In Israel und Palästina

Religiöse Juden gegen jüdischen Rassismus

Hinterkopf eines Mannes, der die jüdische Kopfbedeckung Kippa trägt
Ein Mann mit der jüdischen Kopfbedeckung Kippa © dpa / picture alliance / Paul Zinken
Von Igal Avidan · 08.01.2017
Die Atmopshäre in Israel und Palästina ist von Attacken und Anschlägen auf Gotteshäuser und Gläubige vergiftet. Eine Gruppe religiöser Juden arbeitet für die Versöhnung. Sie klagen Rassismus an - egal, ob er von Juden oder Palästinensern kommt.
Eine Gruppe jüdischer Fußball-Hooligans musste im Mai 2016 die herbe Niederlage ihrer Mannschaft Betar Jerushalaim gegen einen arabischen Klub miterleben. Dafür wollten sie sich an der Muslima Nadwa Jaber und ihrer Freundin rächen. Die beiden Frauen saßen zusammen mit drei ihrer Töchter im Auto vor einer roten Ampel in Westjerusalem. Als die Jugendlichen ihre Kopftücher sahen, schrien sie: "Hier sind Araber!" Sie traten gegen den Wagen, sprangen darauf, spuckten. Nadwa Jaber kann diesen Überfall nicht vergessen:
"Ich stand unter riesigen Druck, wie in einem schlechten Film: Wie komme ich bloß raus hier? Das waren schreckliche Momente, denn diese Männer hätten alles mit mir machen können! Sie hätten uns und die Mädchen richtig verprügelt, wenn sie die Tür oder das Fenster hätten öffnen könnten. Denn sie waren so wütend und hatten keinerlei Mitleid mit uns."
Nadwa Jaber war an jenem Tag mit zwei Töchtern, ihrer Freundin und deren Tochter in einem Einkaufszentrum in Jerusalem.
"Beim Fluchtversuch setzte ich mein Leben aufs Spiel, um ihnen zu entkommen. Ich stieß beim Fahren gegen parkende Autos und fuhr eine Strecke sogar gegen die Fahrtrichtung. Seitdem meide ich dieses Einkaufszentrum."
Den Besuch bei Nadwa Jaber hat Gadi Gvaryahu organisiert. Der national-religiöse jüdische Aktivist kämpft seit der Ermordung des israelischen Premierministers Yitzhak Rabin 1995 gegen Rassismus und Gewalt und für Toleranz unter religiösen Juden in Israel. Seine erste Aktion war die Gründung der Rabin-Synagoge 1997. Fünfmal im Jahr gedenkt man dort mit einem besonderen Gebet des ermordeten Premierministers.
"Dafür haben wir eine neue Fassung des Gebets 'Gott voller Barmherzigkeit' entworfen, die zur Erhöhung seiner Seele im Himmel beiträgt. Unsere Fassung wurde später sogar bei der staatlichen Gedenkveranstaltung übernommen."
Gadi Gvaryahu, Nadja Jaber und ihr Mann stehen nebeneinander in einem Zimmer.
Gadi Gvaryahu, Nadja Jaber und ihr Mann© Igal Avidan
2007 gründete Gadi Gvaryahu den Verein "Forum des 12. Heshvan" zur Stärkung der Toleranz unter religiös-zionistischen Juden. An diesem Tag im hebräischen Kalendermonat Heshvan wurde Rabin erschossen. Eine der ersten Aktionen des Vereins war die Beteiligung an einer Klage gegen zwei rechtsradikale Rabbiner, die ein theologisches Buch über die mögliche Tötung von Nichtjuden veröffentlicht hatten.
Angesichts einer Welle von Gewalttaten radikaler jüdischer Siedler gegen Muslime und Christen im Westjordanland und Israel gründete Gvaryahu 2011 das Forum "Tag Meir", auf Deutsch "leuchtendes Abzeichen", das Opfer von jüdischem Rassismus und Gewalt unterstützt.

