Ingwer - Natürliches Heilmittel mit Einschränkungen

Von Udo Pollmer · 30.11.2008
Ingwer kommt wie viele andere Gewürze vor allem in der Weihnachtszeit zu Ehren. Dabei wird er in Asien auch als therapeutisches Mittel genutzt - ganzjährig, versteht sich.
Stecken in unseren Weihnachtsplätzchen apothekenpflichtige Stoffe? Bei Gewürzen ist es nicht immer leicht eine Grenze zu ziehen zwischen den arzneilichen und den geschmacklichen Qualitäten. Heute wird Ingwer bei uns erfolgreich bei der Reisekrankheit eingesetzt. In der asiatischen Medizin ist seine Anwendung viel breiter, die Wirkungen werden je nach Zubereitung unterschieden. Frischer Ingwer enthält andere Stoffe als getrockneter oder dampfbehandelter. Getrockneter Ingwer ist nicht einfach nur Ingwer, der in die Sonne gelegt wurde. Das Rhizom, umgangssprachlich die Wurzelknolle, wird geschält, mit Lehmwasser besprenkelt und dann im Schatten getrocknet. Der Ingwer ist außen etwas rau und graugelb. Dampfbehandelte Ware wird hitzegetrocknet und ist blassgraubraun und glatt. Zwar schmecken beide Versionen scharf, aber der verantwortliche Stoff ist jeweils ein anderer.

Und wogegen hilft er nun, der Ingwer? Da die traditionelle chinesische Medizin ein ganz anderes gedankliches System darstellt, lässt sich das nicht in europäische Diagnosen übertragen. In vielen therapeutischen Systemen außerhalb der westlichen Medizin spielt die Veranlagung des Patienten eine zentrale Rolle. Ob frischer oder getrockneter Ingwer verordnet wird, hängt beispielsweise davon ab, ob der Patient kalte oder warme Hände hat. In der japanischen Version, der Kampomedizin, wird der Ingwer wiederum in Form von komplizierten Abkochungen angewandt. Die Art der Diagnostik und der Therapie sind wieder andere.

Und was sagt die ayurvedische Medizin Indiens? Dort spielt Ingwer sogar eine zentrale Rolle. Da nach dieser Lehre alle Krankheiten durch Ungleichgewichte entstehen, ist es das Ziel, mit Ingwer das Gleichgewicht wieder herzustellen. Deshalb können damit logischerweise sehr viele Krankheiten – je nach Konstitution – therapiert werden. Da der Ingwer erwärmend wirkt, gilt er beispielsweise bei Hitzköpfen und in der heißesten Jahreszeit als contraindiziert.

Können wir nicht aus diesen alten, tradierten Erfahrungen lernen? Absolut, die Erkenntnisse sind teilweise Jahrtausende alt. Die Frage ist nur, was sie uns Heutigen sagen. Denn erstens ändern sich die Krankheiten. Sie unterscheiden sich nicht nur von Region zu Region, sondern auch von Zeit zu Zeit. Es werden neue Erreger und Parasiten eingeschleppt, andere ausgerottet – zum Beispiel durch Trockenlegen von Sümpfen. Vor hundert Jahren war die Skrophulose, ein Halsdrüsengeschwulst, eine wichtige Diagnose in Deutschland. Heute ist die Krankheit selten. Deshalb wäre es fahrlässig, medizinische Schriften aus Indien, die tausend Jahre alt sind, für eine mitteleuropäische Verwaltungsangestellte eins zu eins umzusetzen.

Aber es wäre doch lohnend, bevor man zu harten Medikamente greift, traditionelle Kräuter zu probieren? Die Tatsache, dass es sich um Produkte aus der Natur handelt, begründet das zweite Problem. Gerade bei Gewürzen und Kräutern hängen die Wirkstoffe wesentlich von der Sorte ab, vom Standort und von der Art der Schädlinge und Krankheiten, die diese Pflanze bedrohen. Viele der Stoffe dienen der Abwehr von Fraßfeinden und Krankheitserregern. Dadurch haben die Pflanzen ganz andere Wirkprofile. Wenn ich die Pestizide draufsprühe, haben die Pflanzen keinen Anlass, selbst die nötigen Gifte zu bilden. Die Kräuter sehen aber genauso aus, sie schmecken so ähnlich, aber ihre Wirkung ist eine andere. Deshalb kann etwas in einem indischen Dorf funktionieren, was bereits mit den auf einem Markt in Bombay erworbenen Kräutern nicht mehr klappt.

Was also sollen wir dann daraus lernen? Jede Therapie ist eine individuelle Behandlung, die sowohl die Kenntnis der Konstitution des Patienten berücksichtigen muss als auch die aktuelle Krankheitslage sowie die unterschiedliche Wirkung scheinbar gleicher Produkte. Da auch die moderne Medizin an dieser Einsicht nicht vorbeikommt, hat man dafür einen unverdächtigen Namen gefunden: Man spricht von klinischer Erfahrung. Weil das Leben oftmals nicht so funktioniert, wie es die Lehrbücher gerne hätten.

Literatur:
Ravindran PN, Babu KN (Eds): Ginger. The Genus Zingiber. CRC, Boca Raton 2000
Terasawa K: Kampo. Japanese-oriental Medicine. Standard McIntire, Tokyo 1993