"Individuell und selbstbestimmt leben können"

02.02.2013
Die SPD-Politikerin Malu Dreyer fordert eine Neuauflage des Bundesprogramms zur Schaffung barrierefreien Wohnraums. Die meisten Altbestände in Städten, Dörfern und Kommunen seien nicht alters- oder behindertengerecht.
Christopher Ricke: Wir stellen uns der Frage: Wie wollen wir in Zukunft, wie wollen wir vielleicht auch im Alter leben? Diese Frage kann man gesellschaftspolitisch stellen, auch individuell, und man kann diese beiden Sachen zusammenfassen. Wohnen wird immer teurer, die Menschen werden immer älter, brauchen also Hilfe, und die Familienverbände, die lösen sich immer schneller auf. Es gibt ja Gegenden in Deutschland, da sieht man zu bestimmten Uhrzeiten nur noch die Kleinautos der Pflegedienste von Caritas bis Diakonie in den Morgenstunden, und mittags kommt dann Essen auf Rädern. Die Alternative, das Altenheim, die ist keine. Die Misere in der Pflege hat sich längst herumgesprochen, das Heim ist für viele Menschen nur die Notlösung.

Ich habe mit Malu Dreyer über neue Wohnformen im Alter gesprochen, das ist die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Sie wohnt selbst in einem Wohnprojekt mit alten und jungen Menschen, Behinderten und nicht Behinderten aus verschiedenen sozialen Schichten. Frau Dreyer, wie kann ich mir denn so ein Wohnprojekt vorstellen? Ist das das kleine Dorf in der Stadt, in dem die Menschen aufeinander achtgeben?

Malu Dreyer: Das ist ganz schön beschrieben, Herr Ricke, genau so. Wir sagen immer, das ist unser Dorf, das heißt auch Schammatdorf, das ist der Name der Gemarkung, und es ist mitten in der Stadt. Es hat eigentlich dörfliche Strukturen, wir leben in Wohnhöfen zusammen, insgesamt 250 Menschen. Aber in einem Wohnhof leben eigentlich nur acht bis zehn Parteien. Singles, Familien, was auch immer. Und die Wohnhöfe sind so angelegt, dass man sich schon baulich eigentlich automatisch immer mal wieder über den Weg läuft. Und im Dorf gibt es ein Zentrum, wo wir unterschiedliche Dinge zusammen tun und uns treffen oder auch Feste machen oder ein Kneipchen, was ehrenamtlich betrieben wird. Und so weiter.

Ricke: So ein Wohnprojekt ist aber die Ausnahme, der Alltag sieht anders aus. Da haben wir auf der einen Seite die Vereinsamung der Menschen in der Anonymität der Städte, es gibt aber auch die Vereinsamung in den sich entleerenden Dörfern. Wo muss denn hier der Schwerpunkt liegen?

Dreyer: Na ja, ich denke, wir haben die Verpflichtung, eigentlich auf Stadt und auf Land zu schauen. Wir sind ja als Rheinland-Pfälzer eine sehr ländlich strukturierte Gegend und das heißt, wir haben unterschiedliche Entwicklungen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel. Also Städte wenige, die sehr stark noch wachsen, und umgekehrt ländliche Regionen, wo es tatsächlich so ist, dass die Dörfer eher leerer werden. Und da geht es wirklich darum, in jedem Dorf oder in jeder Kommune auch Alternativen zu schaffen. In den Städten ist die Herausforderung wirklich die teuren Mieten, die teuren Grundstückspreise. Das ist noch mal eine ganz andere Situation.

Ricke: Muss man denn aus Ihrer Sicht die Lösung des Problems zu den Menschen bringen? Oder muss man die Menschen in die Lösung bringen, sprich, müssen die Leute umziehen?

Dreyer: Nein, beides gilt aus meiner Sicht. Wir haben in manchen Regionen durchaus diese Tendenz, dass Menschen vom Land mit höherem Alter auch wieder in die Stadt ziehen. Aber da wir ländlich strukturiert sind, haben wir auch viele, viele Menschen, die sehr gerne weiter auf dem Land leben möchten. Und da kommt es dann darauf an, gerade weil wir viele leer stehende Immobilien demnächst dort haben, zu überlegen, wie kann man denn eigentlich das alte Wirtshaus oder das alte Bauernhaus, wie kann man das umgestalten, so dass eben auch mehrere Menschen individuell und selbstbestimmt leben können, aber eben nicht alleine.

