Infrastruktur kaputtgespart

Ein Feriensommer in der Warteschlange

Menschen stehen auf der Autobahn während eines Staus auf der A81
In der Ferienzeit staut sich der Verkehr. © picture alliance / imageBROKER / Oskar Eyb
Von Martin Tschechne · 07.09.2018
Deutschlands Infrastruktur ist in die Jahre gekommen: Autobahnen zerbröseln, Bahngleise sind defekt, Flüge werden annulliert. Für die Reisenden heißt das: Bitte warten! Der Journalist Martin Tschechne zieht Bilanz eines defekten Feriensommers.
Flughafen Frankfurt, gegen Ende der Ferienzeit: 13.000 Fluggäste wissen nicht, wohin. Ein falscher Alarm, und das Drehkreuz des Luftverkehrs sitzt fest. Zwei Tage später, ein Sommergewitter – und wieder sind es Tausende, die vor den Abfertigungsschaltern auf ihren Koffern sitzen und warten, dass sie vielleicht doch noch, nun ja: eben abgefertigt werden. Stunden der Ungewissheit, dann eine Fahrkarte für die Bahn als Trost für annullierte Flüge. Nur – viel weiter hilft die auch nicht: Irgendwo soll der Blitz einen Baum getroffen haben, eine Leitung ist beschädigt, der Norden ist abgeschnitten. Wer es sehr weit bringt, der übernachtet im Hauptbahnhof von Hannover.
Komplexe Systeme neigen zu einer gewissen Anfälligkeit. Je voller die Abflughalle, je enger die Taktung der Züge, je mehr Autos auf der Straße, desto apokalyptischer die Kette der Katastrophen. Eine brennende Böschung, ein Polizeieinsatz oder ein Verirrter, der in falscher Richtung durch die Absperrung tappt – und das Chaos ist programmiert. Der Urlaub, das Dasein als Pendler, die nie in Frage gestellte Gewohnheit, zu einer geschäftlichen Besprechung persönlich anreisen zu müssen – ein ganzer Lebensstil führt sich in solchen Momenten ad absurdum.

Kilometerlanges Stop-and-Go

Steckt am Ende eine höhere Botschaft dahinter? Darüber ließe sich nachdenken. Aber erst mal ausweichen auf die Autobahn. Dort: 19 Kilometer Stop-and-Go, weil, erstens, kein anderer Weg nach Hause führt und, zweitens, die Reparatur der rissigen Fahrbahndecke leider nicht rechtzeitig fertig wurde.
Schuld haben natürlich der Baum, der ganz unangemeldet umkippt, das Klima, das doch wirklich im Sommer Trockenheit bringt und im Winter Frost, oder die Rückreisewelle, die jedes Jahr so überraschend kommt wie Weihnachten.
Was das Problem dann erst richtig zum Abenteuerurlaub macht, ist die zuverlässige Hilflosigkeit derer, die immer nur auf den Normalbetrieb vertrauen: kein Plan B, kein Kontrakt mit einem Busunternehmer, der kurzfristig einspringen könnte, kein Personal, keine Fantasie. Die Mutter aller Warteschlangen wartet sich zum anderen Ende des Bahnhofs oder Flughafens wieder hinaus, weil sich vorn drei Menschen in Uniform die Zeit nehmen, die Probleme einzeln abzuarbeiten wie Seelsorger. In aller Ruhe dem Feierabend entgegen.

Blindes Vertrauen auf die alte Infrastruktur

Nun ist es ein bisschen unfair, den ganzen Ärger beim Bodenpersonal abzuladen. Was können die guten Leute für ihre Dienstpläne? Und bestimmt ist es kein Spaß, sich zu dritt einer Horde von genervten Heimkehrern auszusetzen, die mit ihrem Rechtsanwalt herumfuchteln und im Grunde nur eines wollen: weg von hier!
Der Skandal liegt auf einer anderen Ebene, nämlich im allgemein blinden Vertrauen auf eine Infrastruktur, die immer 1 A funktioniert und dabei schöne Gewinne abgeworfen hat – bis ganz allmählich aufdämmerte, dass auch der schnittigste ICE mal alt und anfällig wird und auch Brücken aus Beton ihre Streicheleinheiten brauchen.

Sparen, bis es kracht

Pardon, aber kam das alles wirklich so unangekündigt? Seit der Entdeckung Thailands und der Balearen im Last-Minute-Modus drängen sich die Touristen, weil sie glauben, ein Urlaub koste tatsächlich nur so viel wie eine Kinokarte. Bahn und Straße haben den Ansturm aufgenommen, als gäbe es keine Grenzen ihrer Kapazität. Und als diese Grenzen dann doch erreicht und überschritten waren: ein bisschen nachgebessert, zusätzliche Züge eingesetzt, aber im Grunde einfach weitergemacht wie bisher.
Den wahren Preis für die billigen Tickets bezahlen jetzt die Kunden – indem sie warten. Sich wie Stückgut hin und herschieben lassen. Und es mit Geduld oder hilflosem Zorn ertragen, wenn der atemlos überhitzte Betrieb mal wieder aus dem Takt gerät. Wer für 59 Euro nach Malle fliegt, der sollte damit rechnen.
Spätestens seit Genua aber hat sich in das allgemeine Getümmel eine bedrohliche Erkenntnis eingeschlichen: Man kann sich seine Mobilität auch kaputtsparen. Bis es kracht.

Martin Tschechne fährt Fahrrad. Zumindest, wenn es nicht allzu heftig stürmt und schüttet – was in seinem Wohnort Hamburg allerdings vorkommt. Der Journalist und promovierte Psychologe wurde mit dem Medienpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie DGPs ausgezeichnet. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).

© privat
Mehr zum Thema