Indien

"Wir sind einfach zu viele"

Straßenszene in Neu-Delhi
Delhis Straßen sind schon jetzt überfüllt. Aber jeden Tag kommen noch 1400 neue Autos hinzu. © Foto: Stefanie Müller-Frank
Von Silke Diettrich · 24.11.2014
Indien hat rund 1,3 Milliarden Einwohner und monatlich kommen mehr als eine Million Menschen dazu. Arbeit für alle gibt es nicht, jeder vierte Inder lebt unter der Armutsgrenze. Die Regierung will die Bevölkerungsexplosion stoppen. Sie steht vor einer Herkules-Aufgabe.
Junge Pärchen liegen sich im Schatten der Bäume in den Armen, Familien spielen Cricket oder picknicken, egal ob arm oder reich. In den Park „Lodi-Garden" kommen alle Hauptstädter zum Entspannen, richtig voll ist es eher selten. Eine kleine Oase, die selten zu finden ist in Neu-Delhi.
Auf den Hauptstraßen staut sich der Verkehr. Und alle hupen: TukTuks, Rikschas, Motorräder, Busse. Und jeden Tag kommen 1400 neue Autos dazu. Daher steigen viele Leute auf die U-Bahn um. Die ist erst 12 Jahre alt – modern, schick, schnell und zur Rushhour: total überfüllt! Über zwei Millionen Menschen nutzen die U-Bahn an einem Wochentag. In Trauben stehen die Menschen am Bahnsteig, sobald die U-Bahn eintrifft, will jeder als Erstes rein.
Den Atem des Hintermanns direkt im Nacken. Arme, Hände und Bäuche drängen sich dicht an dicht. Ein Ordner versucht mit seiner Trillerpfeife das Chaos zu bändigen. Die U-Bahn fährt nicht los, weil ständig noch mehr Menschen hinein drängeln. Wir können das bald nicht mehr kontrollieren, sagt ein Fahrgast, der schwitzend in der Menge steht.
Familienplanung - ein dunkles Kapitel
Wir sind einfach zu viele, sagt ein anderer und meint, Indien solle doch von China lernen. Dass in Indien bald mehr Menschen als in China leben werden, ist sicher. Schätzungen gehen derzeit davon aus, dass es schon in zehn bis fünfzehn Jahren der Fall sein wird. In Indien gibt es keine Gesetze, die vorschreiben, wie viele Kinder eine Familie haben darf. Denn die indische Familienplanung hat ein sehr dunkles Kapitel:
Mitte der 70er Jahre lässt Indira Gandhi den Ausnahmezustand ausrufen. Ihre Begründung: Die innere Sicherheit in Indien sei gefährdet. Zuvor hatte es Unruhen gegen die Regierung gegeben, Massenstreiks und Demonstrationen. Der Premierministerin wurde vorgeworfen, Wahlen manipuliert zu haben. Daraufhin wurden viele oppositionelle Politiker verhaftet.
In diesen Jahren stieg zudem die Bevölkerung in Indien rasant und völlig unkontrolliert an. Die Idee der Familienplanung damals: Sterilisation. So haben in dieser Zeit mehrere Millionen Inder ihre Fruchtbarkeit verloren. Und nicht immer freiwillig: Polizeikommandos holten Männer von der Straße und zwangen sie zur Sterilisation. Ein Trauma für viele Inder. Heute versuchen die Politiker es anders herum und schaffen Anreize für eine Sterilisation: Frauen nehmen nach der Operation an einer Verlosung teil mit der Chance auf ein Auto oder einen Kühlschrank als Hauptgewinn, Männer bekommen zum Beispiel ein Gewehr samt Waffenschein.
Jung, aber arm
Trotz Werbung und Kampagnen nutzen die Inder wenig Verhütungsmittel. Dabei wurden Kondome jahrelang gratis verteilt. Doch der wichtigste Grund, warum die indische Bevölkerung weiter wächst, sei ein anderer, sagt Sona Sharma von der „population foundation". Das ist eine Stiftung, die sämtliche Daten rund um die indische Bevölkerung sammelt.
