"In meiner Erinnerung war ich der einzige, der Richtung Manhattan lief"

Alexander Osang und Anja Reich im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.09.2011
Als die Rauchwolke über ihm eingebrochen sei, wollte der Journalist Alexander Osang, der zur Zeit der Terroranschläge mit seiner Familie in New York lebte, seinen Beruf an den Nagel hängen. Zehn Minuten später interviewte er in einem Keller die ersten Opfer.
Dieter Kassel: Am 11. September 2001 lebte das Ehepaar Anja Reich und Alexander Osang mit zwei Kindern in New York, in Brooklyn, um genau zu sein. Er war damals dort Reporter des "Spiegel", sie arbeitete als freiberufliche Journalistin und schrieb unter anderem für die "Berliner Zeitung" und für die Zeit. inzwischen leben beide, oder auch alle vier, wenn man die Kinder mitzählt, wieder in Berlin, wo Alexander Osang weiterhin für den Spiegel arbeitet und wo Anja Reich inzwischen das Magazin der "Berliner Zeitung" leitet. Und gemeinsam haben sie nun ein Buch geschrieben über diesen einen bestimmten Tag, den sie damals - übrigens äußerst unterschiedlich - in New York erlebt haben. "Wo warst du? - Ein Septembertag in New York" heißt dieses Buch, und Anja Reich und Alexander Osang sind jetzt bei uns zu Gast. Schönen guten Tag!

Anja Reich: Hallo!

Alexander Osang: Hallo!

Kassel: Ist es, und war es beim Schreiben - Frau Reich, Sie vielleicht zuerst - gefühlt auch wirklich zehn Jahre her, dieser Tag, oder kam es ihnen länger oder viel kürzer vor.

Reich: Beim Schreiben selbst kürzer. Ich bin noch mal total in diesen Tag eingetaucht und es war wirklich so teilweise, als ob ich wieder da bin und fast auch - also nicht nur im Kopf, sondern fast auch körperlich wieder da bin. Es war ganz ... ich habe dann auch davon geträumt, und mich hat das sehr, sehr beschäftigt.

Kassel: Was war das denn für ein Moment, Frau Reich, wo Sie es dann erfahren haben? Um 8:46 Uhr Ortszeit ist das erste Flugzeug in einen der beiden Türme - Sie haben es natürlich auch nicht in der Sekunde erfahren. Aber als dann klar war, da ist was passiert, was war denn da in dem Moment der erste Gedanke?

Reich: Noch gar kein so schlimmer Gedanke. Also, der Gedanke, den man hat, wenn ein Flugzeugunglück passiert, ist natürlich schlimm. Aber es war jetzt nicht so, noch nicht Weltkatastrophe. Ich war in der Küche und habe Kaffee getrunken, und mein Mann war gerade wieder gekommen aus Deutschland von einer langen Recherchereise. Und als dann das New Yorker "Spiegel"-Büro anrief, war mir schon klar, die wollen jetzt was von ihm, da muss er wieder los vielleicht.

Kassel: Ihre allererste Reaktion, Herr Osang - das kann man offen sagen, steht ja in dem Buch - war: Nein, ich habe eigentlich keine Lust. Ich habe vor allen Dingen keine Lust, jetzt von Brooklyn rüber nach Manhattan ins "Spiegel"-Büro zu fahren und da irgendwie nur, weil die Hamburger jetzt sagen, da musst du was machen. Wann ist das gekippt, wann wurde Ihnen klar - viele haben ja geglaubt, Sie beide auch, das war eine Art Unfall, vielleicht ein Sportflieger -, wann ist das gekippt? Wann war Ihnen klar: Es ist ein Terroranschlagt? Oder es ist zumindest was ganz Unerhörtes?

Osang: Na ja, zunächst habe ich wirklich gedacht: Okay, es ist Dienstag, der nächste "Spiegel" kommt am Montag, das sind sechs Tage, da ist das eine Meldung im Vermischten nachher, und deswegen möchte ich eigentlich nicht losfahren, zumal ich gerade erst zurückkam. Dann bin ich aber trotzdem irgendwie schlechten Gewissens aufs Dach gestiegen bei uns in Brooklyn, habe mir die Rauchwolke angeguckt, die relativ groß war.

