Informationstechnik

Software aus dem Überwachungsstaat

Maskottchen von Weißrussland für die Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 in Minsk
Weißrussland hat nicht nur beim IT-Export, sondern auch sportpolitischen Erfolg: 2014 richtet das Land die Eishockey-Weltmeisterschaft aus. © picture alliance / dpa / Tatyana Zenkovich
Von Ute Zauft · 10.12.2013
In der Welt der Software-Entwicklung ist Weißrussland spitze. Die autoritär regierte ehemalige Sowjetrepublik entwickelt im IT-Bereich besonderen Ehrgeiz und verfügt über sehr gut ausgebildete Fachkräfte.
Vorlesungspause an der Universität für Informatik und Radiotechnik in Minsk. Am Fuß der breiten Eingangstreppe sammeln sich die Studenten in kleinen Gruppen. Auf einer der Stufen sitzt ein junger Mann in Jeans und Turnschuhen, auf den Knien eine Gitarre. In den 80er-Jahren muss das Uni-Gebäude einen Hauch von Zukunft verbreitet haben: gen Himmel strebende Fassaden-Linien, glatter Beton, die Hörsäle ragen wie kleine Tragflächen aus dem Korpus.
Der Dekan der Fakultät für Computersysteme, Valery Prytkov, eilt durch einen der langen Gänge, vorbei an frisch gestrichenen Wänden in Pastellrosa und -blau und einem großen Flachbildschirm, der nicht ganz zu den weißen Spitzenvorhängen an den Fenstern dahinter passen will.
Valery Prytkov: "Weißrussland war zu Sowjetzeiten ein Zentrum der Rechentechnik. Das hängt damit zusammen, dass Minsk beziehungsweise ganz Weißrussland nach dem Zweiten Weltkrieg komplett neu aufgebaut werden musste. Die gesamte Industrie wurde praktisch neu gegründet, deswegen war es möglich, auch die sich neu entwickelnden, hochtechnologischen Wirtschaftszweige hier aufzubauen. Hier waren Firmen angesiedelt, die Computertechnik für die ganze Sowjetunion und sogar für einige europäische Länder produziert haben."
Die weißrussische Sowjetrepublik galt als Zentrum der Elektrotechnik. Das fing mit Kühlschränken, Radios und Fernsehern an und setzte sich bis zu den Computern fort. In Minsk wurden die sowjetischen Pendants zu den US-amerikanischen Großrechnern von IBM gebaut, ebenso wie die ersten Personal Computer. Für diesen Wirtschaftszweig war die 1964 gegründete Universität so etwas wie die dazugehörige Kaderschmiede.
Valery Prytkov: "In diesem Labor steht unser Großrechner. Diese Gerät ist von seiner Kapazität her vergleichbar mit einem ganzen Rechenzentrum aus den 80er-Jahren. Hier lernen unsere Studenten Programme parallel laufen zu lassen. Dank der hohen Rechenleistung ist er ein sehr wichtiges Element der Ausbildung. Nicht jede Universität hat vermutlich so etwas zu bieten."
Der Dekan legt seine Hand fast liebevoll auf den brusthohen schwarzen Kasten. Die Kühlung des Großrechners rauscht. An der Wand prangt das Werbebanner eines großen IT-Unternehmens. Die Uni hat den Rechner selbst finanziert, doch das Unternehmen hat den Raum renoviert und die dazugehörigen PCs gestellt. Ein gängiges Kooperationsmodell an der Uni, denn die Hochschule hat nicht viel Geld. Das Ende der Sowjetunion bedeutete auch das Ende des staatlich geförderten IT-Wettlaufs gegen die Amerikaner. Viele Spezialisten verließen das Land gen Westen.
Auch Dekan Prytkov schloss zu dieser Zeit sein Informatik-Studium ab, doch er blieb. Heute hängt in seinem Büro das Porträt von Präsident Alexander Lukaschenko, der das Land seit 1994 autoritär regiert. Kritik an der finanziellen Ausstattung der Universität wird vom Dekan unter dessen Augen nicht zu hören sein.
Valery Prytkov: "Uns ist es gelungen, die Qualität aus Sowjetzeiten zu erhalten. Unsere Universität ist besonders in der mathematischen Ausbildung und im Bereich der Informationstechnologien stark. Das zieht die Studenten an."
Im ersten Studienjahr haben die Studenten zwei Doppelstunden Englisch pro Woche. Einige haben sich das Lehrbuch in digitaler Form auf ihren Laptop oder ihr Smartphone geladen. Auf dem Lehrplan steht Fachterminologie für Techniker. Die Lehrerin lehnt am Pult und fragt Vokabeln ab.
