"In der Kulturrevolution war jede Familie betroffen"

Zhao Jie im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 11.04.2013
Leise Zweifel habe sie als Kind und Jugendliche schon gehabt, ob ihre als Verräter bezeichneten Nachbarn, Lehrer und Verwandten wirklich schuldig gewesen seien, sagt die chinesische Schriftstellerin und Übersetzerin Zhao Jie. Aber die Ideologie sei zu stark in ihr verwurzelt gewesen. Widerstand gegen das kommunistische System habe sich erst nach dem Abitur geregt.
Stephan Karkowsky: Auch unter linken 68er-Studenten in Westdeutschland war das rote Buch mit Worten von Mao Tse-tung ein Renner. Die sogenannte Mao-Bibel, die mindestens 44 Millionen Toten in direkter Folge seiner kommunistischen Gewaltherrschaft, die wurden dabei gern ausgeblendet. Verblendet war womöglich auch Zhao Jie. Die Chinesin wurde als kleines Mädchen glühende Verehrerin des großen Führers und als Rotarmistin Verteidigerin der sogenannten Kulturrevolution Maos. Heute ist sie 55 und legt eine berührende Autobiografie vor. Frau Zhao, guten Morgen!

Jie Zhao: Guten Morgen!

Karkowsky: 1984 bereits sind Sie als Studentin nach Deutschland gekommen und haben dennoch noch einmal 30 Jahre gebraucht, um Ihre Kindheitserlebnisse aufzuschreiben. Gab es dabei so etwas wie eine Initialzündung?

Zhao: Der erste Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ist die Liebe zur Literatur. Ich wollte schon immer schreiben. Und der zweite Grund ist der Drang, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber warum ich so lange gebraucht habe, erkläre ich mir damit, dass das Schreiben auch ein Reifungsprozess war. Reifung meiner Persönlichkeit, Reifung meiner Sprache. Und – das erkenne ich erst heute – das ist auch ein Prozess, das ist immer noch die Fortsetzung des Prozesses der Erwachung. Der Erwachung aus unserem alten Glauben, unserer Überzeugung. Und das ist ein Prozess der Aufarbeitung. Deshalb habe ich so lange gebraucht.

Karkowsky: Ihr Buch beginnt mit einem einschneidenden Erlebnis, wie Sie am 4. Juni 1989 in Berlin am Fernseher die Ereignisse in Peking verfolgt haben, der nach dem Platz des himmlischen Friedens benannte Volksaufstand, bei dem in Peking bis zu 2600 Menschen getötet wurden. Das hat Sie verändert.

Zhao: Ja, dieses Ereignis, also dieses Massaker auf dem Tian’anmen-Platz, war ein großer Wendepunkt im Prozess der Erwachung. Das war ein Schlag ins Herz des chinesischen Volkes. Und das ist auch ein einschneidender Punkt, ein Wendepunkt in meinem Denken.

Karkowsky: Darüber werden wir auch noch viel reden. Zunächst aber zum Anfang Ihrer Geschichte, denn der größte Teil Ihres Buches beschreibt Ihre Kindheit in China: Als Mao die sogenannte Kulturrevolution ausrief, 1966, da waren Sie ein neun Jahre junges Mädchen. In Deutschland hätten Sie vermutlich mit Puppen gespielt und vielleicht für Schlagerstars geschwärmt wie Roy Black oder Drafi Deutscher, aber Ihre Kindheit in China war eine andere. Was haben Sie da mit neun Jahren gemacht?

Zhao: Wir wurden einer systematischen Gehirnwäsche von Anfang an unterzogen. Das ist eine Beschreibung von heute, damals war uns das natürlich nicht bewusst. Meine Tochter kann mit drei Jahren die Geschichte von "Pippi Langstrumpf" nacherzählen und ich konnte mit fünf oder sechs Jahren den Bühnentext von revolutionären Theaterstücken auswendig. Weil, ich habe in dem Buch geschrieben, meine Eltern waren Schauspieler, aber im Dienst der Armee. Also, die waren Schauspieler eines Theaterensembles der Luftwaffe. Und ich saß samstagabends immer neben der Bühne und habe das ganze Repertoire immer mit angeschaut. Und ich konnte den Text auswendig. So fing das schon an. Und ich kann sogar zugespitzt sagen, diese Gehirnwäsche begann sogar schon im Mutterleib. Meine Mutter musste in der Kulturrevolution als Parolenvorruferin dienen.

