu machen? Kann das überhaupt von Politik geleistet werden?
Foroutan: Also, im Grunde genommen kann man das nicht als Top-Down-Prozess steuern. Es gibt ja so dieses Bonmot: "Integration findet vor Ort statt". Und es sagen ganz viele Menschen, die vielleicht in theoretischen und politischen Positionen gar nicht so deutliche Bekenntnisse ablegen würden, dass sie in privaten Kontexten auch gerne und eng mit migrantischen Personen zusammen sind. Also, insofern ist das eine Ebene, dieses "Integration findet vor Ort statt" oder Kontakträume schaffen Nähe und bauen Stereotype ab. Alles das ist auf der einen Seite da.
Auf der anderen Seite ist die Frage: Ab wann setzen sich solche Erfahrungen auch in konkretes politisches Handeln um? Und es bleibt die Frage einer pluralen Demokratie, wie sehr sie diesen Grundsatz, der in ihrer Verfassung angelegt ist, irgendwann auch in politisches Handeln authentisch überführt.
Wir können erkennen, zum Beispiel die Abwehr der Tatsache über Jahrzehnte, anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland war oder ist, und die Abwehr der Tatsache, ein konkretes Einwanderungsgesetz zu schaffen oder Integration als einen Prozess zu denken, der nicht nur auf Migranten orientiert ist, sondern ein Prozess der Teilhabe aller Menschen an zentralen Ressourcen und Gütern ist, das ist alles bis jetzt noch politisch nicht umgesetzt und auch noch nicht als politischer Leitsatz definiert worden.
Ich denke, das ist der Moment, wo wir gerade in unseren Aushandlungsprozessen drum ringen. Bezeichnen wir uns als modernes Einwanderungsland, das auch bestimmte Konsequenzen eingehen muss, die nicht nur bekenntnisorientiert sind, sondern sich eben auch in politisches Handeln übersetzen? Oder verweigern wir uns der Realität und gehen zurück in eine Vorstellung einer regulierten deutschen Gesellschaft, die Einwanderung immer nur als transitiv, als Ausnahmezustand begreift und nicht als schon längst Grundlage ihrer empirischen Realität?

Reich und Rechts

Pindur: Oder auch: Steuern wir Einwanderung auch nach unseren Bedürfnissen, so wie es ja ein Einwanderungsgesetz könnte? – Sind Sie dafür, dass wir möglichst schnell ein Einwanderungsgesetz bekommen?
Foroutan: Ich bin dafür, dass wir ein klares Einwanderungsgesetz bekommen. Da arbeiten wir schon sehr lange dran. Ich denke, die Diskussionen der Steuerung und Punktesysteme, die werden auch schon lange geführt. Es ist nicht, dass man erst angefangen hat, darüber nachzudenken nach 2015, sondern es gibt dafür schon Konzepte seit mehr als einem Jahrzehnt. Und die Fragen danach, wie diese Punkte und Regulierungssysteme funktionieren, sind in der Tat welche, die man dann wiederum im politischen Spektrum aushandeln kann.
Pindur: Ein viel benutztes Erklärungsmodell für die Ängste, die mit Migration bei manchen Menschen einhergehen, ist, dass viele Menschen in Deutschland durch soziale und wirtschaftliche Unsicherheit sehr verunsichert sind. – Teilen Sie dieses Erklärungsmodell?
Foroutan: Grundsätzlich ja, allerdings sind wir im Moment mit einer paradoxen Situation konfrontiert, nämlich dass wir aus der Sozialforschung heraus beobachten können, dass es derzeit auch die sehr reichen und wohlhabenden Länder sind, die sehr stark rechtspopulistische Parteien in ihre Regierungen hinein wählen.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) bei einer Pressekonferenz in Wien
In Österreich regiert die rechtspopulistische FPÖ von Vizekanzler Heinz-Christian Strache gemeinsam mit der ÖVP von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. © imago / Eibner Europa
Das heißt, wenn wir auf die Schweiz schauen, auf Österreich oder auf die skandinavischen Länder, haben wir dort seit längerer Zeit stark rechtspopulistische, ausländerfeindliche bis teilweise rassistische Positionen innerhalb des Parteienspektrums und auch innerhalb der Regierungen. Das sind alles Länder, die zu den wohlhabendsten Ländern der Welt gehören. Das heißt, dieser kausale marxistische Schluss, dass es vor allen Dingen Gesellschaften sind, die ökonomisch am Boden liegen, wo Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zunimmt, lässt sich derzeit nicht bestätigen.
Wir müssen also über neue Erklärungen nachdenken und wir können die eigentlich im Moment nur spekulativ führen. Es gibt auch im Moment die große Frage, ob Rassismus zu so etwas wie einem postmaterialistischen Phänomen geworden ist nach dem Motto: Erst wenn ich alles habe und im Grunde genommen keine großen Distinktionsmechanismen mehr gegenüber anderen aufweisen kann, kann ich mir den Luxus leisten, meine eigene Identität als ein Exklusivgut zu sehen. Wir können auch erkennen, dass Rassismus derzeit sehr stark sich auch über die Eliten einspielt.
Es ist ja nicht so, dass man sich erleichtern könnte und sagen könnte, das ist ein Phänomen des kleinen Mannes. Die ganze neue Rechte hat sehr viele Professoren und Professorinnen in ihren Reihen. Und sehr viele der Denker kommen aus intellektuellen Zirkeln, die jetzt völkische Argumente aufweisen. Insofern würde es zu kurz greifen, wenn wir einfach nur auf die armen Schichten der Gesellschaften verweisen würden.

