Independent-Film "Lotte"

"Die Figur ist ja sehr ignorant"

"Lotte"-Regisseur Julius Schulheiß
"Lotte"-Regisseur Julius Schulheiß © Deutschlandradio Kultur / Patrick Wellinski
Regisseur Julius Schultheiß im Gespräch mit Patrick Wellinski · 22.10.2016
Die Berlinerin Lotte improvisiert sich durchs Leben. Dann trifft sie auf ein junge, ihr noch unbekannte Frau: ihre Tochter. Für "Lotte" habe er die Filmfiguren mit seinen persönlichen "schlechten Eigenschaften" ausgestattet, sagt der Regisseur Julius Schultheiß.
Patrick Wellinski: "German Mumblecore" heißt eine kleine heterogene Bewegung junger Filmemacher, die mit kleinsten Mitteln vor allem in Berlin Independent-Filme drehen. In denen geht es meistens um eine sehr junge Person, die durch das Leben in der Metropole irrt. Also Kino für Millennials.
"Lotte", so heißt der neueste Streich aus diesem Genre, der Spielfilm kommt Donnerstag in unsere Kinos. Und es geht um Lotte, ja, eine Berliner Krankenschwester, die sich durch ihr Leben improvisiert. Und dann trifft sie auf ein junges Mädchen, das mehr ist als nur eine Patientin.
"Marcel sagt, dass du meine Mutter bist."
"Und wenn?"
"Glaubst du nicht auch, dass du es ein bisschen verkackt hast, so insgesamt mit mir?"
"Weißt du, manche Elternteile kommen so spät von der Arbeit, dass sie gerade noch die Zeit haben, ihrem Kind einmal über den Kopf zu streicheln."
Wellinski: Ein Ausschnitt aus dem Spielfilm "Lotte". Und ich konnte vor der Sendung mit dem Regisseur, Julius Schultheiß, sprechen. Herzlich willkommen!
Julius Schultheiß: Hallo!
Wellinski: Lotte ist 32, Krankenschwester in Berlin. Und trotzdem bekommt sie ihr Leben nicht so wirklich in den Griff. Wie zeigt sich denn das gleich am Anfang Ihres Films?
Schultheiß: Lotte ist, sage ich mal, also ist Anfang 30 einmal, und ein sehr schwieriger Charakter, wie man gleich am Anfang mitbekommt. Sie ist ziemlich hin- und hergerissen, ziemlich agil auf den Straßen von Berlin unterwegs. Scheint auch nicht so viel Respekt teilweise vor anderen Leuten zu haben, und wird in der ersten Nacht, die wir im Film zeigen, gleich mal von ihrem Freund aus der Wohnung geschmissen. Und das passiert, nachdem sie in einer Kneipe auf Anruf des Wirts einem scheinbar Fremden eine Wunde am Kopf genäht hat. Und wie es dann immer so ist, kennt sie diesen Menschen, der da mit Platzwunde in der Bar sitzt, und da kommen dann im Grunde so ein paar - da kommt der Handlungsstrang dann ins Rollen.