Das heißt, als ich mit meiner Tochter schwanger war, hörte ich Mozart. Aber meine Mutter, als sie mit meiner Schwester schwanger war, rief sie revolutionäre Parolen und "Nieder mit irgendwem", "Es lebe der Vorsitzende Mao"! Aus dem Radio ertönten nur revolutionäre Lieder, rote Lieder. Und so begann die Gehirnwäsche. Uns wurde dann immer gesagt, auf den Vorsitzenden Mao hören und ein gutes Kind des Vorsitzenden Mao werden! So wurde uns schon im Kindergartenalter eingeimpft, und so setzte sich diese Gehirnwäsche natürlich fort in der Schule, auch im privaten Leben. Man hörte nur eine Stimme und es gab nur Bücher von dem Vorsitzenden Mao, von Marx, Engels, es gab keine anderen Bücher und keine Literatur, keine Spielzeuge, kein Theater, keinen Film außer Mao, dieses Idol Mao. Und Mao Tse-tung-Ideen oder die Ideologie des Kommunismus, die drangen in das innerste Innere eines Menschen.

Karkowsky: Es war also ein totalitäres System. Sie erlebten dann auch früh, was mit Abweichlern passierte, mit Menschen, die nicht linientreu waren, zum Beispiel Ihre Schuldirektorin. Was haben Sie da erlebt, das haben Sie auch im Buch aufgeschrieben?

Zhao: Ja. In der Kulturrevolution wurden nicht nur Klassenfeinde bekämpft, sondern auch hohe Parteifunktionäre und Intellektuelle. Das heißt, jeder war für jeden der Feind in der Kulturrevolution.

Karkowsky: Und Ihre Schuldirektorin wurde eines Tages dann auch in der Klasse, unter Anwesenheit der Schüler, festgenommen, gefesselt?

Zhao: Ja. Sie wurde eingesperrt in einem Kohleschuppen und die Kinder, die haben sie dann mit Steinen beworfen und bespuckt. Also, wir Kinder sollten sie kritisieren. Da wir noch zu klein waren, hatten die Lehrer uns aufgefordert, unsere Eltern zu bitten, eine Kritikrede für uns zu schreiben. Mein Vater, der ein Dramatiker war und sehr gut schreiben konnte, hatte eine hervorragende Kritikrede für mich geschrieben, deswegen wurde ich von meiner Klassenlehrerin ausgewählt, als Vertreterin auf der Kundgebung der Schule diese Rede zu halten.

Karkowsky: Mit neun Jahren.

Zhao: Ja. Und dadurch wurde ich in der ganzen Schule auf einmal bekannt und ich wurde dann eine Musterschülerin, Muster-Rotgardistin, also gegen meine Natur!

Karkowsky: Sie hören die chinesische Schriftstellerin, Übersetzerin Zhao Jie, die über ihre Kindheit unter Mao ein Buch vorgelegt hat, "Kleiner Phönix" hat sie es genannt. Frau Zhao, Kinder wurden also ganz früh instrumentalisiert durch das Regime, vom Kindergarten an bereits. Sie erlebten aber auch nicht nur die schönen Seiten der Mao-Diktatur, dass Sie also auf einmal Macht haben konnten über Erwachsene, dass Sie Uniformen tragen durften, das Gemeinschaftsgefühl, diese klaren Vorgaben von Richtig oder Falsch, sondern ganz klar auch die Gewalt. Das ist etwas, was Ihnen nicht verborgen blieb, die Eltern einer guten Freundin gerieten ins Visier des Regimes, selbst Ihre eigene Familie blieb nicht verschont von der Gewalt des Regimes. Brachte Sie das niemals ins Wanken, womöglich doch auf der falschen Seite zu stehen?

Zhao: In der Kulturrevolution wurde jede Familie betroffen. Ich hatte mich schon gefragt, sind diese Menschen, also die ich kenne, unsere Nachbarn, unsere Lehrer, unsere Rektorin, die ich so nett fand, habe ich mich schon leise gefragt, wie kann das sein? Aber öffentlich stellte keiner die Frage, weil, das war so: Nur die Worte der Partei und die Worte des Vorsitzenden Mao seien die Wahrheit für uns! Aber im Großen und Ganzen muss ich sagen, wir waren alle fest überzeugt, dass die einfach Feinde sind. Wir waren noch Kinder, aber auch die Erwachsenen, die meisten Chinesen glaubten fest daran, dass es wahr ist. Es gab nur einige wenige Menschen, die ihre eigenen Zweifel geäußert haben. Die wurden dann umgebracht, hingerichtet.