Narrative Kraft des Fußballs

Pindur: Man soll nicht überbewerten, wenn sich Fußballer in die Sphäre der Politik begeben, aber die Nationalspieler Özil und Gündugan haben jetzt jüngst einen Sturm der Entrüstung losgetreten, weil sie sich werbewirksam mit dem türkischen Präsidenten Erdogan haben fotografieren lassen. Und die Journalistin Hatice Akyün hat dazu gesagt: "Da rennst du ein Jahrzehnt durch die Gegend, redest dir über Integration und das Vorbild deutsche Nationalmannschaft den Mund fusselig. Und dann kommen zwei Nationalspieler daher, die so ziemlich alles in ihrem Fußballerleben der deutschen Vereinsarbeit zu verdanken haben, brabbeln etwas von ihrem Präsidenten Erdogan. Und du fängst wieder ganz von vorne an."
Das Bild zeigt unter anderem die deutschen Fußball-Nationalspieler Özil und Gündogan sowie den türkischen Staatspräsidenten Erdogan. 
Das Bild zeigt unter anderem die deutschen Fußball-Nationalspieler Özil und Gündogan sowie den türkischen Staatspräsidenten Erdogan. © screenshot twitter @Akparti
Da spricht einiges an Frustration heraus. Teilen Sie diese Frustration?
Foroutan: Ja. Die teile ich in der Tat. Man hat immer wieder das Gefühl, wir seien schon weiter als wir sind. In manchen Phasen der Debatten und Diskussionen waren wir es auch. Im Fußball selbst steckt ja eine große narrative Kraft. Und wir haben ja jetzt in diesem Gespräch immer wieder auch über die Kraft von Narrativen gesprochen. Allerdings möchte ich nicht aus diesem Gespräch rausgehen mit der Wahrnehmung oder so rezipiert werden, als würde ich sagen: Alles ist einfach nur eine große Erzählung. Deswegen habe ich auch gesagt, das Wichtige ist, diese Narrative mit konkreten politischen Maßnahmen zu verknüpfen.
Wenn wir überlegen, dass es dieses Sommermärchen gab mit der großen Vorstellung, dass Deutschland eine vielfältige Gesellschaft geworden ist, mit einem Imagewandel, der von außen so wahrgenommen wurde, in dem Deutschland erstmalig auch so stark als internationale Volksgemeinschaft, wenn Sie so wollen, wahrgenommen wurde, müssen wir auch überlegen: Wie wird dieses Image strukturell grundiert?
Ist es so, dass dieses Bild, das wir über eine Fußballmannschaft nach außen vertreten, in der Alltagsrealität der Migrantinnen und Migranten und in der Alltagsrealität der nicht migrantischen Bevölkerung tatsächlich auch verankert ist? Da, müssen wir ganz klar sagen, findet sich diese vielfältige Erzählung nicht in den Alltagsstrukturen wieder.