Immer weiter - rastlos durch Berlin

Wellinski: Wie ist denn die Idee zu dem Film entstanden? Kennen Sie so eine Real-Life-Lotte?
Schultheiß: Natürlich vielleicht nicht ganz so radikal, wie das im Film gezeigt wird, aber ich kenne selbst eine Krankenpflegerin, die auch so Anfang 30 ist oder war und eine 18-jährige Tochter hatte. Und so, ich bin mit ihr auch Feiern gewesen zum Beispiel, und sie hat mir dann auch Fotos gezeigt von ihrer Tochter, und die beiden sind auch zusammen Feiern gegangen und haben sich eigentlich zumindest auf Fotos so dargeboten, als wären sie im Grunde Freundinnen anstatt Mutter und Tochter.
Wellinski: Man könnte jetzt sagen, Lotte, das ist eigentlich so ein Prototyp eines Millennials, Meisterin im Improvisieren, ihr Lebenslauf ist absolut nicht mehr geradlinig. Wollten Sie denn auch durch diesen Film und durch diese Figur so ein gewisses Generationengefühl einfangen?
Schultheiß: Auf der einen Seite ja, weil der Film oder das Buch ist entstanden, als ich mehr oder weniger gerade frisch in Berlin war. Und da ist mir das vielleicht nicht so direkt aufgefallen, aber man braucht in Berlin immer unheimlich lange, um Sachen hinzukriegen, um von A nach B zu kommen. Man hängt dazwischen immer fest, finde ich, oder so habe ich mich teilweise dann gefühlt. Oder auch, wenn man dann auf die Suche nach Jobs geht und so weiter.
Man hat irgendwie das Gefühl, man fährt ewig in der Bahn rum oder braucht ewig. Und das wird im Film vor allem so in den ersten 30 Minuten immer mal wieder gezeigt, indem man die Bahn oder den Zug einschneidet, und sie ist darin unterwegs. Und so gesehen steckt das sicherlich da mit drin. Ich hatte jetzt nicht vor, irgendwie einen hundertprozentigen Berlin-Film zu drehen, wo der Alexanderplatz gezeigt wird und so Geschichten. Aber es sollte schon diese Unaufhaltsamkeit oder diese Bewegung mitschwingen, die für mich dann ganz klar so ein Berlin-Gefühl oder so einen Berlin-Lebensstil beinhaltet.
Wellinski: Wenn Lotte dann die Greta trifft, ihre Tochter, von der Sie am Anfang - wollten Sie mit Ihrem Film auch so gewisse Mutterrollen thematisieren? Denn sie wächst ja theoretisch über den Verlauf des Films in eine Rolle hinein, die sie nicht annehmen wollte, die Lotte. Ist sie denn eine gute Mutter?

"Die Figur ist ja sehr ignorant oder teilweise auch feige"

Schultheiß: Nein, auf keinen Fall, also, würde ich ganz klar verneinen. Mir war es erst mal wichtig, eine interessante Frauenfigur zu zeigen, die man vielleicht so in der Form noch nicht so oft gesehen hat oder vielleicht im deutschen Film noch nicht so oft gesehen hat. Und damit sollte es eigentlich erst mal losgehen.
Und ich hab da auch viel - das klingt jetzt vielleicht ein bisschen doof - ich hab auch nach Charaktereigenschaften natürlich von mir gesucht, oder wahrscheinlich findet jeder in sich irgendwelche schlechte Charaktereigenschaften, die er gern unterdrücken will oder eigentlich gar nicht haben will, aber die nun mal da sind. Und da habe ich mir sozusagen ein paar schlechte Eigenschaften von mir rausgesucht.
Die Figur ist ja sehr ignorant oder teilweise auch feige, weil sie ständig wegläuft. Und so Eigenschaften sind dann da drin. Da habe ich erst mal nicht so sehr an die Mutter gedacht. Und dann habe ich - also die Figur war zuerst da, auf jeden Fall. Und dann habe ich mir halt überlegt, was man als möglichen Antagonist oder als mögliche Reibungsfläche dann eben mit einbauen kann, und die Tochter war dann wieder so konzipiert, dass sie eigentlich die Erwachsenste von allen ist. Also eigentlich von allen, neben dem Vater, scheinbar die Bodenständigste scheinbar ist und vielleicht sogar besser weiß, was gut für einen selber ist und was nicht.

"Mit dem Drehbuch sehr locker umgehen"

