Inklusion am Schulanfang

Behörden machen behindertem Kind das Leben schwer

Der sechsjährige Mika strahlt in die Kamera.
Mika ist sechs Jahre alt. An seinem ersten Schultag war er total begeistert. Der Weg dorthin war für seine Eltern allerdings besonders schwer. © Deutschlandradio / Sylvia Belka-Lorenz
Von Sylvia Belka-Lorenz · 19.09.2017
Mikas Vater ist sauer: Sein sechsjähriger Sohn leidet unter einer seltenen Muskelerkrankung, beide Eltern sind berufstätig – doch einen Hortplatz erhalten sie erst, als sich unsere Reporterin einschaltet.
Das Schultor der Cottbuser Bauhausschule am frühen Nachmittag. Mika rollt über die kleine eiserne Rampe strahlend Richtung Mama und Papa. Er sei seit dem ersten Schultag geradezu in einem Rausch, erzählen mir die Eltern. Ob Mathe, Deutsch oder Kunst. Mika findet alles super.
"Toll, ganz toll. – Mika ist völlig geflasht und total begeistert. Man merkt, das war Zeit."
Kurze Besprechung mit Julius, Mikas Einzelfallhelfer, dann hebt der Vater den Jungen in seinen Sitz. Befestigt die Gurte an Beinen, Rumpf, Hüfte. Prüft, ob Kopf und Füße gut gestützt sind. Verlädt den Rollstuhl.
Was ich und Außenstehende als aufwändige Prozedur erleben – für die Familie des Sechsjährigen ist das Alltag. Mika kam mit einer seltenen Muskelerkrankung zur Welt. Ihr Junge sei wie eine große schlackrige Stoffpuppe, so beschreiben die Eltern das – so liebevoll wie nüchtern.

"Es findet sich kein Hort, der Mika nimmt"

"Man sieht auch, dass sich alle Therapien gelohnt haben. Dass sich Mika immer wieder nach vorn entwickelt hat. Schule war ja für uns schon ein neuer Lebensabschnitt. Was uns dann auch glücklich macht: dass wir das alles so geschafft haben."
Denn dieser Schulanfang grenzt medizinisch an eine Sensation. Mika vermag mit Spezialgerät eine Weile aufrecht zu sitzen. Er kann schlucken und atmen. Den Alltag erleichtern viele speziell angepasste Hilfsmittel: Therapie- und Toilettenstuhl, ein sogenannter Steh-Trainer, der zeitweise eine aufrechte Körperhaltung simuliert. Yvonne Resag und Ron Klauck haben die Therapien und Experten nicht gezählt, die das möglich gemacht haben, dass Mika so lange so fit bleiben würde. Doch die Umstände um diesen so außergewöhnlichen Schulanfang bringen die Eltern seit vielen Monaten beinahe zum Verzweifeln.
Am Ende wird alles gut: Mika präsentiert stolz seine Schultüte.
Am Ende wird alles gut: Mika präsentiert stolz seine Schultüte.© Deutschlandradio / Sylvia Belka-Lorenz
Beide sind voll berufstätig, doch trotz monatelangen Bemühens findet sich kein Hortplatz für Mika.
"Da geht es vielleicht um fünf Stunden in der Woche, die wir benötigen würden, nach der Arbeit, um Mika abzuholen. Und es findet sich kein Hort, der Mika nimmt. Mit scheinheiligen Aussagen, warum es nicht geht. Gerade in Burg. In Burg wurde ein neues Hortgebäude gebaut. Barrierefrei. Und dann wird uns erzählt, dass der Hort im ersten OG durchgeführt wird. Wo man sich dann fragt... was soll das?"
Ein weiteres Paradoxon: der Einzelfallhelfer. Der Mensch, der Mika acht Stunden am Tag betreut, anzieht, trägt, der ihn windeln und füttern muss – den hätte die Familie gerne vorher kennengelernt. Auskunft vom Kostenträger: man solle froh sein, überhaupt einen zu bekommen.

"Überall wird mit Inklusion geworben"

Ich bitte bei den zuständigen Ämtern um Interviews. Plötzlich kommt Bewegung in diesen scheinbar unlösbaren Fall. Anruf des Jugendamtes – nicht bei den Eltern, sondern bei mir. Ron Klauck, als ich am selben Nachmittag mit ihm vor dem Physioherapieraum der Schule warte, ist so überrascht wie skeptisch:
"Das schlimme ist ja, dass überall mit Inklusion geworben wird. Und wenn wirklich mal ein Fall kommt, dann wird abgelehnt und alle sperren sich dagegen. Versuchen, den Problemen aus dem Weg zu gehen. Wenn man das jetzt sieht, da werden nur die Probleme aufgezählt, die es gibt. Aber niemand sucht nach Lösungen. Das macht einen schon traurig."

"Zwischenzeitliche Kommunikationsprobleme"

Kaum eine Woche später das vereinbarte Treffen. Die Zuständigen der Gemeinde, des Landkreises und des Jugendamtes Cottbus. Die Anspannung ist deutlich spürbar – ins Mikrofon sprechen möchte, trotz unserer Verabredung, niemand. Man müsse zunächst einmal selber Klarheit darüber gewinnen, was im Fall von Mika bislang eigentlich so kompliziert war. Eine gute Stunde später doch eine offizielle Verlautbarung. Verena Buder vom Cottbuser Jugendamt:
"Es gab zwischenzeitlich, das kann man auch so sagen, Kommunikationsprobleme. Und ich denke, wir haben alle aus diesem Fall unsere Erfahrungen gezogen, dass wir zukünftig, alle Beteiligten, eher gemeinsam uns an einen Tisch setzen."
Das Jugendamt zeigt sich reuig. Man wolle aus diesem Fall lernen und bei künftigen Fällen statt bürokratischer Umwege schneller den kurzen Amtsweg nutzen. Und: selbstverständlich bekommt Mika seinen Hortplatz – und das innerhalb von nur einer Woche.
Yvonne Resag und Ron Klauck schlüpfen in ihre Jacken, eher fassungslos als froh. Dass sie ihr Stück Normalität manchmal so hart erkämpfen müssen. Damit ihr Sohn auch noch Kind sein kann – und nicht von früh bis Abend Patient.
Mehr zum Thema