Und dann haben wir die Erschütterung gespürt, als das zweite Flugzeug einschlug, ohne zu wissen, dass es ein Flugzeug war. Dann veränderte sich irgendwie das Tempo - das "Spiegel"-Büro rief noch mal an aus Manhattan, die im Fernsehen waren aufgeregter, und irgendwie war mir jetzt klar, jetzt brennen beide Türme, ohne zu wissen, dass es ein Terroranschlag war - nichts! Jetzt musst du irgendwas machen.

Dann bin ich ins Auto gestiegen, bin Richtung Manhattan gefahren, Richtung Brooklyn Bridge - Also, Manhattan ist ja getrennt durch den East River von Brooklyn -, und im Auto habe ich schon so Schlagworte - Terroristen, Präsident Bush, irgendwie - gehört, ohne das richtig zu begreifen, was eigentlich war. Ich wollte eigentlich nur noch dann dicht ran, dicht ran, habe mein Auto dann im Parkverbot irgendwo abgestellt und habe mich an Polizisten vorbei, die die Brücke schon bewacht haben - Manhattan war schon gesperrt - vorbeigeschummelt sozusagen, die gerade mit einer CNN-Reporterin beschäftigt waren, und als ich in der Mitte der Brücke war, brach der erste Turm zusammen, und das hat für mich irgendwie alles verändert.

Bis dahin war es immer noch ein Unfall, immer noch was, irgendwas, was zu reparieren war, und in dem Moment habe ich einerseits natürlich gespürt, wie Sie alle ja in diesem Fernsehen gesehen haben, dass hier Menschen sterben, tausende Menschen womöglich sterben in diesem Turm, da war also dieser Schock und die Traurigkeit darüber, und andererseits irgendwie auch, dass es ein Weltereignis ist.

Das ist ein totales Weltereignis, ich bin Reporter für den "Spiegel" - auch das beschreibe ich ja im Buch, diesen ganzen Druck und das schlechte Gewissen, und immer: Du musst der Beste sein. Ich stand also auf der Brücke, das eine Gefühl hat mir gesagt, geh zurück zu deiner Familie, und das andere hat gesagt, du musst dichter ran. Und ich bin letztlich dem gefolgt, diesem Gefühl, das mir gesagt hat, geh dichter ran, renn. Und ich bin sozusagen über die Brücke Richtung Manhattan auf diesen einen noch stehenden Turm zugerannt, um irgendwie rauszukriegen, um irgendwie dicht da dran zu sein. Viel mehr wusste ich damals nicht.

Kassel: Das sind die zwei widerstrebenden Ideen, die Sie hatten. Sie haben zwar gesagt, einmal dieses journalistische Virus, das man dann hat: ich wusste, es ist eine Once-in-a-lifetime-Geschichte auch, und aber auch, ich muss wegen meiner Familie - zwei kleine Kinder, meine Frau - zurück. Das heißt, Angst spielte gar keine Rolle. Wir kommen gleich dazu. Später haben Sie ja gemerkt, dass sie allen Grund gehabt hätten, Angst zu haben. Aber in dem Moment auf der Brücke, auf der Hälfte, als Sie umkehren konnten, hatten Sie keine Angst?

Osang: Eigentlich überhaupt nicht, nein, nein. Ich habe natürlich irgendwie so eine Art Unsicherheit ... habe ich irgendwie gespürt. Wenn man auf einer Brücke steht, so eine lange Brücke, die Leute um mich herum haben natürlich - zunächst hatte ich den Eindruck, die sind so, wie in so einem Dornröschenschlaf festgefroren für den Augenblick - und dann fingen sie an zu weinen, manche schrien und rannten, also, die rannten ja alle in die entgegengesetzte Richtung. In meiner Erinnerung war ich der einzige, der Richtung Manhattan lief.

Insofern war mir schon klar, dass das jetzt nicht unbedingt normal ist. Aber ich habe überhaupt keine Angst, vielleicht ein bisschen Unsicherheit, aber ich wollte eigentlich von dieser Brücke runter. Das war das einzige, dass ich so ein bisschen gedacht habe: Die Brücke, das ist jetzt nicht der beste Platz, um unbedingt hier zu sein.

