"In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit in Freiheit"

Von Rolf Wiggershaus · 03.10.2010
Die Freiheitsglocke des Schöneberger Rathaus läutete den 3. Oktober 1990 ein, als die DDR der Bundesrepublik beitrat. Ein Jahr voller überraschender Wendungen und rascher Umbrüche fand seinen feierlichen Höhepunkt.
"In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit in Freiheit Deutschlands vollenden. Für unsere Aufgaben sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst. Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen."

Um Mitternacht ertönte vom Schöneberger Rathaus her die Freiheitsglocke, die einst US-amerikanische Bürger für die Menschen im freien Teil Berlins stifteten. In ihren Klang hinein sprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor Hunderttausenden, die sich in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 auf dem Platz der Republik versammelt hatten. Seine Sätze waren fast wörtlich der neuen Präambel des Grundgesetzes entnommen. Sie sollten Befürchtungen zerstreuen, ein vereintes Deutschland könne sich Bündnisverpflichtungen entziehen und durch Alleingänge destabilisierend wirken.

In diesem Sinne entwarf er dann in seiner Ansprache beim Staatsakt in der Berliner Philharmonie die Perspektiven für Deutschland in einer Zeit gravierender Umbrüche.

"Unsere Einheit wurde niemandem aufgezwungen, sondern friedlich vereinbart. Sie ist Teil eines gesamteuropäischen geschichtlichen Prozesses, der die Freiheit der Völker und eine neue Friedensordnung unseres Kontinents zum Ziel hat."

Für Westdeutsche war es der zweite Nationalfeiertag in jenem Jahr. Einige Monate zuvor war in der Bundesrepublik noch des 17. Juni 1953 gedacht worden, an dem der Volksaufstand in der DDR durch sowjetische Truppen niedergeschlagen worden war. Dieser Tag sollte fortan abgelöst werden durch den Tag des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes.

Die Entscheidung dafür fiel letztlich durch die erste frei gewählte Volkskammer der DDR. Der 3. Oktober 1990 war der frühestmögliche Termin für einen Beitritt mit internationaler Zustimmung. Sie war nötig, weil der Zweite Weltkrieg nicht durch einen Friedensvertrag beendet worden war. Der frühestmögliche Termin aber sollte es vor allem deshalb sein, weil für die DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière die Situation wirtschaftlich und politisch unbeherrschbar zu werden drohte.

Der staatlichen Vereinigung gingen der Abschied der DDR-Regierung und das Ende der DDR voraus. Bei einem Festakt am Abend des 2. Oktober im Berliner Schauspielhaus hielt Lothar de Maizière eine Rede, in der er widersprüchlichen Gefühlen Ausdruck verlieh:

"Mauer, Stacheldraht und die sogenannte Staatssicherheit waren die schockierenden Ausdrucksformen von Machtmissbrauch und Gewalt. Sie haben den Sozialismus - wie Vaclav Havel gesagt hat - zum Knüppel verkommen lassen. Sie haben die Hoffnungen auch derer zerstört, die geglaubt haben, der Sozialismus könnte der Weg zu einer besseren Welt sein."

Doch es gab auch Grund zum Stolz auf eine friedliche Revolution:

"Wir danken dies vor allem denjenigen, die unter größten Gefahren unbeirrt ihren Weg gingen: Den Montagsdemonstranten in Leipzig und den vielen, die anderswo immer wieder auf die Straße gingen."

Die staatliche Einheit war für die meisten unerwartet schnell zustande gekommen. Günstige Umstände, zu denen sowohl Gorbatschows ausdrücklicher Verzicht auf den Einsatz sowjetischer Truppen wie seine Angewiesenheit auf westliche Wirtschaftshilfe gehörten, wurden von Bundeskanzler Kohl geschickt genutzt. Doch die Probleme unterhalb der politisch-diplomatischen Ebene wurden zu wenig ernst genommen. Noch in seiner Rundfunk- und Fernseh-Ansprache am Vorabend des 3. Oktober hatte Kohl ein weiteres Mal angekündigt:

"Durch unsere gemeinsamen Anstrengungen, durch die Politik der Sozialen Marktwirtschaft werden schon in wenigen Jahren aus Brandenburg, aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Sachsen, aus Sachsen-Anhalt und aus Thüringen blühende Landschaften geworden sein."

Nach dem staatlichen Zusammenschluss konnte niemand mehr die Augen davor verschließen, wie sehr sich die beiden Teile Deutschlands in den Jahrzehnten der Trennung auseinanderentwickelt hatten und wie desolat die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR war. Dennoch wurde an der Vorstellung einer raschen Vollendung der Einheit durch die "Politik der Sozialen Marktwirtschaft" festgehalten. Zu wirklich "gemeinsamen Anstrengungen" kam es kaum. Daraus ergaben sich unter anderem Probleme bei der gegenseitigen Anerkennung von Ost- und Westdeutschen. Umso wichtiger ist ein Tag, der an die Verbindung von deutscher Einheit und dem gemeinsamen Streben nach einer gesamteuropäischen Friedensordnung erinnert.