Wellinski: Jetzt ist es so, wenn ein Film so heißt wie die Hauptfigur und alles um sie herumgebaut ist, also Lotte, dann ist es auch sehr wichtig, wie man diese Hauptfigur besetzt. Weil: Das ist dann eine Schauspielerin - in dem Fall, Karin Hanczewski -, die fast in jeder Szene zu sehen ist, wenn nicht sogar in jeder Szene zu sehen ist. Warum war sie die perfekte Lotte für Sie?
Schultheiß: Ich kannte sie schon seit längerer Zeit. Und zwar haben wir uns im Studium, ich glaube, so um 2009, kennengelernt bei einem Kurzfilm. Und da ist sie mir halt sehr positiv aufgefallen, weil sie da auch eine Hauptrolle hatte in diesem Kurzfilm. Und als ich dann an das Buch von "Lotte" gegangen bin, hatte ich im Grunde gleich sie im Kopf dafür.
Und sie hat mir in diese Rolle einfach sehr gut gepasst. Nicht, weil sie so ist wie Lotte. Ich kenne sie halt so gut, dass ich weiß, dass sie physisch auch in so eine Rolle richtig reingehen kann. Und Punkte, wo man aneckt, das muss sich, denke ich mal, jeder Darsteller irgendwo suchen, um sich diese Figur dann greifbar zu machen.
Aber ich habe ihr das Drehbuch dann gegeben, als gerade mal so zehn Seiten geschrieben waren, und da war sie gleich sehr interessiert dran, weil das im Grunde der ersten Nacht, die sie da im Film verlebt, gleichkam, und da war schon sehr viel von der Figur zu sehen, wie die so drauf ist, was deren Lebensstil ist. Und da hat sie sofort gesagt, dass sie das interessant findet und da Lust drauf hätte. Und da brauchte ich gar nicht so viel tun, um sie zu bekommen sozusagen.
Wellinski: Wie stark ist denn der Improvisationsanteil an dem Film, an den Arbeiten? Weil: Er erinnert im besten Sinne an die amerikanischen Independent-Filme der frühen 2000er-Jahre, nannte man damals "The Mumblercore". Man merkt so eine gewisse Frische und Unangestrengtheit. Wurde das durch Improvisieren erreicht, oder spielte das eher weniger eine Rolle?
Schultheiß: Teils, teils. Wir hatten vor dem Dreh ein 65-seitiges Drehbuch ungefähr. Es war so gesehen schon mal auf Papier viel festgehalten. Also mit Dialogen, das war eigentlich alles da. Und wir haben uns dann trotzdem von der Arbeitsweise her zum Ziel gesetzt, dass wir mit dem Drehbuch sehr locker umgehen.

Filmfinanzierung übers eigene Sparbuch

Streng improvisiert sind ganz wenig Szenen, vielleicht ein Viertel des Films oder ein Fünftel der Szenen sind improvisiert. Dazu haben wir tatsächlich nur im Notfall gegriffen, wenn wirklich die Zeit knapp wurde, um eine fünfseitige Szene umzusetzen. Und ansonsten sind wir mit dem Drehbuch wie mit einer Blaupause umgegangen.
Das heißt, wir haben uns morgens getroffen, haben das geprobt, was im Buch stand, und wenn das so gar nicht hingehauen hat oder teilweise Sätze nicht zu sprechen waren, dann haben wir uns natürlich nicht verkrampft, sondern haben direkt probiert, wie kriegt man es lockerer hin, kann man das anders sagen, genau, muss man vielleicht einfach anders sprechen, eine andere Handlung, eine andere Bewegung mit reinbringen.
Wellinski: Wie schwer war es eigentlich, "Lotte" zu finanzieren? Gerade, wenn wir junge Filmemacher da haben, die unbedingt ihren ersten Film drehen wollen und es dann auch schaffen, lohnt es sich immer, nachzufragen, wie so ein Film entsteht, auch finanziell gesehen, weil es auch oft abenteuerliche Umwege nimmt.
Schultheiß: Jetzt im Fall von "Lotte" haben wir keine Förderung oder dergleichen gehabt oder keine Senderbeteiligung. Und ich wollte aber sehr schnell drehen und habe dann meinen Bausparvertrag auf den Kopf gehauen erst mal. Und das hat uns halt ermöglicht, einen kleinen Drehblock zu initiieren, wo wir 18 Tage gedreht haben, damit kamen wir dann klar. Und dann war das Geld weg, und wir hatten aber noch sehr viele Szenen vom Drehbuch offen und überlegt, wie wir dann weitermachen. Und dann habe ich eine kleine Crowdfunding-Kampagne noch gestartet, wo dann noch mal ein bisschen Geld reingekommen ist, um die letzten sieben Drehtage zu bewerkstelligen. Und so hat sich das dann zusammenfinanziert.
Wellinski: "Lotte", die etwas andere Mutter-Tochter-Geschichte aus Berlin. Der Film kommt Donnerstag in unsere Kinos. Davor war aber noch der Regisseur bei uns zu Gast. Vielen Dank, Julius Schultheiß!
Schultheiß: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.