Kassel: Als Ihr Mann, Frau Reich, den Turm einstürzen sah, da waren Sie in Brooklyn, im Haus. Wann ist Ihnen denn klar geworden, dass das eben kein sehr bedauerlicher, aber letzten Endes doch harmloser Unfall war?

Reich: Als ich dann wusste, dass da noch ein Flugzeug reingeflogen war. Also, mein Mann ist losgegangen, und wir dachten beide noch: Da gab es jetzt irgendwie noch eine Explosion. Und dann - der Fernseher lief ja die ganze Zeit weiter - dann habe ich irgendwann gesehen, dass das nicht das erste Flugzeug war, was da jetzt angeflogen kommt, sondern das zweite. Und in dem Moment habe ich begriffen, dass die Welt jetzt irgendwie nicht mehr so weiterläuft wie vorher.

Osang: Sie hat mich noch mal angerufen, als ich auf der Brücke war, und das letzte, was sie mir gesagt hat, war: Das waren irgendwie Terroristen. Und dann ist auch die Verbindung irgendwie abgerissen, und wir haben dann nicht mehr miteinander gesprochen.

Kassel: Wir reden im "Radiofeuilleton" im Deutschlandradio Kultur mit Anja Reich und Alexander Osang, Ehepaar, Journalisten, waren in New York am 11. September 2001 und haben in einem Buch jetzt verarbeitet, wie sie diesen Tag erlebt haben. Angst hatten Sie also nicht, Herr Osang, das haben Sie gesagt. Und das war ja dann eigentlich zwischendurch fast fatal, weil Sie sind dann rein nach Manhattan, und dann gab es schon diesen Moment, wo es wirklich lebensgefährlich wurde.

Osang: Ja, ich vermute mal, dass es lebensgefährlich war. Also, es ist so, dass ich dann immer weiter rannte und auf diesen einen Turm zu rannte, und erst an der letzten Straßenecke, also praktisch so vielleicht 150 Meter von dem Turm entfernt, hielt mich ein Feuerwehrmann auf und sagte: Hör zu, was willst du hier? Und ich habe gesagt: Ich bin Journalist, ich will dichter ran. Und er sagte: Get lost! Also, verschwinde hier. Und auch in dem Moment habe ich eigentlich nicht gedacht umzukehren, sondern bin umgedreht, ein Stück zurückgelaufen und habe gesagt: Ich versuche es an der nächsten Straße noch mal.

Und dann schrie der aber schon: Wir verlieren den zweiten Turm! Renn, renn, renn! Und dann bin ich gerannt mit all den anderen wenigen Menschen, die da waren - Bauarbeiter und so weiter - und diese Wolke, dieser Turm verfolgte uns dann durch diese Straße, dann Downtown irgendwann holte sie uns ein und schlug über uns zusammen, und das war wie wirklich Nacht. Es war stockdunkel, wir standen in irgendeiner Gasse, da waren so Rückwände von Gebäuden, nichts. Und da hatte ich natürlich dann wirklich Angst gehabt.

Also, weil ich bin ja überhaupt kein Katastrophenreporter, kein Kriegsreporter. Also, ich bin da mehr oder weniger reingetaumelt irgendwie in diese Situation und konnte damit überhaupt nicht umgehen, habe gedacht, puh, jetzt diese Luft, habe versucht, Luft anzuhalten, alles war wirklich schwarz, und ich habe gehofft, dass es heller wird, aber es wurde nicht heller. Und da habe ich irgendwann eingeatmet und dachte, ich falle jetzt jedem Moment um.

Und in der Situation kamen natürlich dann auch diese Schwüre. Und ich habe also Versprechen die ich mir selber gemacht habe: Du gibst den Beruf auf, ???, du bist ein Idiot, was suchst du eigentlich hier? Warum rennst du dahin? Was für eine Erkenntnis hast du eigentlich dir da erhofft, irgendwie in diesem brennenden Tunnel? Du bist ja kein Feuerwehrmann, du kannst niemandem helfen irgendwie, und habe mir echt vorgenommen, mein Leben zu ändern.

Kassel: Sie haben ganz konkret gesagt: Wenn ich hier lebend rauskomme, dann gebe ich meinen Beruf auf.

Osang: Genau!

Kassel: Und das hat, glaube ich, geschätzt 40 Minuten angedauert, der Beschluss?

