Innovativ, avantgardistisch, totalitär

28.01.2013
Fast 50 Jahre schrieb Ezra Pound an seinen Gesängen. Der amerikanische Schriftsteller knüpfte mit ihnen an die großen abendländischen Epen an und nutzte Homer und Dante als literarische Bezugspunkte. "Die Cantos" liegen jetzt erstmals vollständig als zweisprachige Ausgabe vor.
Bei dem amerikanischen Weltlyriker Ezra Pound (1885-1972) ist man gezwungen, gleichzeitig zwei entgegengesetzte Blickwinkel einzunehmen. Man ist hingerissen von der sprachlichen Erfindungsgabe, von der neuartigen Textstruktur, von einer allumfassenden Ästhetik, doch dazwischen gibt es immer wieder ein "Aber". Pound ist ein Skandalon. Er steht für etwas, was dem gängigen Klischee zuwiderläuft: ein sprachlicher Erneuerer, ein Avantgardist, der zugleich politisch extrem rechts stand und den italienischen Faschistenführer Mussolini verehrte.

Diese Mischung ist bei seinen "Cantos", dem Hauptwerk, an dem er von 1917 bis 1966 schrieb, bis in die kleinsten Verästelungen hinein spürbar: das Entgrenzende, der große künstlerische Zugriff, die Sensibilität für kleinste Anspielungen und Regungen geht einher mit Lobgesängen auf Mussolini und seine Partei. Pounds "Cantos" sind eines der großen enigmatischen Hauptwerke der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Es sind Gesänge, "Canti", die an die einzelnen Abschnitte in Dantes "Göttlicher Komödie" anknüpfen, anglisiert mit der englischen Pluralendung. Diese Gesänge haben zum einen einen hohen, lyrischen Ton, eine Sprache der Verdichtung, die an die großen abendländischen Epen anknüpft. Aber im selben Zug bis nach Byzanz und China ausgreifen kann – zum anderen können sie in "niederer", schnoddriger Alltagssprache daherkommen, mit Slang und wüsten Beschimpfungen, und die direkte Sprache der Sexualität kann für Pound dasselbe sein wie pathetische Anrufungen im Stile Homers und Ovids. Manchmal sind diese extrem unterschiedlichen Stillagen in ein und demselben Canto enthalten, oft stehen sie sich aber auch in einzelnen Kapitel diametral gegenüber.

Dante und Homer sind die zentralen Bezugspunkte, denen etliche andere Inspirationsträger von der Antike über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit zur Seite gestellt sind. Die "Odyssee" ist das Leitmotiv, das in den Erkenntniswegen dieser lyrischen, rhetorisch weit gefächerten Gesänge immer wieder aufscheint, und Dantes Gang von der Hölle bis ins Paradies bildet, abzüglich seiner christlichen Emblematik, ein konkretes Pendant. Das Paradies ist für Pound allerdings gänzlich irdisch, und man kann es im Idealfall als eine Welt lesen, in die alle künstlerischen Erklärungsversuche eingegangen sind, in allen möglichen Sprachen und in allen möglichen Formen, bis hin zur Musik und zum Bild – Notenlinien und chinesische Schriftzeichen sind in die "Cantos" immer wieder integriert.

Die Hölle dagegen ist eindeutig die des Kapitalismus: Pound verweist immer wieder auf die Geschichte des Bankwesens, auf den Finanzkapitalismus, klagt konkret Geldhäuser wie J.P. Morgan an und setzt Lobpreisungen des italienischen - Avantgarde und totalitäre Fantasien verschmelzenden - Faschismus dagegen. Nach dem Tod Mussolinis schreibt Pound in einem an Guantanomo erinnernden Straflager, in einem Käfig auf freiem Feld bei Pisa, nach der Zerschlagung all seiner Projektionsflächen, die "Pisaner Cantos" – das Herzstück seines Hauptwerks, dessen Reize unausschöpflich sind. Es ist das Lebenswerk Eva Hesses, dieses Unikum ins Deutsche gebracht zu haben. Es erscheint jetzt zum ersten Mal vollständig.

Besprochen von Helmut Böttiger

Ezra Pound: Die Cantos
Übersetzt von Eva Hesse. Zweisprachige Ausgabe. Arche Literatur Verlag, Zürich 2012. 1479 Seiten, 98 Euro

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