Ricke: Jeder politische Schritt in Deutschland, in Rheinland-Pfalz, steht unter dem Finanzierungsvorbehalt. Kann man denn neue Wohn- und Lebensformen halbwegs kostenneutral organisieren?

Dreyer: Kostenneutral ist, glaube ich, eine Übertreibung. Also, wir müssen schon damit rechnen, dass man dafür auch Geld in die Hand nehmen muss. Wir machen das in Rheinland-Pfalz im Moment so, dass wir sagen, wir legen unsere Dorferneuerungsmittel und so weiter wirklich auf diesen Schwerpunkt, neue Nachbarschaften. Auch unser Programm zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, das eher für die Städte eine Rolle spielt, dort haben wir eben gemeinschaftliches Wohnen auch als Programm aufgenommen. Aber wir brauchen dringend aus meiner Sicht auch eine Neuauflage des Bundesprogramms der KfW für die Schaffung von barrierefreiem Wohnraum. Das war ein sehr gutes Programm, das haben auch sehr viele in Anspruch genommen, es ist aber leider von der Bundesregierung abgeschafft worden.

Ricke: Beim barrierefreien Wohnen geht es ja darum, die vier Stufen zum Hauseingang zu meistern oder die Schwelle zum Bad zu entfernen. Würde das denn schon viel bringen?

Dreyer: Das würde sehr viel bringen, denn gerade in den ländlichen Regionen haben wir die Problematik, dass Menschen ja schon viele Jahrzehnte in ihren Häusern wohnen, die in der Regel eben nicht barrierefrei sind. Und das ist häufig ein Grund dafür, dass sie dort nicht mehr bleiben können. Und Sie kennen auch die Situation in den Städten, viel Mietwohnungsbau, der schlicht und ergreifend nach wie vor nicht barrierefrei ist. Obwohl natürlich unsere Bauordnungen heute anders sind, aber der Altbestand ist häufig nicht barrierefrei.

Ricke: Wir haben jetzt über eine ganze Reihe von Ideen und Maßnahmen gesprochen. Wenn die alle gemeinsam groß werden, dann können sie vielleicht mal die gesamte Gesellschaft erfassen, weil wir ja davon ausgehen, dass es ein Menschenrecht ist, auch im Alter gut und behütet leben zu dürfen. Aber aus den Ideen muss ein Aufbruch werden. Da sind wir dann bei der Aufgabe der Politik, und was ist da zu schaffen? Zum Beispiel in Rheinland-Pfalz, in der Legislaturperiode bis 2016?

Dreyer: Ja, man kann einiges schaffen. Also, das ist schon eine Vision von mir, dass wir irgendwann sagen können, in jeder Kommune oder in jedem Dorf ein Wohnprojekt. Aber wir machen ganz große Beteiligungsprozesse in Rheinland-Pfalz zu dem Thema "Gut leben im Alter". Und das Thema "Neue Wohnformen" hat sich, glaube ich, schon bei vielen herumgesprochen inzwischen. Wir haben auch um die 30, 40 Wohnprojekte, die schon bewohnt sind, in ganz unterschiedlicher Art. Auch häufig, dass ältere Menschen zum Beispiel in ländlichen Regionen zusammenwohnen, die Pflegebedarf haben oder dement sind, aber natürlich auch die intergenerativen Wohnprojekte. Und das heißt, wir müssen unterwegs sein, bei den Menschen Angebote machen, wir haben auch eine große Plattform im Internet, "Wohnen wie ich will" heißt sie, mit Tipps und Anregungen. Man braucht schon so etwas wie auch eine Bürgerbewegung, die sagt, wir wollen unsere ländliche Region oder auch unsere Stadt ein Stück umgestalten, dass sie zukunftstauglich ist.

Ricke: Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Vielen Dank, Frau Dreyer, und einen guten Tag.

Dreyer: Ich danke Ihnen, ebenfalls.


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