Stark bei der Offshore-Programmierung
Die Studenten sind zurückhaltend, manche antworten lieber auf Russisch als auf Englisch. Doch im Gegensatz zum Rest der weißrussischen Wirtschaft ist der IT-Sektor ausgesprochen international: Bereits 1993 gründete der US-amerikanische IT-Riese IBM eine Kooperation mit zwei führenden Unternehmen des Landes. Inzwischen drängt Weißrussland immer stärker auf den Markt der Offshore-Programmierung: Das heißt, das Land bietet für Unternehmen in Westeuropa und den USA günstige Programmiersprache-Dienstleistungen an.
Ivan ist im ersten Studienjahr, doch für ihn ist der Englischunterricht kein Problem. Schon vor der Uni hat er im südenglischen Winchester einen Sprachkurs besucht:
"Als ich 13 Jahre alt war, ist mein Vater nach Amerika, nach Chicago, gefahren und hat gesagt: Das ist die Zukunft. Dort kannst du dir die ganze Welt erschließen. Streng dich an!"
Der 18-Jährige lässt sich auf ein Sofa im Uni-Foyer fallen. Er ist groß und schlacksig. Mit seinen kurzen blonden Haaren und den leicht abstehenden Ohren wirkt er jungenhaft, doch die schmal geschnittenen Jeans sitzen perfekt, und die Schuhe glänzen wie frisch poliert. Damals riet sein Vater ihm, Englischkurse zu belegen und mit einer Programmiersprache anzufangen. Er hat hart gearbeitet, um an der Minsker Universität für Informatik aufgenommen zu werden. Sie sei die beste im ganzen Land, sagt er. Ivans Priorität ist ganz klar: Er hat das IT-Business gewählt, weil er hier für sich die besten Zukunftschancen sieht. Und zwar nicht in Weißrussland, sondern im Ausland:
"Ich will mich in Amerika zeigen, zeigen dass ich auf diesem Niveau des Programmierens bestehen kann. Ich will mich als qualifizierter IT-Spezialist beweisen, und an Projekten teilnehmen, wie es sie nur in Amerika gibt. Amerika bedeutet für mich eine Fülle an Möglichkeiten. Es ist das, was mich in der Zukunft erwartet."
Ivan lächelt etwas verlegen, als ob er seinen Worten selbst nicht so recht glauben mag. Aber er ist entschlossen: Zwei Jahre bleibt er an der Universität in Minsk, dann will er sich an einer Universität in den Staaten bewerben. Gegenüber seinem Dekan würde er das wohl nicht ganz so deutlich sagen, denn Vaterlandsliebe gehört zur täglichen Staatspropaganda. Auf riesigen Plakaten ist im ganzen Land der Slogan zu lesen: Ich liebe Weißrussland. Ivan wirft einen Blick auf sein Handteller-großes Smartphone und hat es plötzlich eilig. Der Umzug in die USA, sage er noch, sei eine Frage des Gehaltes, aber auch der Lebenseinstellung. Dort seien die Menschen immer gut drauf:
Ein Hochhaus an einer der Ausfallstraßen von Minsk. Ein Schild weist auf eine Tiefgarage nur für Mitarbeiter hin. Die Fensterfront zur Straße hin ist verspiegelt.
Der Chef der IT-Firma Sam Solutions Weißrussland hat sein Büro ganz oben – mit Blick auf das Grün eines Parks. Auf neun Stockwerken entwerfen hier 500 IT-Experten die unterschiedlichsten Programme: Ein Reservierungsportal für einen Erholungspark, eine Buchhaltungs-Software, ein Programm zur Verwaltung elektronischer Krankenakten. Marat Ebzeev trägt Hemd und Sakko ohne Krawatte. Er hat den offenen Blick eines erfahrenen Geschäftsmannes.
"Nach meiner Einschätzung wächst der IT-Sektor in Weißrussland derzeit um 20 bis 40 Prozent, das betrifft die Anzahl der Mitarbeiter, den Umsatz und den Export von Dienstleistungen. Das Wachstum liegt vor allem daran, dass sich die Unternehmen immer mehr Märkte im Ausland erschließen. Weißrussische Firmen exportieren ihre Dienstleistungen nach Europa, Asien, USA, Australien, Russland. Mit dem Wachstum des Exports kommt auch das Wachstum der Firmen, des Umsatzes und der Mitarbeiterzahl."
Das sind Wachstumsraten, von denen der Rest der weißrussischen Wirtschaft nur träumen kann. Auch Präsident Alexander Lukaschenko scheint das erkannt zu haben und ließ per Dekret einen sogenannten High-Tech-Park gründen. Firmen, die dem Verbund erfolgreich beitreten, werden von allen Unternehmenssteuern befreit, und auch die Mitarbeiter zahlen einen reduzierten Lohnsteuersatz. So wächst mitten in Lukaschenkos Staatssozialismus eine privatwirtschaftlich organisierte Nische heran.