Anfeindungen und beschädigte Plakate

Der Bericht des Vereins vom Mai 2016 hält fest, dass alle zwei Monate ein christliches oder muslimisches Gotteshaus in Israel oder im Westjordanland durch jüdische Fanatiker geschändet wird. Wie unbeliebt sich der Verein mit solchen Beobachtungen macht, habe ich als Reporter selbst feststellen müssen: Als Gadi Gvaryahu auf eine Interviewanfrage an seine private Email-Adresse nicht direkt antwortete, leitete ich meine Mail an die Adresse der Rabin-Synagoge weiter, die er gegründet hatte, um an die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten durch einen religiösen Juden zu erinnern.
Daraufhin erhielt ich folgende persönliche Antwort vom Geschäftsführer der Synagoge, Beni Frizadeh:
"Wir hatten vor 75 Jahren Juden, die Kapos oder Aufseher in den Konzentrationslagern der Deutschen waren. Kein Wunder, dass Du in Deutschland lebst. Bleib dort. Du bist hier unerwünscht. Hier ist kein Platz für Verräter. Ich bin ein stolzer Jude, der nicht in Deutschland hohe Einschaltquoten auf Kosten des Blutes meiner jüdischen Brüder sucht. Du solltest dich schämen!"
Bereits am nächsten Morgen entschuldigte sich Gadi Gvaryahu wegen der E-Mail, sie stamme von einem "bösen Menschen, der unsere Synagogengemeinde nicht vertritt". Er selbst müsse mit Anfeindungen und Beschädigungen seiner Einladungsplakate zu Gedenkveranstaltungen leben. Er gab mir seine Zustimmung für ein Interview und gemeinsame Besuche bei Opfern.
Nun sitzen wir beide in Nadwa Jabers Wohnzimmer im arabisch-muslimischen Dorf Abu Gosh, 10 Kilometer westlich von Jerusalem. Nadwa Jaber ist Lehrerin an der jüdisch-arabischen Schule des bi-nationalen Dorfes Neve Shalom. Nach dem Überfall wollte sie nie wieder nach Jerusalem fahren, obwohl eine Tochter dort die jüdisch-arabische Schule Yad Beyad besucht. Eine Woche nach dem Überfall brachte Gadi Gvaryahu rund 100 überwiegend jüdische Aktivisten ins arabische Dorf zu einer Solidaritätsveranstaltung mit Nadwa Jaber.
"In der Zeit nach dem Vorfall dachte ich, dass ich in der Neve Shalom-Blase lebe, wo ich unterrichte, und dass der Frieden nur eine Fantasie ist. Aber als ich die Aktivisten von 'Tag Meir' hier erlebte, habe ich meine Meinung geändert. Nun sagte ich: Es gibt noch Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Dieses Licht, das ich von ihnen bekam, hat mich stabilisiert und mir Kraft gegeben, meinen Weg des Dialogs fortzusetzen."
Die Hilfe für Nadwa, ihre Freundin und die Töchter beschränkte sich nicht auf eine Kundgebung, betont Gadi Gvaryahu:
"Wir haben ihnen einen Rechtsanwalt zur Verfügung gestellt, der ihnen im Umgang mit den Behörden helfen soll. Sie gelten nach dem israelischen Gesetz als Terroropfer und haben entsprechende Rechte: eine begleitende Sozialarbeiterin, psychologische Beratung, eine finanzielle Entschädigung für den Schaden an ihrem Wagen und für seelische Schäden. Denn die meisten Terroropfer sind Juden. Wenn es dann einmal Araber sind, weiß kein Beamter, wie man mit ihnen umgehen soll."

Brandanschlag auf Abtei Latroun

Wir fahren weiter zum benachbarten Kloster Latroun, auf das im September 2012 ein Brandanschlag verübt wurde. 15 Mönche leben in der Abtei Latroun. Pater Louis Wahba, der aus dem Libanon stammt, amtiert hier seit über 50 Jahren. Der aufrechte Herr mit kurzen weißen Haaren und gestutztem Bärtchen trägt ein weißes Habit mit einem braunen Gurt und einen schwarzen Überwurf, der über beide Schultern hängt und fast bis auf den Boden reicht. Wenn er in Jerusalem mit dieser Kleidung unterwegs sei, bespucken ihn manche orthodoxe Juden, klagt er im Gespräch mit dem religiösen Juden Gvaryahu im kargen Empfangssaal des Klosters. Dann erzählt er vom Brandanschlag.
"Es geschah um drei Uhr morgens. Ein Besucher schlief in diesem Gästehaus und wurde durch Geräusche geweckt. Vor lauter Rauch konnten wir nichts sehen. Schließlich kam ein Priester mit einem Feuerlöscher und konnte es löschen. An der Außenwand fanden wir beleidigende Sprüche, wie 'Jesus ist ein Affe'. Wie kann man so etwas anstellen?"
Pater Louis öffnet die Holztür zum Säulengang mit Blick auf den sonnigen Garten.
"An dieser Stelle sehen wir, dass die Täter das Kloster niederbrennen wollten, denn wir fanden wir einen brennenden Autoreifen. Diese Wände waren schwarz vor Asche. Wie konnten sie mit dem Zündstoff bis hierher gelangen?"
Gadi Gvaryahu und Pater Louis Wahba stehen vor einer Tür im Kloster Latroun 
Gadi Gvaryahu und Pater Louis Wahba© Igal Avidan
Auf der Rückfahrt nach Jerusalem zieht Gadi Gvaryahu in einem koscheren Tankstellen-Imbiss Bilanz:
"Durch unseren Einsatz für arabische Opfer wurden diese zu Freunden. Es ist sehr rührend: wenn wir Solidarität mit jüdischen Familien zeigen - denn wir unterscheiden nicht zwischen den Opfern – dann schließen sich manche arabische Freunde an, zum Beispiel nach der Ermordung von sechs jüdischen Religionsstudenten. Man neigt dazu, die Situation so darzustellen, als ob sich das Licht bei uns befindet und die Dunkelheit bei den Arabern. Ich sage: Das Licht und die Dunkelheit sind vermischt und wir müssen gemeinsam das Böse verurteilen und das Gute betonen."
Mehr zum Thema