Vielfalt wird nicht abgebildet

Pindur: Aber doch gerade in den Vereinen, da findet doch sowas statt.
Foroutan: In den Vereinen ja, aber Sie müssen überlegen: Wenn wir sagen, wir haben 22,5 Prozent Personen mit Migrationshintergrund, also knapp jede vierte Person hat einen sogenannten Migrationshintergrund, aber wir haben nur acht Prozent Personen mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag. Wir haben zwar über 35 Prozent Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, aber nur knapp zehn Prozent Lehrerinnen und Lehrer. Wir haben im deutschen Kabinett keine einzige Person mit einem sichtbaren Migrationshintergrund. – Und ich kann Ihnen das so durch deklinieren, diese Repräsentationslücken: Dann werden Sie merken, eine Erzählung von Vielfalt alleine reicht nicht, wenn wir dafür nicht politische Maßnahmen finden, die diese Vielfalt in reale Alltagssituationen übersetzen.
Innerhalb der Vereine haben Sie sehr viele Spieler mit Migrationshintergrund. Aber Sie müssen schauen, ob Sie auch innerhalb der Verbandsebene der Vereine in der Tat diese Repräsentationslogik wiederfinden. Das ist ja ganz oft so. Das Gleiche ist mit der Frauenfrage ähnlich gekoppelt, wo Sie sehr viele Frauen mittlerweile auch innerhalb der Berufs- und Arbeitswelt haben. Aber wenn Sie auf die deutschen DAX-Unternehmen schauen, da ist die Zahl minimal. Ich glaube, sie liegt bei sieben Prozent in den Vorständen.
Insofern gibt es ein mismatch zwischen dem, was wir uns als soziale Norm auferlegen, nämlich Gleichheit zu reflektieren und zu repräsentieren, und dem, was wir dann in der empirischen Realität vorfinden. Das ist Aufgabe der Politik, diese Norm mit der empirischen Realität zu synchronisieren.
Pindur: Wir haben eben angesprochen, dass sich bestimmte Debatten wieder und wieder und wieder wiederholen, ohne dass man das Gefühl hat, tatsächlich weiterzukommen oder ohne dass es richtig wahrgenommen wird, dass man ja auch tatsächlich weiterkommt, also, zum Beispiel bei der Beschäftigung von Migranten.
Da ist ganz vorne immer die Debatte über die sogenannte Leitkultur. Und dann kommen wieder irgendwelche Versuche, da einen Kanon von Verhaltensweisen festzulegen, der irgendwie wünschenswert sei. Sie sagen, dass es jenseits der Verfassungstreue und der Gesetzestreue eigentlich nur eines "aspirativen Leitbildes" bedarf für eine Gesellschaft. – Können Sie das mal mit Inhalt füllen?
Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth in Göttingen.
Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) © Deutschlandradio / Nicolas Hansen
Foroutan: Ja. Die Debatte um die Leitkultur ist ja schon, wie Sie gesagt haben, sehr alt. Sie fing im Jahr 2000/2001 massiv an – interessanterweise genau in dem Jahr, als die Süssmuth-Kommission festlegte, Deutschland ist ein Einwanderungsland, und im selben Jahr, in dem das deutsche Staatsangehörigenrecht reformiert wurde. Das heißt, ab dem Zeitpunkt wurde es leichter, deutsch zu werden. Es war nicht mehr gekoppelt eindeutig nur an Ahnenschaft, sondern man konnte optieren für die deutsche Staatsbürgerschaft.
Zeitgleich dazu fing die Debatte um die deutsche Leitkultur an. Diskursiv kann man das miteinander verkoppeln, weil man sagt: Es wurde erleichtert, Deutscher zu werden. Und parallel dazu kam diese Geste: Denkt euch bloß nicht, ihr könnt einfach so Deutsch werden! Denn zwischen Deutschen und echten Deutschen gibt es nochmal einen Unterschied. Und das sind die, sich zur Leitkultur bekennen.
Und das wurde wiederum ganz stark an eine vergangene Diskussion geknüpft, an gefühlte gemeinsame Vergangenheit, weniger in der Tat an Wertedebatten. Und das ist die Frage, die man sich stellen könnte. Ein aspiratives, also nach vorne gewandtes Leitbild im Gegensatz zu einer historisierenden, nach hinten gewandten Leitkulturdebatte würde es ermöglichen, dass man nach vorne schauend durchaus diese Wertedebatten führt. Wie wollen wir zusammenleben in einer pluralen Demokratie?
Ist unser Grundsatz des Zusammenlebens geleitet von den Grundrechten unserer Verfassung? Eines der Kerngrundrechte unserer Verfassung ist Artikel 3, der Gleichheitsgrundsatz, der sagt: Kein Mensch darf aufgrund seines Geschlechts, seiner Religion, seiner ethnischen Herkunft, seiner Behinderung etc. benachteiligt werden. Ist das etwas, was uns antreibt als Demokratie? Wollen wir dafür politische Maßnahmen gemeinsam wählen? Oder definieren wir unsere Zusammenkunft eher über die Debatten, ob wir irgendwann zusammen – keine Ahnung – von Germanenstämmen abstammen oder auch nicht?
Das ist jetzt ein bisschen vielleicht sehr ironisiert. Wir müssen Vergangenheit mit rein denken und selbstverständlich ist ein Teil der Vergangenheit auch der Umgang mit dem Holocaust. Das heißt, es geht nicht darum, in einer Leitbilddebatte Vergangenheit zu eliminieren, sondern es geht darum, die Frage zu stellen, wie aus vergangenen Kontexten zukünftig etwas entsteht, wo man auch die Menschen mitnehmen kann, die vielleicht in dieser Vergangenheit nicht hier waren und deren Ahnen nicht hier geboren sind. Und das sind immerhin, wie wir jetzt schon mehrmals gesagt haben, fast jeder Vierte in dieser Gesellschaft.