Karkowsky: Sie waren dann freiwillig, auf einem freiwilligen Einsatz als Erntehelferin bei armen Bauern auf dem Land. Da setzte ein Umdenken ein. Was genau war es, was da Ihre Zweifel nährte, was Ihr Umdenken beschleunigte?

Zhao: Mein Jahrgang war Abiturjahrgang '75. Alle Abiturienten und Intellektuellen mussten in der Kulturrevolution aufs Land gehen, um sich von den Bauern umerziehen zu lassen, das wissen Sie. Und mein Jahrgang sollte eigentlich nur ins Umland von Peking gehen. Aber es gab unter den 33.000 Abiturienten Jahrgang '75 100 Idealisten, die sich freiwillig zum Arbeitseinsatz in einer der ärmsten Gegenden Chinas meldeten. Und ich war eine von ihnen. Und Yan’an war das Ziel des legendären Langen Marsches der Roten Armee und der Stützpunkt des Kommunismus, und wir wollten unbedingt dorthin und beim Aufbau anpacken.

Und wir haben uns eigentlich vorbereitet, wir wurden informiert über die Härte der Arbeitsbedingungen, der Lebensbedingungen dort, über die Armut. Und dennoch war das ein Riesenschock für uns. Wir haben uns da angefangen zu fragen, das stimmt doch nicht mit der Theorie des Maoismus, des Marxismus! Nach 27 Jahren nach der Befreiung, also nach der Gründung der Volksrepublik China, wie kann das sein, dass hier die Bauern noch so arm sind, dass sie noch Hunger leiden? Im Kommunismus soll es doch alles in Hülle und Fülle geben, jedem zur Verfügung stehen!

Also, Mao Tse-tung hat uns Jugendliche aufs Land geschickt, aber dort kehrten die Jugendlichen dem Ideal des Maoismus den Rücken. Aber erwacht waren wir noch lange nicht. Nach dem Ende, nach der Zerschlagung der Führerbande, als wir dann die Gelegenheit hatten zu studieren, wollten wir natürlich studieren. Aber wir waren sehr verzweifelt. Da fragten wir uns, sind wir Deserteure, also verraten wir unser Ideal, wenn wir jetzt gehen? Durch die Realität haben wir angefangen, überhaupt über China, über den Sozialismus nachzudenken.

Karkowsky: Und ein Ergebnis dieses Nachdenkens liegt jetzt vor, es ist ein spannendes, ein berührendes Buch geworden. Es heißt "Kleiner Phönix. Eine Kindheit unter Mao" und geschrieben hat es die ehemalige kleine Rotarmistin, die man auf dem Titeleinband des Buches sehen kann, Zhao Jie, Ihnen herzlichen Dank, dass Sie bei uns sind! Das Buch ist erschienen bei Blessing, es hat 720 Seiten, die kosten 24,99 Euro.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ein Mao-Plakat hängt in peking am Tiananmen-Tor.
Ein Mao-Plakat hängt in peking am Tiananmen-Tor.© AP
Mao Zedong als Bild von Andy Warhol im Hamburger Bahnhof in Berlin
Mao Zedong als Bild von Andy Warhol im Hamburger Bahnhof in Berlin© AP
Mit der "Mao Bibel", dem roten Büchlein mit Schriften des chinesischen Führers Mao Tsetung, winkt die Masse während der Kulturrevolution am 7.10.1968, dem Nationalfeiertag, ihrem Führer Mao Tsetung zu.
Mit der "Mao Bibel" winkt die Masse während der Kulturrevolution am 7.10.1968, dem Nationalfeiertag, ihrem Führer Mao Tsetung zu.© picture alliance / dpa / DB AFP
Jiang Qing, Witwe des chinesischen KP-Chefs Mao Zedong, vor dem höchsten Gericht in Peking, 1981
Jiang Qing, Witwe des chinesischen KP-Chefs Mao Zedong, vor dem höchsten Gericht in Peking, 1981© AP Archiv