Inklusion in Schweden

Behindertenfreundliches System in Gefahr

Ein Fahrstuhl im Bahnhof einer U-Bahn in Stockholm.
Ein Fahrstuhl in Stockholm © Imago / Westend61
Von Carsten Schmiester · 14.03.2016
Jeder fünfte Schwede lebt mit einer Behinderung. Was die Rechte Behinderter angeht, ist Schweden ein Musterland. Es gibt ein funktionierendes System guter Behindertenintegration - noch, denn Kritiker sehen dieses System in Gefahr.
In Schweden sind offiziellen Angaben zufolge etwa zwei Millionen Menschen behindert, von ganz leicht bis ganz schwer, von ganz jung bis ganz alt. Jeder und jede Fünfte also, ein großes Problem in einem vergleichsweise kleinen Land, das sich aber seit langer Zeit mit viel Kraft und internationaler Anerkennung um möglichst gute, ja gleiche Lebensbedingungen für Behinderte bemüht. Wie weit Schweden damit gekommen ist, hat die Supermarktkette "ICA" vor ein paar Jahren bewiesen. In einer Serie von Fernsehspots spielt ein junger Mann mit "Down-Syndrom" die zentrale Rolle: Der heute 46-jährige Mats Melin, landesweit bekannt und beliebt unter dem Spitznamen "ICA Jerry". In dieser Szene fragt er Stig, seinen Chef, ob er einem seiner Freunde etwas Gutes tun kann...
"Stig, ich hab da einen Kumpel, der macht Musik. Können wir nicht seine CD verkaufen? Es ist doch Weihnachten! Naja, ganz hinten im letzten Regal. Dann merkt Stig, wer Jerrys Kumpel ist - der schwedische Popstar Måns Zelmerlöf. Plötzlich ist alles gut und die CDs kommen ins beste Regal zu den beliebten Pfefferkeksen."

Zeichen setzen: Behinderte sind Freunde

Das Ganze war und ist ein Zeichen: Behinderte sind unsere Freunde. Im wirklichen Leben sieht das nicht immer so aus, aber rein rechtlich ist es so. Kinder mit Behinderung gehen meist in die Regelschule; sie werden dort zusammen mit anderen Schülern unterrichtet oder besuchen eine Spezialklasse. Die Schüler haben, wie alle Behinderten, je nach Grad der Behinderung Anspruch auf kostenlose Assistenz, das können bis zu acht Helfer im Schichtdienst rund um die Uhr sein. Wer seine Wohnung behindertengerecht umbauen muss, der kann Zuschüsse beantragen. Zuschüsse gibt es auch für Autos.
Arbeitgeber, die Behinderte beschäftigen, bekommen staatliches Geld für die Lohnzahlung und Menschen, die aufgrund einer Behinderung ihr Leben nicht mehr alleine bewältigen können, kommen in rund um die Uhr betreuten Wohngemeinschaften unter. Grundlage ist unter anderem das – Zitat - "Gesetz über Hilfs- und Dienstleistungen für Menschen mit bestimmten Funktionsbehinderungen" von 1994, Schweden hat ergänzend 2008 die Konvention der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und ein Jahr später ein eigenes Anti-Diskriminierungsgesetz verabschiedet, das nicht nur, aber eben auch Behinderte vor jeder Form ungleicher Behandlung schützen soll. Nach dem Recht also ein Musterland, was die Teilhabe Behinderter am gesellschaftlichen Leben angeht.
Charlotta Göller, Menschenrechtsexpertin beim "Amt für die Integration behinderter Menschen", sieht zwar hier und da noch Baustellen, teils sogar sprichwörtlich, wenn es etwa um den barrierefreien Ausbau öffentlicher Verkehrssysteme geht, aber grundsätzlich ist sie zufrieden mit dem Erreichten. Nur nicht damit, dass einige Schweden die Leistungen für behinderte Mitbürger noch immer nicht für selbstverständlich, sondern für großzügig halten...
"Man vergisst häufig, dass es dabei um Menschenrechte geht. Diese vielfältigen Unterstützungsangebote sind aber keine Almosen. Ich glaube, wenn man Behinderte wirklich in die Gesellschaft integrieren will, dann soll man nicht an Unterstützung oder Wohlfahrt denken, sondern an Menschenrechte. Behinderte haben die gleichen Rechte wie alle anderen auch!"

Kafkaesk: Wenn man einen Rollstuhlplatz will

Das bestreitet hier niemand. Nur: Rechte haben, das ist das Eine. Das Problem, das Andere eben, liegt oft in der Umsetzung, sagt Mia Fällström aus Stockholm, selbst Mutter eines behinderten Sohnes. Beispiel Bahn:
"Es ist oft schon fast kafkaesk - wenn man einen Rollstuhlplatz buchen will, geht das nicht übers Internet, man muss anrufen. Und dann kommt es häufig vor, dass der Lift im Zug nicht funktioniert oder irgendetwas anderes geht schief. Es sind viele beschwerliche Dinge da, die eigentlich nicht beschwerlich sein müssten, wenn man nur etwas mehr tun würde."
Aber das passiert offenbar immer seltener. Und es hat keine Konsequenzen, sagt Mia Fällström:
"Selbst wenn man von seinem Recht Gebrauch machen wollte, ist das Gesetz ziemlich zahnlos, was die Strafen angeht. Als ob man Misshandlung verbietet, aber diejenigen nicht bestraft, die trotzdem misshandeln."
...und das gilt auch für andere Bereiche der Behindertenhilfe. Nach Fällströms Erfahrung etwa für den Bereich der persönlichen Hilfsleistungen. Hier beklagt sie eine über die Jahre schleichende Erosion der zunächst sehr hohen Standards...

Behindertenintegration in Gefahr

"Als das Gesetz neu war, wurden ja noch sehr viele Hilfsstunden bewilligt. Aber dann wurde es immer schwieriger, solche Hilfen zu bekommen. Viele Menschen, die schwerere Behinderungen haben, fürchten, dass es sogar noch schwieriger wird und sind deshalb sehr besorgt. Dann würden sie ja wieder isoliert. Nur wenn man eine funktionierende Assistenz hat, ist man selbstständig und frei..."
Fällströms nicht so positive Bilanz: Schweden – das ist ein noch funktionierendes System guter Behindertenintegration. Doch während die Regierung den weiteren Ausbau verspricht, ist es tatsächlich eher in Gefahr...
"Schweden ist härter geworden. Wir haben ein gutes Wohlfahrtssystem gegen ein eher liberales System ausgetauscht, das mehr auf Eigenverantwortung setzt. Die Vermögenssteuer wurde abgeschafft, die Erbschaftssteuer verringert, es gibt weniger Mittel. So stehen unterschiedliche Bedürfnisse gegeneinander und Behinderte werden wohl mit als erste Rückschläge hinnehmen müssen."
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