Suche nach Leitbildern

Pindur: Nennen Sie doch mal ein Beispiel für ein "aspiratives Leitbild".
Foroutan: Die Kanadier haben dieses aspirative Leitbild formuliert: Unity in Diversity. Auch die US-Amerikaner haben in den 70er Jahren ein solches Leitbild mal definiert. Das haben sie damals als sogenannte Nation of Immigrants und damit den melting pot definiert. Heutzutage glauben wir, das sei ein Gründungsmythos, der die USA schon immer in ihrer Selbsterzählung definiert habe. Aber in Wahrheit ist das auch etwas, was im Zuge der ganz starken Polarisierung der Gesellschaft, auch im Zuge des Civil Rights Movement definiert wurde. Wir sind eine Nation of Immigrants und unser Ziel ist es, nach vorne zu schauen.
Wie wir erkennen können, wird dieses Leitbild in den USA derzeit stark hinterfragt. Insofern können wir auch, wir wissen, Leitbilder sind fluid, aber sie können eine sehr starke treibende Kraft haben. Und ich denke, eines der Worte, die wir mit in so ein Leitbild nehmen könnten, wäre in der Tat zum Beispiel Solidarität, zum Beispiel Gleichheit, zum Beispiel Anerkennung. Wir können mit diesen Begriffen arbeiten. Sie sind nicht nur emotional affektive Begriffe, sondern sie können in sich ganz klare politische Prämissen tragen.
Anerkennung zum Beispiel ist etwas, was man flankieren kann durch bestimmte Bildungsmaßnahmen. Anerkennen kann man zum Beispiel, indem man Vielsprachigkeit anerkennt, zum Beispiel, indem man Muttersprachen in Schulen unterrichtet. Anerkennung kann man zeigen zum Beispiel, indem man religiöse Grundrechte nebeneinander bestehen lässt, indem man möglicherweise auch Feiertage akzeptiert von anderen religiösen Gruppen.
Das heißt, es ist nicht nur so, dass Anerkennung etwas ist, was einen symbolischen Charakter hat, sondern man kann es konkret in Anerkennungspolitik umsetzen.
Pindur: Könnten Sie mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit leben?
Foroutan: Ja, damit kann ich sehr gut leben. Und ich denke, das ist auch in der Tat ein sehr, sehr tragendes und, wie Sie feststellen können, aspiratives Leitbild. Es ist etwas, was in die Zukunft trägt. Jeder von uns, der drauf schaut, weiß, dass diese drei Kernsätze nicht umgesetzt worden sind heute in unserer derzeitigen Realität. Aber es dient uns als Treiber, darauf hinzuwirken. Es ist ein politischer Antrieb.
Pindur: Frau Foroutan, vielen Dank für das Gespräch.
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