Sona Sharma: "Es gibt eine große Gruppe von Leuten in geburtsfähigem Alter. Selbst wenn die nur ein oder zwei Kinder bekommen, kommen einfach immer noch zu viele Menschen dazu. 65 Prozent der Inder sind jünger als 35. Und diese große junge Gruppe macht 70 Prozent des Bevölkerungswachstums aus."
Vor allem arme Familien bekommen mehrere Kinder, weil sie nicht wissen, ob die anderen überleben. Die Kinder sollen die Eltern einerseits im Alter absichern. Vor allem die Söhne. Denn Töchter kosten in vielen Gegenden Indiens eine Menge Geld: Die Brauteltern müssen die Hochzeit bezahlen, die Mitgift und dann zieht die Tochter zur Familie des Bräutigams. Sona Sharma erzählt von einem Sprichwort in Indien: Eine Tochter groß zu ziehen ist so, wie die Blume im Garten des Nachbarn zu gießen.
Sona Sharma: "Sie bekommen nur Töchter und bekommen mehrere Kinder, damit auch Söhne darunter sind. In einigen Dörfern ist ein Sohn auch nicht genug, sie glauben, ihre Sehkraft sei nur mit zwei Augen erfüllt. Also ist auch die Familie erst komplett, wenn zwei Jungen da sind."
Allein in einem Monat kommen 1,3 Millionen Menschen in Indien dazu, das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von München. Dafür sei Indien die jüngste Nation der Welt, verkündete der Premierminister vor kurzem mit Stolz, als er in den USA eine pathetische Rede hielt:
Narena Modi: "800 Millionen junge Inder stehen Hand in Hand zusammen, um unsere Nation zu verändern. Um das Licht der Hoffnung in jedes Auge und jedes Herz zu bringen."
Jung, aber arm. Jeder vierte Inder lebt unterhalb der Armutsgrenze. Viele ziehen in die Großstädte und hoffen darauf, dort endlich eine gute Arbeit zu finden. So wie Rahul, in seinem Dorf hat er auf Zuckerrohr-Plantagen gearbeitet, aber kaum etwas damit verdient. Mit der gesamten Familie ist er nach Delhi gezogen und zusammen hausen sie jetzt mit 15 Leuten in zwei winzigen Hütten.
Rahul: "Keiner von uns hat irgendeine Arbeit gefunden. Ich bin jetzt Tagelöhner, sortiere hier den Müll."
Damit verdient er kaum drei Euro am Tag, für zwölf Stunden Arbeit. Im Slum gibt es kein fließendes Wasser, gleich neben den Hütten schwimmt der Müll in einer grau-blauen Brühe. Nur wenn Indien seine Armut in den Griff bekommt, habe das Land mit so vielen Menschen eine gute Chance, sagt Sona Sharma:
"Wir haben diese Debatte. Ist es ein Gewinn oder eine Bürde, wenn sie eine Bevölkerung haben, die nicht gesund ist, Arbeitskräfte, die nicht ausgebildet sind, dann können sie die Vorteile vergessen. Die Aussichten mögen gut sein, aber es bleiben so viele Herausforderungen."
Gruß aus dem Star-Wars-Universum
Der neue Premierminister Modi, der erst seit Mai dieses Jahres im Amt ist, will sich den Herausforderungen stellen. In fünf Jahren, so eines seiner großen Ziele, soll jeder Inder über eine eigene Toilette verfügen, er will die Armut in seinem Land bekämpfen:
Narena Modi: "Jeder soll ein Dach über dem Kopf haben! Ich weiß, dass das möglich ist. Denn ich fühle eine frische Energie und eine neue Willenskraft in Indien."
Indien steht vor einer Herkules-Aufgabe. Um dies zu veranschaulichen, hat Premierminister Modi auch einen außergewöhnlichen Gruß aus dem Star-Wars-Universum an seine Rede angeschlossen. Möge die Macht mit euch sein, hat er seinen Anhängern zugerufen: "May the force be with you!"
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