Osang: Nein, sagen wir mal, zehn.

Kassel: Ich war noch zu nett.

Osang: Genau!

Kassel: Weil Sie sind in einem Keller gelandet, wo auch andere waren, die sich da versteckt haben, und die gerettet wurden von der Polizei und von der Feuerwehr, und die haben Sie dann nach kurzem Zögern gleich interviewt.

Osang: Genau, ich bin in diesen Keller, da waren vielleicht so 15, 20 Leute drin, alle mehr oder weniger verstaubt und verletzt und weinend und aufgelöst, und da war so ein Polizist, so ein Drogen-Cop aus Harlem, der hat sozusagen den Raum mehr oder weniger kontrolliert. Der hat mir gesagt, wasch dir die Augen aus, huste das Zeug aus, was ich gemacht habe, habe mich dann hingesetzt. Und dann habe ich die Leute im Raum, in diesem Kellerraum beobachtet und habe gesagt: Okay, hier sitzt eigentlich wie New York zusammen. So eine New Yorker Gesellschaft, der schwarze Polizist, der auf dem Rücken lag, dann war so ein jüdischer Anwalt da, die Investmentbrokerin aus der Upper Eastsite mit dem festgesprühten Haarhelm auf dem Kopf und so weiter. Und da war so ein kleines Radio, und in dem Radio habe ich zum ersten Mal überhaupt gehört, was eigentlich passiert ist, was da draußen passiert ist.

Es war wirklich so wie in so einem - wenn ich mir das vorstelle - wie in so einem Luftschutzkeller zu sitzen, und habe gesagt, okay, diese Leute - irgendwas verbindet dich mit denen, jetzt, für immer, und hab dann mir die Telefonnummern geben lassen, habe mir die Namen geben lassen und habe die ersten Informationen aus denen rausgeholt, schon im Bewusstsein, dass ich die nicht verlieren will, und andererseits natürlich auch, weil ich mir selber eingeredet habe, vielleicht noch eine Geschichte. Die letzte Geschichte, die aus dem Keller.

Kassel: Später in dem Buch kriegen Sie das ja mit, Frau Reich, wenn er dann abends natürlich - das muss man ja auch machen, Sie haben sich teilweise nicht getraut, den Block so richtig rauszuholen, damit es nicht auffällt, also musste er abends schnell schreiben. Was denkt man sich dann, wenn man - das ist natürlich klar, er hat sie erst mal nicht anrufen können, hat dann später angerufen, das "Spiegel"-Büro in Manhattan und dann gab es da noch Querverbindungen - ohne da jetzt in Detail zu gehen, aber was denkt man sich, wenn man in Brooklyn froh ist, dass er abends lebendig nach Hause kommt, aber weiß, bevor der jetzt den ersten Wein trinkt, muss er erst mal aufschreiben, was er erlebt hat?

Reich: Na, da hat er schon Wein getrunken, wir waren bei Nachbarn und haben da Wein oder Gin Tonics getrunken, und dann waren wir wieder zuhause. Und er hatte mir das ja gesagt, er hat gesagt: Ich wollte wirklich alles hinschmeißen und alles aufgeben. Und dann habe ich unsere Tochter ins Bett gebracht, und kam dann runter - oder habe von oben, glaube ich, noch gehört, wie er schon wieder telefoniert hat.

Und dann dachte ich: Okay, jetzt redet er wahrscheinlich gerade mit unserem Sohn, der hat nämlich bei einem Freund übernachtet. Und dann komme ich runter und dann merke ich, der telefoniert wirklich mit Leuten, der recherchiert schon wieder. Und ich kenne ihn total gut. Wir haben uns ja als Reporter auch kennengelernt, aber in dem Moment hat er mich wirklich überrascht, und ich habe gedacht: Wahnsinn. Das ist ja unglaublich! Und mehr habe ich dann auch nicht mehr gedacht.

Kassel: Anja Reich und Alexander Osang über ihre Erlebnisse am 11. September 2001 in New York. Man kann das alles nachlesen in ihrem Buch "Wo warst du? - ein Septembertag in New York". Erschienen ist es im Piper Verlag, und am 11. September 2011, also am kommenden Sonntag lesen die beiden aus diesem Buch im Deutschen Theater in Berlin.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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