Doch um die Fachkräfte an sich zu binden, müssen sich die Unternehmen in Weißrussland anstrengen: Sam Solutions zahlt seinen Mitarbeitern Weiterbildungen, Sprach- und Sportkurse, sogar ein kleines Fitnessstudio gibt es. Alles Dinge, die in den mehrheitlich staatseigenen Unternehmen des Landes völlig unbekannt sind – ebenso wie die Dimension der Bezahlung.
Marat Ebzeev: "Die Gehälter nähern sich inzwischen denen in Europa an. Deswegen verlassen auch weniger Programmierer das Land. Früher war das eine hohe Prozentzahl, jetzt schwächt sich der Strom langsam ab. Sagen wir, wenn hier ein erfahrener Mitarbeiter 3.000 Dollar netto verdienen kann, überlegt er sich, ob es lohnt, irgendwohin auszuwandern, oder ob man das Geld auch hier einsetzen kann."
Das weißrussische Durchschnittsgehalt lag 2012 bei rund 400 Euro. Ein erfahrener IT-Experte bekommt dagegen mindestens drei Mal so viel.
Ein Historiker schult um
Ihar hat Schluss für heute. Der 28-Jährige mit Dreitagebart zieht seine knallrote Outdoor-Jacke über den Kapuzenpullover. Die IT-Firma, für die er arbeitet, liegt in einem ruhigen Teil der 300.000-Einwohner-Stadt Grodno, unweit der Grenze zu Polen.
Ihar holt sein Fahrrad aus einem Holzverschlag hinter dem Haus. In der fast 300 Kilometer entfernten Hauptstadt Minsk wäre es einfacher gewesen, einen Job im IT-Bereich zu bekommen, doch er wollte in seinem Heimatort bleiben. Jeden Abend freut er sich, mit dem Fahrrad nach Hause zu radeln: Grodno ist bekannt für seine schönen Altbauten, ein altes Schloss und die zahlreich erhalten gebliebenen Kirchen. Auf dem Weg liegt ein Park mit einer kleinen Steinkirche aus dem 12. Jahrhundert.
"Ich bin von der Ausbildung her Historiker. Ich habe Geschichte auf Magister studiert. Deswegen interessiere ich mich nicht nur für diese Kirche hier, sondern für die Geschichte von Grodno und von Weißrussland insgesamt, das war schon in der Schule so. Im Moment ist das aber mehr ein Hobby. Bis vor zwei Jahren war das mein Beruf."
Vier Jahre lang hat der junge Historiker im Archäologischen Museum der Stadt gearbeitet, eigentlich ein Job, wie er ihn sich während seines Studiums gewünscht hatte. Doch die Ernüchterung kam schnell: Seine Aufgabe bestand darin, Besucher durch das Museum zu führen. Ideen für eine neue Ausstellung oder auch nur kleine Veränderungen am Konzept wurden abgebügelt. Wie zu Sowjetzeiten, sagt er, habe es einen Plan gegeben, den es zu erfüllen galt. Und alles, was nicht im Plan stand, wurde auch nicht gemacht. Irgendwann hat er angefangen, über Alternativen nachzudenken:
"Unter meinen Bekannten gibt es viele, die schon gleich nach der Uni in die IT-Sphäre gewechselt sind. In unterschiedliche Positionen und Felder. Für eine Arbeit im Bereich Qualitätssicherung muss man zum Beispiel nicht so hohe Anforderungen erfüllen wie ein Programmierer. Das heißt, hier ist eine Umschulung relativ einfach."
Ihar ging für eine Weiterbildung nach Minsk, arbeitete anschließend ein Jahr lang als Selbständiger und bewarb sich dann mehrfach bei seinem jetzigen Arbeitgeber, bis es schließlich klappte. Als Qualitätsmanager besteht seine Aufgabe nun darin, alle fertig gestellten Programme auf mögliche Fehler hin zu überprüfen. Der neue Job fühlt sich für ihn gut an:
"Du machst eine Arbeit, die gebraucht wird und dafür bekommst du Geld. Im Museum hing das Gehalt überhaupt nicht davon ab, was du machst. Das ist von der Atmosphäre her ein großer Unterschied."
Und er weiß auch, dass ihm sein Chef nicht einfach kündigen wird, nur weil er politisch aktiv ist. Während seiner Zeit im Museum hatte er sich bei einer Oppositionspartei engagiert, kurz darauf erschien der Geheimdienst bei seinem Vorgesetzten im Museum und einige Zeit später wurde sein Vertrag nicht verlängert. Er schüttelt fast unmerklich den Kopf: Auch unabhängig davon hätte er den Job gewechselt, betont er. Seine Freundin und er haben sich in Grodno gerade eine Altbauwohnung gekauft, die sie in Eigenarbeit renovieren. Er will in Weißrussland bleiben, sage er, und sein neuer Job ermögliche es ihm, sich dabei auch verhältnismäßig frei zu fühlen.